Ein Patient stellt sich in der Notaufnahme vor. Er leidet an sich verschlimmernden epigastrischen Schmerzen, an Durchfall und Myalgie. Außerdem berichtet er von nächtlichen Schweißausbrüchen und Rigor. Fragen nach Teer- oder Blutstuhl werden verneint.
Der Patient hat 3 Tage zuvor rund 21 Dosen Bier getrunken. Die Anamnese umfasst eine Ösophagitis, die im vergangenen Jahr diagnostiziert und mit einem Protonenpumpenhemmer behandelt wurde. Es sind keine Arzneimittelallergien bekannt und er hat in letzter Zeit keine anderen Medikamente eingenommen. Der Patient gibt zudem an, keine illegalen Substanzen zu konsumieren.
In seiner Familie gibt es eine signifikante Anamnese für hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie. In den vergangenen sechs Jahren rauchte er täglich zehn Zigaretten.
Kurz nach seiner Vorstellung in der Notaufnahme kollabiert der Patient.
Körperliche und apparative Untersuchungen
Bei der körperlichen Untersuchung hat der Patient eine Temperatur von 37,5°C, eine Sinustachykardie mit einer Herzfrequenz von 130 Schlägen/min und einen Blutdruck von 118/82 mmHg. Er ist stark dehydriert und unruhig, der obere Brustkorb und der Hals sind druckempfindlich. Lunge und Herz sind gut auskultierbar. Das Abdomen ist weich, das Epigastrium empfindlich.
Die Erstuntersuchung ergibt folgende klinisch bedeutsame Laborwerte:
Weiße Blutkörperchen: 17,9 × 103 Zellen/µl (Normal 4-11 × 103 Zellen/µl)
Natriumspiegel: 147 mEq/l (Normal 135-145 mEq/l)
Kaliumspiegel: 2,6 mEq/l (Normal 3,5-5 mEq/l)
Harnstoff-Stickstoff-Spiegel im Blut: 14,5 mg/dl (Normal 7-19 mg/dl)
Kreatininwert: 1,71 mg/dl (Normal 0,8-1,7 mg/dl)
Leberfunktionstests ergeben einen erhöhten Gamma-Glutamyltransferase-Wert von 716 U/L (Normal 11-51 U/L). Das EKG zeigt ein verlängertes QT-Intervall mit ST-Senkung in den inferioren und anterolateralen Ableitungen.
Die Ärzte diagnostizieren ein Sepsis-bedingtes Multiorganversagen und verlegen ihn auf die Intensivstation. Sie führen eine Flüssigkeitsreanimation durch und behandeln den Patienten mit intravenösen Breitbandantibiotika. Weitere Untersuchungen ergeben, dass der 27-Jährige innerhalb der letzten 24 Stunden 30-mal erbrochen hat.
Das Ärzteteam fertigt eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs posteroanterior an (Abb. 1). Aufgrund einer Anomalie auf dem Röntgenbild wird zudem ein CT des Brustkorbs (Abb. 2) und des Abdomens (nicht abgebildet) veranlasst.

Abb. 1

Abb. 2
Diskussion
Die Röntgenaufnahme des Brustkorbs in aufrechter Position war in diesem Fall ein wichtiges diagnostisches Instrument, da sie Luft entlang des linken Herzrands und des Aortenknotens zeigte, was ein Pneumomediastinum und/oder pneumoperikardiale Luft darstellte. Dieser Befund führte zu einer CT-Untersuchung des Brustkorbs und des Abdomens, bei der freie Luft in Mediastinum und Herzbeutel festgestellt wurde.
Die Ärzte unterzogen den Patienten daraufhin einer kontrastmittelverstärkten Schluckuntersuchung, bei der kein offenes Ösophagusleck nachgewiesen werden konnte. Dies deutet darauf hin, dass die Ruptur wahrscheinlich schon früher stattgefunden hatte.
Das Boerhaave-Syndrom, oder die spontane Ösophagusruptur, ist eine seltene, aber schwerwiegende Erkrankung. Wird innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten der Symptome eine Behandlung eingeleitet, liegt die Sterblichkeitsrate bei 25 %; sie steigt jedoch nach 24 Stunden ohne Behandlung auf über 65 % und nach 48 Stunden auf 75 bis 89 % an [1].
Das Syndrom ist durch eine vollständige transmurale Ruptur der Speiseröhre, beispielsweise infolge des heftigen Erbrechens, gekennzeichnet [2]. Als Ursache wird ein plötzlicher Anstieg des intraluminalen Drucks vermutet, verursacht durch unkoordiniertes Erbrechen mit Pylorusverschluss und Zwerchfellkontraktion gegen den kontrahierten krikopharyngealen Muskel [3].
Die Perforation erfolgt in der Regel an der schwächsten Stelle der Speiseröhre, daher ist die häufigste Rupturstelle die linke posterolaterale Wand des unteren Drittels der Speiseröhre. Dies ist bei 90 % der Patienten der Fall [4].
Das Boerhaave-Syndrom macht 16% aller traumatischen Rupturen der Speiseröhre aus [2,3] und steht wohl in Zusammenhang mit übermäßigem Alkohol- und Essensgenuss. In einem Verhältnis von etwa 2:1 tritt das Boerhaave-Syndrom häufiger bei Männern als bei Frauen auf. Am häufigsten sind Personen mittleren Alters betroffen [3].
Klinisch präsentiert sich das Boerhaave-Syndrom typischerweise mit Übelkeit und Erbrechen, gefolgt von starken Schmerzen im unteren Thorax und Epigastrium. Die Schmerzen können in den Rücken oder in die linke Schulter ausstrahlen und sich durch Schlucken verschlimmern. Auch Kurzatmigkeit kann auftreten, was auf pleuritische Brustschmerzen oder einen Pleuraerguss zurückzuführen ist [3].
Die Mackler-Trias im Rahmen des Boerhaave-Syndroms setzt sich zusammen aus den folgenden drei Symptomen:
Letzteres wird jedoch nur bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten bei der Erstvorstellung beobachtet [3]. Weitere klassische Befunde sind Tachypnoe und abdominelle Rigidität.
Das Hamman-Knirschen – ein knisterndes Geräusch bei der Auskultation des Brustkorbs – weist auf ein Pneumomediastinum hin und kann bei 20% der Fälle auftreten [3]. In fortgeschritteneren Stadien der Ruptur tritt typischerweise eine Sepsis mit fortschreitendem Multiorganversagen auf.
Diese Vielzahl von Symptomen und klinischen Anzeichen hat eine breite Palette an Differenzialdiagnosen zur Folge, wie beispielsweise akutes Koronarsyndrom, Aortendissektion, Mallory-Weiss-Einriss, Perikarditis, akute Pankreatitis und Spontanpneumothorax [3].
Bei der Erstuntersuchung sollten grundlegende Laboruntersuchungen durchgeführt werden. Diese Tests sind jedoch oft unspezifisch und können lediglich erhöhte Entzündungsmarker und möglicherweise eine gestörte Leberfunktion (bei erheblichem Alkoholkonsum) anzeigen. Zum Ausschluss eines Myokardinfarkts ist ein frühes EKG unerlässlich. Eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs ist die erste radiologische Untersuchung; bis zu 90 % der Patientinnen und Patienten weisen nach einer Ösophagusperforation einen abnormen Befund auf [2,3].
Die häufigste Abnormität ist ein einseitiger Pleuraerguss (in der Regel auf der linken Seite), was die Tatsache widerspiegelt, dass die meisten Rupturen die linke untere Speiseröhre betreffen. Andere Befunde können Pneumothorax, Hydropneumothorax, Pneumomediastinum, subkutanes Emphysem oder eine Mediastinalverbreiterung sein [3].
Eine Computertomographie (CT) ermöglicht die Visualisierung der umgebenden Strukturen, um andere Diagnosen auszuschließen, und kann periösophageale Luft nachweisen, was auf eine Perforation hindeuten kann [2,3]. Die Hauptuntersuchung zur Bestimmung der genauen Lage und Größe einer Ösophagusperforation ist jedoch eine Ösophagographie, vorzugsweise mit wasserlöslichem Kontrastmittel [8,9]. Die Ösophagographie hat eine Sensitivität von bis zu 90%, führt aber auch in bis zu 20% der Fälle zu einem falsch-negativen Ergebnis [3].
Zu den Optionen für die Behandlung des Boerhaave-Syndroms gehören eine konservative Behandlung oder ein chirurgischer Eingriff. Leider ist eine Verzögerung zwischen dem Auftreten der Symptome und der Diagnosestellung nicht selten [2].
Massive Volumentherapie, Sonde, Antibiotika: Die sofortige medizinische Behandlung umfasst die Stabilisierung der zu behandelnden Person mit intravenöser Volumentherapie, nasogastraler Sonde, Breitbandantibiotika und narkotischen Analgetika [3].
Konservative Therapie: Zu den klinischen Merkmalen, die für eine konservative Therapie sprechen, gehören:
das Fehlen klinischer Anzeichen einer Infektion,
eine begrenzte Perforation im Mediastinum und im viszeralen Rippenfell ohne Eindringen in eine andere Körperhöhle
eine Perforation mit Rückfluss des Kontrastmittels in die Speiseröhre
Einige Fachleute sind der Ansicht, dass die Art der Behandlung keinen Einfluss auf das Ergebnis hat, wenn die Behandlung mehr als 24 Stunden nach der Perforation eingeleitet wird, und dass daher konservativ behandelt werden kann. Diese umfasst die Verabreichung von intravenöser Flüssigkeit und Breitbandantibiotika, nasogastrales Absaugen, Nüchternhaltung des Patienten und frühzeitige Ernährungsunterstützung (Jejunostomie-Ernährung wird bevorzugt) [2,3].
Wird die Diagnose früh gestellt (innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Perforation), wird ein chirurgischer Eingriff bevorzugt [2,10]. Zu den chirurgischen Techniken, die zur Behandlung einer Ösophagusruptur eingesetzt werden, gehören unter anderem:
Schlauch-Thorakostomie
Primäre Reparatur
Primäre Reparatur mit Verstärkung (Pleura, Interkostalmuskulatur, Zwerchfell, Perikardfett, Pleuralappen)
Ösophagus-Resektion
Thorakoskopische Reparatur
Ösophagus-Stent
Endoskopische Platzierung einer Fibrinversiegelung
Therapie
Im oben beschriebenen Fall wurde eine sofortige massive Volumentherapie eingeleitet sowie Cefuroxim und Metronidazol intravenös verabreicht. Aufgrund der 20-prozentigen Falsch-Negativ-Rate eines ersten Ösophagogramms wurde die Untersuchung wiederholt und bestätigte erneut den ursprünglichen Befund, dass kein Leck vorlag.
Der Patient wurde konservativ mit Breitbandantibiotika behandelt, nüchtern gehalten und über eine Jejunostomie-Sonde ernährt. Zudem erhielt er eine angemessene Flüssigkeitszufuhr (mit Überwachung der Urinausscheidung). Der Zustand des Patienten verbesserte sich deutlich; ein erneutes CT des Brustkorbs zeigte ein normales Mediastinum. Nach einem 10-tägigen Krankenhausaufenthalt konnte er bei guter Gesundheit nach Hause entlassen werden.
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen. Er wurde von Dr. Linda Fischer für Coliquio.de übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Fall: Nach 21 Dosen Bier kommt es bei diesem Mann zu unstillbarem Erbrechen – es liegt nicht am Alkohol… - Medscape - 22. Mai 2023.
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