Führt COVID-19 wirklich vermehrt zu Diabetes  – oder nur in der Folge von schweren Corona-Fällen?

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

5. Mai 2023

Etwa 20% aller Menschen, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben, leiden noch 6 Monate nach der Infektion unter anhaltenden körperlichen Beschwerden. Eine kanadische Kohortenstudie zeigte jetzt, dass die Rate an Diabetes-Neuerkrankungen nach einer COVID-19-Infektion um 3 bis 5% anstieg [1]. Die Studie bestätigt damit einen Trend, der auch schon in einigen Reviews und Meta-Analysen zuvor beschrieben wurde [3]

Der Anstieg der Fälle von Diabetes schien relativ gering, war jedoch signifikant (p < 0,001). Bei Patienten mit COVID-19 lag die Hazard Ratio bei 1,17, für Männer sogar bei 1,22. Für Fälle von COVID-19, die eine Hospitalisierung erforderten, lag sie bei 2,42. Mussten die Infizierten intensiv behandelt werden, sogar bei 3,41. 

„Die Analyse eines inzidenten Diabetes mellitus in einer Registerdatenbank in Abhängigkeit einer COVID-19 Erkrankung ist reine Phänomenologie“, widerspricht Prof. Dr. Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. „Überlegungen zu kausalen Zusammenhängen können deshalb nur Spekulationen sein.“ 

 
Überlegungen zu kausalen Zusammenhängen können deshalb nur Spekulationen sein. Prof. Dr. Stephan Martin
 

Über 125.000 COVID-19-Fälle analysiert

Die Gruppe um Dr. Zaeema Naveed vom British Columbia Centre for Disease Control, Vancouver, Kanada, analysierte populationsbasierte Registerdaten von 629.935 Individuen im Alter von 18 bis 80 (im Mittel 32) Jahren, die zwischen Januar 2020 und Dezember 2021 durch eine real time RT-PCR (reverse transcription polymerase chain reaction) auf COVID-19 getestet worden waren. Der Frauenanteil lag bei 51,2 %. Die Studiewurde im Open Network des Journal of American Medical Association (JAMA) publiziert [2].

125.987 Individuen waren COVID-19-positiv. Als Vergleichsgruppe wurde die 4-fache Anzahl von Personen (503.948) aus demselben Register, deren COVID-19-Test negativ ausfiel, gegenübergestellt; also jedem Individuum mit COVID-19 4 nach Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen und Sozialstatus adjustierte Personen.

Alle wurden über 102 - 356 (im Mittel 257) Tage verfolgt und neue Fälle von Diabetes, die mindestens 30 Tage nach dem Test erstmals auftraten, dokumentiert. Davon entfielen 608 Fälle auf Patienten mit und 1864 Fälle auf die 4-fach größere Gruppe ohne COVID-19. Auf 100.000 Personenjahre gerechnet, ergab sich daraus ein signifikantes Verhältnis von 672,2 (95%-Konfidenzintervall (KI): 618,7-725,6) gegenüber 508,7 Fällen (95%-KI: 485,6-531,8) in der Vergleichsgruppe. 

Die Frage der Kausalität ist umstritten

„Aufgrund fehlender Symptomatik wird der Typ 2 Diabetes häufig erst mehrere Jahre nach Manifestation diagnostiziert. Kommen Patienten aufgrund einer anderen Erkrankung in Kontakt mit dem medizinischen System, wird dann die schon länger bestehende Diabeteserkrankung erkannt“, hält Martin dagegen. „Daher hätte man in der vorliegenden Studie als Kontrollgruppe besser eine Vergleichsgruppe mit einer anderen Erkrankung, wie z.B. einem banalen Harnwegsinfekt, wählen müssen.“ 

 
Kommen Patienten aufgrund einer anderen Erkrankung in Kontakt mit dem medizinischen System, wird dann die schon länger bestehende Diabeteserkrankung erkannt. Prof. Dr. Stephan Martin
 

„Die Ergebnisse der Studie deuten auf eine Kausalität zwischen der Schwere von COVID-19- und Diabetes-Erkrankungen hin“, schreiben andererseits Dr. Pamela B. Davis, Center for Community Health Integration und Dr. Rong Xu, Center for Artificial Intelligence and Drug Discovery, Case Western Reserve University, beide Cleveland, Ohio, in ihrem parallel veröffentlichten Kommentar [2]

Als mögliche Ursachen dafür nennen sie:

  • SARS-Corona-Viren befallen die Insulinproduzierenden b-Zellen - ebenso wie die Schleimhautzellen - über den ACE-2-Rezeptor, wodurch es zu einer Apoptose und in der Folge einer verminderten Insulinproduktion kommen könnte.

  • Körperweite COVID-19-Infektionen könnten Stress im endoplasmatischen Retikulum der b-Zellen – wie auch in anderen befallenen Zellen – auslösen, wodurch es ebenfalls zu Apoptose kommen könnte.

  • COVID-19-Infektionen führen zur Bildung von Autoantikörpern, sodass auch die Produktion von gegen ß-Zellen gerichteten Antikörpern denkbar wäre, die ebenfalls zur Apoptose dieser Zellen führen würde. 

Alle 3 Ursachen könnten somit auch bei prädiabetischen Individuen einen Diabetes manifestieren, schreiben die Kommentatoren weiter, sodass der Ausbruch eines Diabetes durch eine COVID-19-Infektion getriggert würde. 

Somit könnte es auch sein, dass die in der Studie dokumentierten vermehrten Fälle von Diabetes solche wären, die in den nächsten Jahren sowieso eine Manifestation eines Diabetes erlebt hätten. In der Folge dürfte es dann - vorausgesetzt, es gäbe zukünftig weniger schwere Fälle von COVID-19-Infektionen - zu einem Rückgang diabetischer Neuerkrankungen kommen, da die Anzahl prädiabetischer Fälle quasi "abgebaut" wäre.

Fallzahl von Diabetes kann entzündungsbedingt, aber unspezifisch steigen

Dieser Vermutung stimmt Martin zu: „Im Fall von Typ-1-Diabeteserkrankungen kommt es häufig im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen zur Manifestation eines latent bestehenden Prädiabetes. Bedingt durch den erhöhten Insulinbedarf aufgrund einer Infektion unterschreiten die Patienten die notwendige Insulinschwelle und zeigen die typischen Beschwerden wie Gewichtsverlust, Polyurie und Polydipsie“, so der Experte. Aber er zieht einen anderen Schluss: „Daher sind die Ergebnisse dieser Studie einer erhöhten Diagnose von Diabeteserkrankungen bei Infektionen wenig überraschend und alles andere als spezifisch für COVID-19.“ 

 
Im Fall von Typ-1-Diabeteserkrankungen kommt es häufig im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen zur Manifestation eines latent bestehenden Prädiabetes. Prof. Dr. Stephan Martin
 

Ausgeschlossen von der Studienteilnahme waren Individuen, die schon vor ihrem PCR-Test unter einer Diabetes-Erkrankung litten und solche, die schon länger in Altersheimen lebten und Multimorbiditäten aufwiesen. Dadurch ließe sich die relative Unterpräsenz von Teilnehmern über 60 Jahren (insgesamt nur 3,6%) erklären. 

Die dokumentierten und in die Adjustierung aufgenommenen Vorerkrankungen waren Herzinfarkt (0,5%), Asthma (14%), chronische Nieren-, Leber- und obstruktive Lungenerkrankungen (zusammen 2,5%), Depression (25%), Bluthochdruck (6%) sowie regelmäßige Glukokortikoid-Einnahme, Alkohol- und Drogenmissbrauch (zusammen 12%). 2 Drittel der Teilnehmer waren nicht gegen COVID-19 geimpft, 6% teilweise und 28% vollständig. Unterschiede zwischen Diabetes von Typ-1 und Typ-2 wurden nicht dokumentiert. 

„Die COVID-19-Pandemie hat die Anzahl der Publikationen zu diesem Thema sprunghaft ansteigen lassen“, lautet das Fazit von Martin. „Diese Vielzahl steht jedoch im reziproken Verhältnis zur Qualität. Hierzu zähle ich leider auch die aktuelle Studie der kanadischen Arbeitsgruppe.“

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Kommentar

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