Kritisch erkrankte COVID-19-Patienten profitieren offenbar nicht von einer Hemmung des Renin-Angiotensin-Systems (RAS). Ganz im Gegenteil, ACE-Inhibitoren und Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) könnten bei ihnen das klinische Outcome sogar verschlechtern. Das zeigen gleich 3 randomisiert-kontrollierte klinische Studien, die jüngst in JAMA publiziert wurden [1,2,3].
In der Pandemie hatten präklinische Studien darauf hingedeutet, dass es bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu einer Fehlregulation des Renin-Angiotensin-Systems kommt, zudem nutzt SARS-CoV-2 ACE2 als zellulären Rezeptor für die Infektion. Es wurde befürchtet, dass die daraus resultierende erhöhte Aktivität von Angiotensin II in Relation zu Angiotensin (1-7) zur Pathophysiologie von COVID-19 beitragen und das Outcome der Patienten verschlechtern könnte.
„Diese Hypothese wurde noch untermauert durch Beobachtungsstudien bei COVID-19 und andere Studien, die sich mit akuten Lungenschädigungen durch SARS-CoV-1, Sepsis, Aspiration und beatmungsinduzierten Lungenschäden beschäftigt hatten“, schreiben Dr. Patrick R. Lawler vom Toronto General Hospital, Toronto, Kanada und seine Kollegen.
Rationale Überlegung, die eine Überprüfung wert war
„Es gab unterschiedliche Hinweise darauf, dass das RAS eine mögliche Rolle bei COVID-19 spielt, sodass es durchaus eine sehr rationale Überlegung war zu untersuchen, ob RAS-Antagonisten einen Effekt auf den klinischen Verlauf einer SARS-CoV-2 Infektion haben. Dies in kontrollierten Studien zu überprüfen, war der richtige Ansatz“, betont Prof. Dr. Leif Erik Sander, Direktor der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin an der Charité Berlin im Gespräch mit Medscape.
In der internationalen REMAP-CAP-Studie untersuchten die Forschenden um Lawler den Effekt der RAS-Hemmung bei 721 kritisch kranken und 58 nicht kritisch kranken hospitalisierten Patienten mit COVID-19. Die Behandlung mit ACE-Hemmern oder ARB erfolgte bis zu 10 Tage und wurde gegen eine nicht mit RAS-Hemmern behandelte Kontrolle verglichen.
Der primäre Endpunkt der Studie war die Zahl der Tage, an denen die Patienten weder kardiovaskuläre noch respiratorische Unterstützung benötigten (in einem Zeitraum von 21 Tagen). Lag die ermittelte Odds Ratio (OR) über 1, war von einer Verbesserung des Outcomes auszugehen.
Vorzeitiger Studienabbruch: Kein Nutzen, aber ein potenzieller Schaden
Die Studie musste allerdings aufgrund von Sicherheitsbedenken vorzeitig abgebrochen werden. Die Patienten in den Gruppen mit RAS-Hemmung zeigten nicht nur keinen klinischen Vorteil im Vergleich zur Kontrollgruppe, sie wiesen sogar ein schlechteres Outcome auf.
Letztlich standen für 679 kritisch kranke Patienten vollständige Daten für die Auswertung des primären Endpunkts zur Verfügung. Die Gruppe der nicht kritisch kranken Patienten war zu klein für eine sinnvolle statistische Auswertung.
Die Patienten in der Kontrollgruppe benötigten im untersuchten Zeitraum an 12 Tagen keine kardiovaskuläre oder respiratorische Unterstützung – in der ACE-Inhibitor-Gruppe waren es 10 Tage, in der ARB-Gruppe gar nur 8 Tage. Die adjustierte OR von 0,77 für ACE-Inhibitoren und 0,76 für ARBs zeigte, dass die RAS-Hemmung nicht mit einer Verbesserung des Outcomes verbunden war.
Die Autorengruppe berichtet, dass die RAS-Hemmung das Outcome der Patienten höchstwahrscheinlich sogar verschlechtert habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ACE-Inhibitoren mit einer geringeren Zahl an Tagen ohne kardiovaskuläre oder respiratorische Unterstützung assoziiert waren, lag bei 94,9%. Bei den ARBs betrug die Wahrscheinlichkeit sogar 95,4%.
Höhere Krankenhaussterblichkeit unter RAS-Hemmung
Auch hinsichtlich der Krankenhaussterblichkeit schienen die RAS-Hemmer mehr zu schaden als zu nutzen. Von den kritisch kranken Patienten in der ACE-Inhibitor-Gruppe überlebten 71,9% den Krankenhausaufenthalt, in der ARB-Gruppe waren es 70,0% und in der Kontrollgruppe 78,8%. Auch hier sei die Wahrscheinlichkeit für eine Verschlechterung in den beiden Interventionsgruppen mit über 95% sehr hoch gewesen, schreiben die Autoren.
Frühere Studien zur RAS-Hemmung bei COVID-19 hatten keinen schädlichen Effekt von RAS-Hemmern berichtet. Sie hatten aber zumeist weit weniger schwer erkrankte Patienten eingeschlossen.
In einem Editorial betont Dr. Matthew Lee vom Cardiovascular Research Centre der British Heart Foundation an der University of Glasgow, Schottland [2]: „Es ist unwahrscheinlich, dass die bei den Patienten beobachtete Verschlechterung tatsächlich auf eine Wechselwirkung zwischen der RAS-Hemmung und der SARS-CoV-2-Infektion zurückgeht. Dafür war wohl eher die schwere Erkrankung der eingeschlossenen Patienten verantwortlich.“
RAS-Hemmer bei Schwerkranken problematisch
Sander bestätigt: „Dass die Gabe von blutdruckwirksamen Medikamenten bei kritisch kranken Patienten, die eine Kreislaufunterstützung benötigen, nachteilig ist, wäre für mich eine sehr naheliegende Erklärung für das beobachtete schlechtere Outcome unter RAS-Hemmung.“
Ein in der gleichen Ausgabe von JAMA erschienene Publikation bestärkt die Ergebnisse der REMAP-CAP-Studie: Dr. Wesley H. Self vom Vanderbilt University Medical Center in Nashville, USA, und seine Kollegen testeten den Effekt von 2 experimentellen RAS-Modulatoren: ein synthetisches Angiotensin (1-7; TXA-127) und ein Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor-Biased-Ligand (TRV-027). Sie sollen die Aktivität von Angiotensin (1-7) verstärken und die Aktivität von Angiotensin II abschwächen [3]. Erprobt wurden sie bei hospitalisierten COVID-19-Patienten, die gerade eine Hypoxämie entwickelt hatten. Die randomisierte, placebokontrollierte Studie fand an 35 Krankenhäusern in den USA statt.
Ein Test mit experimentellen RAS-Modulatoren
In der TXA-127-Studie erhielten die Patienten über 5 Tage einmal täglich eine Infusion mit dem synthetischen Angiotensin (1-7) oder einem Placebo. In der TRV-027-Studie war es eine kontinuierliche Infusion des Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor-Biased-Liganden oder eines Placebos ebenfalls über 5 Tage. Der primäre Endpunkt war die Zahl der Tage ohne Sauerstoffbedarf (in einem Zeitraum von 28 Tagen). Auch in diesen Studien war festgelegt, dass eine OR über 1 für eine Überlegenheit des RAS-Hemmers steht.
Allerdings wurden auch diese beiden Studien nicht zu Ende geführt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die RAS-Modulation als wirksam erweisen würde, wurde nach einer Interimsanalyse als zu gering eingestuft.
Weder TXA-127 (9,0 vs. 11,3 Tage unter Placebo; OR 0,88) noch TRV-027 (8,1 vs. 10,5 Tage unter Placebo; OR 0,94) änderten signifikant etwas an der Zahl der Tage ohne Sauerstoffbedarf. Auch die 28-Tage-Mortalität unterschied sich in beiden Studien nicht signifikant zwischen den RAS-Modulatoren und Placebo. Sie lag unter TXA-127 bei 13,5% verglichen mit 13,3% unter Placebo (OR 0,83). Und unter TRV-027 betrug die Krankenhaussterblichkeit 20,6% versus 12,9% unter Placebo (OR 1,52).
RAS-Hemmer haben keinen Platz in der COVID-19-Therapie
„Unsere Ergebnisse sprechen nicht dafür, dass pharmakologische Interventionen, die selektiv den Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor blockieren oder Angiotensin (1-7) erhöhen, das Outcome von Patienten mit schwerem COVID-19 verbessern“, schlussfolgern die Autoren um Self.
Und Lee schreibt: „Keine der Studien untermauert die Hypothese, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu einer schädlichen, ungehinderten Angiotensin-II-Aktivität führt, die durch eine RAS-Hemmung abgemildert werden könnte.“ Sein Fazit: „ACE-Inhibitoren und ARBs sollten nicht zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 eingesetzt werden, speziell nicht bei kritisch erkrankten Patienten.“
Therapie muss sich an verändertes Patientenkollektiv anpassen
Für Sander sind die Studienergebnisse keine Überraschung: „Dass die RAS-Hemmer in der Behandlung von COVID-19 keine Gamechanger sind, wurde zuvor bereits vermutet und wir haben diese Medikamente auch nie zur Behandlung von COVID-19 eingesetzt“, sagt er. „Diese 3 Studien bestätigen nun, dass ACE-Inhibitoren und ARBs in der COVID-19-Therapie keine Rolle spielen.“
Laut dem Berliner Infektiologen haben sich in der Frühphase der COVID-19-Erkrankung antivirale Therapien durchgesetzt: „Das ist jetzt der Therapiestandard und hat auch eine gute Datengrundlage.“ In der späteren Phase werden dann Immunmodulatoren eingesetzt. Allerdings könnte hier ein Umdenken erforderlich sein, da sich seit dem Ende der Pandemie das Patientenkollektiv geändert habe, so Sander. „Diejenigen, die jetzt noch schwer krank werden, sind Patienten mit Immunsuppression, schweren Grunderkrankungen oder Komplikationen wie Superinfektionen. Hier müsste meiner Meinung nach noch einmal evaluiert werden, ob immunmodulatorische Therapien auch bei ihnen der beste Weg sind.“
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Credits:
Photographer: © Md. Zakir Mahmud
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Diesen Artikel so zitieren: Große Enttäuschung: 3 Studien zeigen keinen Nutzen für ACE-Hemmer oder ARB bei COVID-Therapie – aber möglichen Schaden - Medscape - 12. Mai 2023.
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