Die Pandemie hat enorm am Nervenkostüm der Ärztinnen und Ärzte gezerrt. Das hat jetzt eine Studie des Kardiologen Prof. Dr. Andreas Goette vom St. Vincenz-Krankenhaus in Paderborn und des Psychosomatikers Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig von der Technischen Universität München zutage gefördert: 48% der befragten Klinikärztinnen und -ärzte und 27% der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hatten Mühe, die Würde ihrer an COVID-19 erkrankten Patienten zu wahren. Fast ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte litten infolge der Arbeit während der Pandemie an Depressionen oder Ängsten. Was kann man tun, wenn emotionale Störungen die Ärztinnen und Ärzte belasten? Medscape sprach mit Prof. Ladwig.

Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig
Medscape: Herr Prof. Ladwig, was hat Sie am meisten überrascht an Ihren Studienergebnissen?
Ladwig: Ich habe nicht so viele Antworten in Richtung affektiver Störungsbilder erwartet. Es ist erschreckend beeindruckend, wie viele Kolleginnen und Kollegen unter der schwierigen Versorgungslage ihrer COVID-Patienten seelisch gelitten haben.
Am stärksten hat mich beeindruckt, dass sich offenbar so viele Ärztinnen und Ärzte hilflos und damit deutlich eingeschränkt fühlten in ihrem Handlungsspielraum. Sie glaubten, mit den Behandlungsschritten nicht mehr erfolgreich sein zu können. Dabei hätte man bei ihnen das Gegenteil erwarten können: dass sie immer noch ein As im Ärmel haben. Ich fand es mutig von den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten, darüber zu berichten, dass dem oft nicht so war.
Gerade junge Ärztinnen und Ärzte wurden während der Pandemie mit dem Druck nicht fertig
Medscape: Ist es nicht ganz normal, dass auch Ärztinnen und Ärzte mal hilflos sind? Leiden sie nicht eher daran, dass sie glauben, alles wissen und können müssen?
Ladwig: So ist meine Wahrnehmung des Ärzteberufes eigentlich nicht. Wenn ein Arzt zum Beispiel einen neuen Diabetesfall hat, dann weiß er von A bis Z, was er zu tun hat. Das war bei COVID-19 anders. Tendenziell fällt es den älteren Kolleginnen und Kollegen leichter zuzugeben, dass sie auch etwas nicht wissen, als den jüngeren Ärzten. Unsere Befragung hat ergeben, dass geringe Berufserfahrung dazu beigetragen hat, sich hilflos zu fühlen.
Und das schlug übrigens auch auf die körperliche Ebene durch: Die Hälfte der betroffenen Ärztinnen und Ärzte hatte Schlafprobleme. Dass seelische Leiden auf den Körper wirken, ist keine Frage der Evidenz, sondern eine Frage der Aufmerksamkeit. Viele Ärztinnen und Ärzte glauben ja, dass sie vor Krankheiten gewappnet sind. Dem ist natürlich nicht so.
Medscape: Inwieweit sorgen Ärztinnen und Ärzte in seelischen, beruflichen Krisen für sich?
Ladwig: Es gibt zu diesem Thema immer wieder Befragungen unter den Ärzten. Der darin häufig vorgetragene Standpunkt lautet: Der Heiler heilt sich selber. Ärzte, die sich seelisch angeknackst fühlen, glauben, die Sache mit sich selbst ausmachen zu müssen.
Dass dies keine Lösung ist, zeigen die Zahlen: Viele Ärztinnen und Ärzte haben unter der Corona-Pandemie ihren Beruf an den Nagel gehängt, genauer gesagt: 16%. Bei den Niedergelassenen waren es 7,4%, und bei den Krankenhausärztinnen und -ärzten waren es 24% bereits nach etwa einem Jahr Pandemie. Viele jüngere sind mit dem von COVID-19 erzeugten Druck nicht fertig geworden.
Medscape: Sind Erfahrung von Hilflosigkeit oder depressiven Verstimmungen nicht ein ganz normales Lebensrisiko?
Ladwig: Nein, das würde ich so allgemein nicht sagen. Ärztinnen und Ärzte sind eigentlich von Haus aus emotional stabil, sonst könnten sie ihre Aufgaben gar nicht so erfüllen, wie sie es tun. Aber Sie haben Recht: COVID-19 hat auch hier gezeigt, dass man auch in diesem Beruf in seelische Krisen geraten kann, wenn man so unvorbereitet nicht nur in seinem professionellen Handeln, sondern auch in seinen ethischen und moralischen Grundlagen in Grenzerfahrungen hineingerät.
Zauberwort Kommunikation
Medscape: Was brauchen Ärztinnen und Ärzte, um nicht unter die Räder zu kommen?
Ladwig: Das Zauberwort heißt Kommunikation. So lassen sich im Krankenhaus neue Strukturen schaffen, zum Beispiel durch mehr Zeit bei der Übergabe. Wenn da eine halbe Stunde mehr Zeit wäre, könnten die Beteiligten auch etwas mehr Austausch als nur über die Befunddaten haben: „Wie komme ich mit den Patienten zurecht? Wovon bin ich betroffen? Welche Schwierigkeiten erlebe ich?“ Die Möglichkeit, solche Fragen zu stellen, würde helfen – eine interne Balint-Gruppe sozusagen.
Medscape: … bei dem Zeitmangel im Krankenhaus?
Ladwig: Wenn 24% der Ärzte aus ihrem Beruf in dieser Krisensituation aussteigen, dann ist es höchste Zeit für einen Paradigmenwandel. Was klingt wie eine Luxusveranstaltung, ist in Wirklichkeit eine reale Perspektive, um die Organisation Krankenhaus aufrecht zu erhalten. Und das Binnenklima wird messbar besser. Das ist ein Wert an sich! Die Qualität der Versorgung und der Therapie steigt, das belegen Studien.
Medscape: Inzwischen tritt eine neue Ärztinnen- und Ärztegeneration an. Die meisten der neuen sind Frauen. Liegen darin neue Chancen für eine seelisch gesunde Ärzte-Arbeit?
Ladwig: Eindeutig: ja! Bereits auf dem European Heart Congress 2018 in München (also lange vor der Pandemie) gab es beispielsweise einen großen Workshop zum Thema Burnout in der Kardiologie. Die Veranstaltung war überlaufen! Das heißt auch: Das Thema ist kein Tabu mehr.
Medscape: Ist der Tipp vieler Ärzte, die Schicksale ihrer Patienten und all das Leiden durch die Pandemie einfach nicht mehr so sehr an sich herankommen zu lassen, ein guter Tipp?
Ladwig: Für Notfallmediziner ist das ganz sicher eine gute Strategie. Er geht fokussiert an die häufig lebensbedrohliche Situation heran, in der sich ihre Patienten befinden, um schnell und richtig handeln zu können. Natürlich ist das kein Allheilmittel, es schützt nicht vor Einbrüchen und sehr emotionalen Reaktionen. Aber es hilft, die Situationen nicht zu personalisieren.
In allen anderen Behandlungssituationen ist das natürlich anders.
Medscape: Und was gilt in diesem Zusammenhang für Hausärztinnen und Hausärzte?
Ladwig: Viele niedergelassenen Kollegen sind Einzelkämpfer – daher ist es hier sicherlich noch schwieriger als im Krankenhaus, tragfähige Kommunikationsstrukturen zu schaffen. Psychotherapeuten mit ihren engmaschigen Interventionsgruppen-Treffen sind hier sichtlich ein Vorbild. „Aussprache ermöglichen“ hilft nicht nur unseren belasteten Patienten, sondern uns allen im Praxisalltag, Abstand und Distanz zu gewinnen und ein befriedigendes tragfähiges Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Vielleicht wirken ja die psychischen Wunden, die Corona in der Ärzteschaft hinterlassen haben, als ein Weckruf, hier nach neuen Wegen zu suchen!
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Diesen Artikel so zitieren: Viele Ärzten leiden nach der Pandemie unter Ängsten und Depressionen – was tun? Interview mit dem Psychosomatiker Prof. Ladwig - Medscape - 10. Mai 2023.
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