Fall: Toxischer Geflügelbraten – was hat bei diesem Patienten zur Rhabdomyolyse geführt? 

Dr. Stefan Schmiedel, Dr. Matthias Janneck

Interessenkonflikte

24. Juli 2023

Ein 78-jähriger Mann wird am Abend mit massiven Schmerzen in Oberarmen, Oberschenkeln und Waden per Rettungswagen in die Notaufnahme eingeliefert. Noch 2 Stunden zuvor hat er in einer Kirche Orgel gespielt. Auf dem Rückweg per Fahrrad beginnen plötzlich die Schmerzen, zunächst im linken Oberarm, sodass er diesen Arm hängen lässt und einhändig lenkend nach Hause fährt [1]

Dort angekommen geht der Schmerz auf den rechten Oberarm über, dann auf beide Beine. Es kommt auch zu Kurzatmigkeit und zu Druck auf der Brust. Die Symptome sind so ausgeprägt, dass eine Notärztin eine Krankenhauseinweisung per Rettungswagen veranlasst.

Körperliche und apparative Untersuchungen

In der Notaufnahme zeigt sich ein massiv schmerzgeplagter Patient mit ansonsten sehr gutem Allgemeinzustand ohne relevante Vorerkrankungen und ohne Dauermedikation. Der Untersuchungsbefund ist bis auf einen muskulären Druckschmerz in den genannten Regionen unauffällig, die Vitalparameter sind normal, und das EKG zeigt einen normofrequenten Sinusrhythmus ohne relevante Erregungsrückbildungsstörungen.

Das Aufnahmelabor zeigt überraschenderweise eine ausgeprägte CK-Erhöhung von 14.903 U/L (Norm <173) und eine Leukozytose von 22,7 Mrd./l. CRP und Kreatinin sind nicht erhöht, GOT und GPT gering angestiegen (312 bzw. 74 U/l, Norm < 50).

Typische Auslöser einer Rhabdomyolyse, etwa die Einnahme von Statinen, sind nicht bekannt. Der Patient berichtet über Reisen nach Spanien, Frankreich und Norditalien in den letzten Monaten, Fernreisen habe er nicht unternommen.

Ein Notfall-CT kann eine Aortendissektion und eine Lungenembolie als Ursache ausschließen; eine Koronarangiografie zeigt einen unauffälligen Koronarbefund. Dann erreicht Ärzte die Nachricht, dass die Lebensgefährtin des Patienten mit ähnlichen Symptomen in einem anderen Hamburger Krankenhaus aufgenommen wurde, sodass eine Intoxikation sehr wahrscheinlich ist.

Therapie

Auf erneute Nachfrage berichtet der Patient, dass er sich einen Fasan auf einem Hamburger Wochenmarkt gekauft und diesen mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter am Vortag zu etwa 2 Dritteln gegessen habe, das letzte Drittel habe er mit seiner Frau am Aufnahmetag verspeist.

Seine Tochter habe als Vegetarierin nur von einem Flügel probiert. Sofort recherchieren die Ärzte über mögliche Intoxikationen durch Fasane – ohne wirklich überzeugendes Ergebnis.

Zwar finden sie keinen Hinweis in der Literatur auf Vergiftungen durch Fasane. Allerdings ist das Krankheitsbild des Patienten nach dem Verzehr wilder Wachteln gut beschrieben, sodass sie ihm Fotos der genannten Vögel zeigten. Und tatsächlich: Der vermeintliche Fasan entpuppt sich als große Wachtel.

Der Patient entwickelt anurisches Nierenversagen; eine intermittierende Dialysetherapie wird notwendig. Zudem zeigt sich im Herzecho eine hochgradig eingeschränkte LV-Funktion (CK-MB max. 2.386 U/l, 15% CK-NAC; Anstieg parallel zu Troponin T).

Die Lebensgefährtin des Patienten hat starke Muskelschmerzen in Nacken, in Schultern, Armen und Waden. Sie wird bei erhöhtem Troponin und nur mäßig erhöhter CK (810 U/l) koronarangiografiert. Auch bei ihr ist der Koronarbefund unauffällig. Sie zeigt ebenfalls eine reduzierte LV-Funktion mit guter Rückbildungstendenz. Ein Nierenversagen tritt bei ihr nicht auf.

In den nächsten Tagen stabilisiert sich der klinische Zustand des Mannes. Seine Nieren- und Myokardfunktion verbessern sich. Er kann auf die Normalstation verlegt werden, von wo er beschwerdefrei mit weiter fallenden Retentionsparametern entlassen wird.

Die Tochter des Patienten hat lediglich vorübergehende leichte Wadenschmerzen. Sie stellt sich ambulant vor – mit komplett unauffälligen Laborwerten. Heute, Jahre nach der Vergiftung, erfreut sich der Patient weiter Gesundheit. Er ist völlig nieren- und herzgesund.

Diskussion

Zum Hintergrund: Die im hier geschilderten Fall aufgetretene Rhabdomyolyse bezeichnet den Untergang oder die Disintegration von gestreifter Skelettmuskulatur. Der Konsum von Wachteln (Coturnix coturnix), insbesondere von Wildfängen auf ihrem Zug durch die Mittelmeerländer von und zu den Winterquartieren in Ostafrika, ist eine seltene Ursache einer solchen akuten Rhabdomyolyse. Sie wird als Coturnismus bezeichnet. Dabei kommt es innerhalb von Stunden nach dem Verzehr von Wachtelfleisch zu einer Rhabdomyolyse und in 10% bis 40% der Fälle zu einem darauffolgenden akuten Nierenversagen.

Neben den Symptomen einer Rhabdomyolyse fehlen beim Coturnismus meist neurologische und gastrointestinale Beschwerden, die bei anderen Nahrungsmittelvergiftungen typisch sind. Geschmack und Geruch des verzehrten Wachtelfleisches sind dabei völlig unauffällig; Einfrieren oder Kochen schützen nicht vor der Vergiftung.

Die Erkrankung ist zwar selten, aber seit Langem bekannt. Schon in der Bibel Erwähnung findet: „Als aber das Fleisch noch zwischen ihren Zähnen war und ehe es ganz aufgebraucht war, da entbrannte der Zorn des HERRN gegen das Volk, und er schlug sie mit einer sehr großen Plage.“ (4. Mose (NUMERI) 11,33). 

In Mittelmeerländern häufen sich Krankheitsfälle, besonders im Herbst. Obwohl die Beschwerden der Erkrankung ausgeprägt sein können, genesen die Patienten in den meisten Fällen innerhalb von Wochen völlig. Ob das akute Nierenversagen nur durch die Rhabdomyolyse oder auch durch eine direkte Toxinwirkung ausgelöst wird, ist ungeklärt, ebenso ob es eine direkte Toxinwirkung auch auf den Herzmuskel gibt – was in dem hier beschriebenen Fall aus Sicht der Autoren sehr wahrscheinlich erscheint.

Eine spezifische Therapie des Coturnismus ist nicht bekannt. Supportiv sollte ein angepasstes Flüssigkeits- und Elektrolytmanagement erfolgen, eine forcierte Diurese und eine Alkalisierung des Urins sollen die Myoglobin- und Toxinausscheidung fördern.

Selten ist temporär eine Dialyse erforderlich. Die Erholung nach akutem Nierenversagen erfolgt meist rasch und vollständig. Eine rasche Diagnose dieser seltenen Vergiftung ist wichtig, um eine angemessene supportive Therapie beginnen zu können und Überdiagnostik (z. B. Koronarangiografie) zu vermeiden. Die genetischen, toxikologischen und epidemiologischen Merkmale der Erkrankung sind noch weitgehend unverstanden. Coturnismus sollte bei Patienten mit Rhabdomyolyse nach Geflügelverzehr in Erwägung gezogen werden.

Wachtelfleisch gilt als Delikatesse; Vögel aus Zuchten stellen kein Problem dar. Wissenschaftler vermuten, dass sich Wachteln in der Natur u.a. von Pflanzen ernähren, die für den Menschen, nicht jedoch für die Wachtel selber, giftig sind. Möglicherweise handelt es sich um Samen des Schierlings.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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