Keine Nacht- und Wochenenddienste, keine vollen Wartezimmer – die Vorstellung, gutachterlich tätig zu werden, kann verlockend sein. Doch wie sieht der Alltag wirklich aus: Was sind die Vor- und Nachteile? Coliquio hat 2 Gutachterinnen des Medizinischen Dienstes dazu befragt.
Dr. Margit Hahne ist Fachärztin für Innere Medizin und seit 2011 beim Medizinischen Dienst als ärztliche Gutachterin tätig, seit 2019 als Team-Leiterin im Team Krankenhaus/Ambulante Vergütung. Dr. Patricia Jacob ist Fachärztin für Anästhesiologie und seit Oktober 2022 als ärztliche Gutachterin im Team Allgemeine Sozialmedizin beim Medizinischen Dienst tätig.

Dr. Margit Hahne
Coliquio: Zum Einstieg würde mich interessieren, wie Sie darauf kamen, als Gutachterin tätig zu werden: Was waren die ausschlaggebenden Gründe, und welche beruflichen Stationen hatten Sie vorab? Wie war das bei Ihnen, Frau Dr. Jacob?
Jacob: Bei mir war es so, dass ich vor 30 Jahren mit dem Studium fertig war und dann die Facharztausbildung zur Fachärztin für Anästhesiologie und die Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie angeschlossen habe. Ich habe insgesamt 30 Jahre in dem Fach gearbeitet, davon 15 Jahre in großen Kliniken der Maximalversorgung und die letzten 15 Jahre im niedergelassenen Bereich. Ich hatte eine eigene anästhesiologische Gemeinschaftspraxis mit einem Kollegen zusammen.

Dr. Patricia Jacob
Coliquio: Da bringen Sie ja viel Praxiserfahrung mit.
Jacob: Ja, ich habe viel erlebt und reichlich medizinische Erfahrung gesammelt. Und im Laufe der letzten Jahre reifte in mir das Bedürfnis, diese Erfahrung beraterisch oder gutachterlich einzubringen. Aber ich hatte noch keine konkrete Vorstellung, wie ich das bewerkstelligen könnte und stieß dann zufälligerweise auf eine Zeitungs-Annonce des Medizinischen Dienstes. In der Stellenbeschreibung und den Anforderungen fand ich mich gleich wieder – daraufhin habe ich mich beworben.
Coliquio: Und wie war das bei Ihnen, Frau Dr. Hahne? Wie kamen Sie zum Medizinischen Dienst?
Hahne: Ich bin Fachärztin für Innere Medizin, habe meine Facharztausbildung in diversen Kliniken absolviert und berufsbegleitend ein Managementstudium abgeschlossen. Ich hatte schon immer die Idee, vielleicht nicht für immer in der Patientenversorgung zu arbeiten, und war zwischendurch auch ein Jahr wissenschaftliche Assistentin. Nach dem Facharzt bin ich in die Familienphase eingetreten und habe 2 Kinder bekommen. Ich wollte, als die Kinder noch klein waren, wieder anfangen zu arbeiten. Aber eben nicht mehr so, wie es in der Klinik der Fall ist, mit Diensten und unflexiblen Arbeitszeiten – das hätte nicht funktioniert.
Coliquio: Sie haben also bewusst nach einem Berufsfeld mit mehr Flexibilität gesucht?
Hahne: Genau. Auf die Gutachtertätigkeit kam ich dann durch Zufall. Mein Chef in der Klinik, in der ich tätig war, hatte den Medizinischen Dienst einmal eingeladen. In einem Vortrag haben 2 Kollegen des Medizinischen Dienstes vorgestellt, was ihre Aufgaben sind und woher ihre Motivation kommt. Das hat mir richtig gut gefallen.
Coliquio: Was hat Sie daran beeindruckt?
Hahne: Ich weiß noch, dass mir damals klar wurde: Als Gutachterin bin ich nicht plötzlich raus aus der Medizin, sondern ich befinde mich nur an einer anderen Stelle im System – und bringe dort mein medizinisches Wissen ein. Außerdem fand ich interessant, dass es Möglichkeiten zur Weiterentwicklung gibt. Ich habe vor 12 Jahren beim Medizinischen Dienst angefangen und konnte nach einiger Zeit an einem Führungskräfteentwicklungsprogramm teilnehmen und bin heute Teamleiterin.
Coliquio: Und wie sehen die Zugangsvoraussetzungen aus: Wie werde ich Gutachter oder Gutachterin?
Hahne: Voraussetzung ist eine abgeschlossene Facharztweiterbildung und eine mehrjährige Tätigkeit in Klinik und Praxis – aber letzteres haben Fachärztinnen und Fachärzte ja zwangsläufig. Die Zusatzweiterbildung Sozialmedizin absolvieren wir beim Medizinischen Dienst im Laufe der ersten Jahre. Sie besteht aus dem Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten über die tägliche Arbeit, ergänzt durch mehrere, begleitende sozialmedizinische Kurse, und einer abschließenden Prüfung. Die Kurse, die während der Arbeitszeit stattfinden, werden vom Medizinischen Dienst organisiert und finanziert.
Coliquio: Das ist sicherlich praktisch, dass die Qualifikation berufsbegleitend erlangt werden kann. Können Sie noch etwas zum Aufgabenspektrum beim Medizinischen Dienstes sagen?
Hahne: Wir sind der organisatorisch selbstständige und fachlich unabhängige Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Die Krankenversicherungen nutzen unseren medizinischen Sachverstand und beauftragen uns mit verschiedenen medizinischen Fragestellungen.
Dabei gibt es 2 Bereiche: Der eine ist der Bereich „Krankenhaus und ambulante Vergütung“, in dem ich tätig bin. Wir beschäftigen uns im Wesentlichen mit Abrechnungsprüfungen der Krankenhäuser. Doch auch Qualitätsprüfungen werden ein zunehmend größeres Feld.
Der 2. große Bereich ist die „Allgemeine Sozialmedizin“, in dem Frau Dr. Jacob tätig ist. In diesen Bereich fallen Fragestellungen zu Themen wie Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitation, Hilfsmittel und Arzneimittel.
Coliquio: Das klingt vielseitig.
Hahne: Ja, das ist es. Wir haben auch Gutachterinnen und Gutachter, die sich spezialisieren und beispielsweise Arzneimittel-Fragen oder Behandlungsfehler-Gutachten bearbeiten. Es gibt viele Möglichkeiten, sich in den Bereichen einzubringen, die der eigenen Fachrichtung und Fähigkeiten entsprechen.
Coliquio: Und wie sieht Ihr Alltag aus, Frau Dr. Jacob?
Jacob: Ich lerne im Moment, Fragestellungen zu den Themen Arbeitsunfähigkeit, medizinische Rehabilitation und Vorsorge, medizinische Hilfsmittel und Arzneimittel zu bearbeiten. Es ist ein breites Feld, welches ich recht schnell abdecken muss, aber das Gute ist, dass ich immer einen Ansprechpartner habe und mit meinen Fragen nie allein bin.
Coliquio: Vermutlich ist der Wechsel von Klinik oder Praxis in die Gutachtertätigkeit schon eine enorme Umstellung, oder?
Jacob: Ja, das ist ein großer Unterschied – und das muss man auch wollen. Es ist nicht so, dass man – ich sage das jetzt bewusst provokativ – einfach zum Medizinischen Dienst wechselt, wenn man keine Lust mehr auf die Kliniktätigkeit hat. Das reicht als Motivation nicht aus.
Um hier arbeiten zu können, ist eine Affinität zu theoretischen Inhalten und zur Sprache nötig. Man sollte Lust haben zu schreiben und auch die Bereitschaft mitbringen, sich an einem Inhalt festzubeißen und ihn abzuarbeiten. Es erfordert außerdem eine selbstständige und selbstorganisierte Arbeitsweise, da der Tagesablauf nicht vorgegeben ist.
Hahne: Und man sollte sich bewusst sein, dass man letztlich viele Stunden am Schreibtisch verbringt. Zwar gibt es den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, aber man hat nur bei bestimmten Fragestellungen Patientenkontakt. Man sollte sich also je nach Einsatzgebiet vorstellen können, nicht mehr am Patienten zu arbeiten.
Coliquio: Fehlt Ihnen der Patientenkontakt noch manchmal?
Hahne: Ich hatte solche Momente immer mal wieder, dass ich dachte, jetzt wäre es mal wieder schön, in der Klinik Patientinnen und Patienten zu versorgen. Doch diese Gedanken kommen mittlerweile seltener. Zurück in die Kliniktätigkeit möchte ich schon aufgrund der Rahmenbedingungen nicht.
Um hier arbeiten zu können, ist eine Affinität zu theoretischen Inhalten und zur Sprache nötig. Man sollte Lust haben zu schreiben und auch die Bereitschaft mitbringen, sich an einem Inhalt festzubeißen und ihn abzuarbeiten. Es erfordert außerdem eine selbstständige und selbstorganisierte Arbeitsweise, da der Tagesablauf nicht vorgegeben ist.
Hahne: Und man sollte sich bewusst sein, dass man letztlich viele Stunden am Schreibtisch verbringt. Zwar gibt es den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, aber man hat nur bei bestimmten Fragestellungen Patientenkontakt. Man sollte sich also je nach Einsatzgebiet vorstellen können, nicht mehr am Patienten zu arbeiten.
Coliquio: Fehlt Ihnen der Patientenkontakt noch manchmal?
Hahne: Ich hatte solche Momente immer mal wieder, dass ich dachte, jetzt wäre es mal wieder schön, in der Klinik Patientinnen und Patienten zu versorgen. Doch diese Gedanken kommen mittlerweile seltener. Zurück in die Kliniktätigkeit möchte ich schon aufgrund der Rahmenbedingungen nicht.
Jacob: Von Vorteil ist ein breiter klinischer Background, sodass ich mir aus den Angaben, die vorliegen, ein Bild vom Versicherten und von der Situation machen kann. Außerdem hilft ein analytischer Ansatz dabei, die eigene Einschätzung auf den Punkt zu bringen.
Hahne: Ich empfehle: Wenn jemand nicht genau weiß, ob die Tätigkeit zu ihm passt, sollte er hospitieren. Bei uns kann jeder jederzeit hospitieren – das lässt sich immer organisieren. Interessierte können einfach beim Medizinischen Dienst anfragen. Ein paar Stunden reichen eigentlich schon aus, um beurteilen zu können, ob einem die Tätigkeit liegt.
Jacob: Das war bei mir auch so. Ich glaube, ich war nur 3 Stunden hier in Ulm und habe 2 Stunden bei einer Gutachterin verbracht. Das war schon ein ganz intensiver Eindruck, den ich hatte. Danach konnte ich mir konkret vorstellen, wie meine Tätigkeit aussehen würde.
Coliquio: Das ist sicherlich ein guter Tipp. Frau Dr. Hahne, Frau Dr. Jacob, vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
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Medscape © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Arbeiten als Gutachter – eine lohnende Alternative zu Klinik und Praxis? Ein Interview mit Infos zum Einstieg und Joballtag - Medscape - 10. Mai 2023.
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