Für Dr. Julia Moore Vogel war eine Tasse Pfefferminztee der Moment, der ihr Leben für immer verändern sollte. Eines Morgens, Anfang Juli 2020, nahm sie einen Schluck ihres bevorzugten Muntermachers und konnte ihn plötzlich nicht mehr schmecken. Sie wusste, dass Geschmacks- und Geruchsverlust Symptome von COVID-19 sind und vermutete daher, dass sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatte. Ein Arztbesuch bestätigte ihre Befürchtung.
„Ich weiß noch, wie ich den Tee probiert habe und so schockiert war und dachte: Wie kann mir das passieren?", sagt Moore Vogel, die am Scripps Research Translational Institute in San Diego zu COVID-19 forscht. „Denn ich war so unglaublich vorsichtig gewesen."

Dr. Julia Moore Vogel
Ihr Arzt versicherte ihr, dass sie als gesunde Frau Mitte 30 in 2 Wochen „wieder fit" sein würde und dass der Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn „sehr wahrscheinlich ihr einziges Symptom sein würde", erinnert sie sich.
Doch innerhalb einer Woche entwickelte Moore Vogel Atemprobleme. Sie konnte nicht mehr arbeiten und litt unter Fatigue, Brain Fog und Migräne. Jetzt, 2½ Jahre später, gehört Moore Vogel zu den 10 Millionen Amerikanern, die an Long-COVID leiden.
Als Wissenschaftlerin und Patientin, die noch immer mit Müdigkeit und Migräne zu kämpfen hat, hat sie gelernt, mit ihrer Krankheit umzugehen. Sie leitet das Participant Center for the All of Us Research Program, eine Kooperation mit den National Institutes of Health zum Aufbau der größten und umfassendsten Gesundheitsdatenbank der Geschichte. Um eine Verschlimmerung ihrer Symptome zu vermeiden, praktiziert sie Pacing, ein therapeutisches Konzept, das ihr hilft, ihre körperlichen, geistigen und emotionalen Kräfte zu schonen.
Außerdem ist sie Mitverfasserin eines bahnbrechenden Reviews, in den 200 Studien zu Long-COVID eingeschlossen wurden. Die Übersichtsarbeit wurde am 13. Januar in Nature veröffentlicht [1]. Moore Vogel hat dazu mit dem Scripps Executive Vize-Präsident und Medscape-Chefredakteur Dr. Eric Topol zusammengearbeitet. 2 weitere Wissenschaftler des Instituts zur Erforschung von Long-COVID und Patientenvertreter, die an Long-COVID leiden, waren ebenfalls Mitverfasserinnen der Studie - Lisa McCorkell und Hannah E. Davis. Beide haben die Patient-Led Research Collaborative mitgegründet, eine Gruppe von Patienten mit Long-COVID, die das Virus untersuchen.
Moore Vogel sprach mit Medscape Medical News über die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie und über ihre persönlichen Erfahrungen.
Medscape: Als Sie an COVID-19 erkrankt sind, gab es noch keine Therapie oder Impfstoffe. Wie war diese Erfahrung für Sie?
Moore Vogel: Das war im Juli 2020. Der Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns war das erste Symptom. Das Interessante daran war, dass das für kurze Zeit mein einziges Symptom war. Da ich ein zielstrebiger, arbeitsorientierter Mensch bin, habe ich den Rest der Woche gearbeitet und gehofft, dass es verschwinden würde. Das war an einem Mittwoch, am Freitag war ich einfach nur noch müde, und es war wirklich schwer, mein Arbeitspensum zu schaffen. Schließlich nahm ich 3 Wochen Urlaub, um mich von der akuten Infektion zu erholen. Damals hatte ich die ersten Diskussionen über Long-COVID gelesen, und ich habe mich immer gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis ich mich erholt hatte.
Medscape: Waren Sie in der ersten Woche bei einem Arzt?
Moore Vogel: Ich rief einen Arzt an, als ich den Geschmacks- und Geruchsverlust hatte, und er sagte: `Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies Ihr einziges Symptom sein wird.' Als ich das erste Mal mit einem Arzt sprach, sagte dieser: `Sie sind jung und gesund, in 2 Wochen ist alles wieder okay.' Aber das hat sich nicht bewahrheitet.
Es ist schwer, sich daran zu erinnern, wie es damals war. Es gab so wenige Behandlungsoptionen, es ging nur um die Rationierung von Beatmungsgeräten, und es war absolut beängstigend, nicht zu wissen, was passieren würde.
Medscape: Wie gehen Sie heute mit Ihrem Zustand um?
Moore Vogel: Ich leide an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatiguesyndrom (ME/CFS), das ist eine der häufigsten Diagnosen, die bei Tests auf Long-COVID gestellt werden. Das ist das größte Problem, mit dem ich jetzt zurechtkommen muss und die wichtigste Maßnahme für den Umgang damit ist Pacing.
Außerdem nehme ich Medikamente gegen Migräne. Ich habe immer schon an Migräne gelitten, hatte ca. 2 Anfälle pro Monat, jetzt allerdings sind es 15 pro Monat. Das ist schon eine ganz andere Größenordnung.
Medscape: Es muss frustrierend sein, sowohl persönlich als auch beruflich, dass eine Therapie von Long-COVID nicht möglich ist.
Moore Vogel: Ich bin enttäuscht über das Tempo, mit dem neue Ansätze in klinischen Studien getestet werden. In den frühen Stadien der Pandemie wurden so viele Fortschritte erzielt, es gab so viele Innovationen zur Behandlung der akuten Infektion, und das hat zu erstaunlichen Ergebnissen geführt. Wir haben die monoklonalen Antikörper, die Steroide sind wirklich wirksam, ganz zu schweigen von den Virostatika und natürlich den Impfstoffen. Es ist erstaunlich.
Aber aus irgendeinem Grund hinkt die Behandlung von Long-COVID wirklich hinterher. Ich denke, das liegt zum Teil daran, dass sich Long-COVID nicht so dramatisch anfühlt. Wenn man einen Patienten an einem Beatmungsgerät sieht oder vom Tod eines COVID-19-Patienten hört, fühlt sich das sehr dramatisch an, die Leute machen sich wirklich Sorgen darüber.
Medscape: Lassen Sie uns über die Forschung sprechen. Wie haben Ihre persönlichen Erfahrungen - und die der beiden anderen Co-Autoren mit Long-COVID - zu dieser Untersuchung beigetragen?
Moore Vogel: Ich arbeite regelmäßig mit Eric Topol zusammen. Es war großartig, dass er Patienten eingeladen hat, mit ihm an diesem Bericht zu arbeiten. Auch mit meinen anderen Co-Autoren, Hannah Davis und Lisa McCorkell, die schon lange an Long-COVID erkrankt sind, war die Zusammenarbeit großartig.
Es war das erste Mal, dass ich mit Leuten, die schon lange an Long-COVID leiden, an einem großen Projekt gearbeitet habe. Dieses Verständnis, das wir füreinander aufbrachten, wenn einer von uns sagte: `Oh, ich bin heute krank, ich kann heute nicht daran arbeiten. Kannst du uns helfen, diese Frist einzuhalten?´ Es war für mich wirklich erstaunlich zu erleben, wie ein Arbeitsplatz an die Bedürfnisse von behinderten Menschen angepasst werden kann. Es hat meine Einstellung dazu verändert, wie wichtig es ist, die Patienten in den Prozess einzubeziehen.
Medscape: Was war Ihrer Meinung nach das überraschendste oder wichtigste Ergebnis des Reviews?
Moore Vogel: Am meisten beeindruckt hat mich, wie viel Forschung in so kurzer Zeit betrieben wurde. Wir begannen mit über 250 Studien, auf die wir uns in unserer Übersicht beziehen wollten, und mussten im Laufe des Redaktionsprozesses tatsächlich 50 davon herausnehmen, was wirklich schwierig war!
In den letzten Jahren wurden viele Fortschritte gemacht. Wenn man über die Fortschritte bei Long-COVID nachdenkt, ist es wichtig, auch die Arbeit anzuerkennen, die zu anderen postviralen Erkrankungen geleistet wurde, die bei vielen Patienten sehr ähnlich wie Long-COVID verlaufen, nämlich ME/CFS und das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS).
Medscape: Was mir besonders auffiel, war die Feststellung, dass Long-COVID eine potenziell lebenslange Erkrankung ist und in gewisser Weise HIV/AIDS ähnlicher ist als beispielsweise einer Grippe. Ist das richtig?
Moore Vogel: Ja. Ich bin wirklich froh, dass Sie diesen Punkt aufgreifen, das ist einer der Punkte, die mir am meisten am Herzen liegen. Schaut man auf die heute verfügbaren Therapieoptionen für Long-COVID, dann führt die Erkrankung bei vielen Menschen wahrscheinlich zu lebenslanger Behinderung. Ich kann das aus eigener Erfahrung nur bestätigen, ich sehe keine Verbesserung am Horizont.
Das ist einer der Gründe, warum ich mich so sehr für klinische Studien einsetze, denn ich weiß, dass es Millionen und Abermillionen von uns gibt. Für mich war das nicht so überraschend, weil ich es selbst erlebe, aber ich kann mir vorstellen, dass das für die breite Öffentlichkeit ein wirklich überraschender Befund ist.
Medscape: In dem Review werden die Auswirkungen von COVID-19 auf verschiedene Organe und Systeme aufgeschlüsselt. Er enthält die bisher umfassendste Untersuchung der Auswirkungen auf schwangere Frauen. Möchten Sie dazu noch etwas sagen?
Moore Vogel: Das hebt die Bedeutung der Impfung hervor, denn die Infektion mit COVID-19 kann sowohl die Schwangere als auch das Ungeborene betreffen. Es gibt frühe Hinweise auf Entwicklungsverzögerungen, wenn das Ungeborene während der Schwangerschaft infiziert wird. Meiner Einschätzung nach unterstreicht das die Notwendigkeit von Impfungen, um dieses Risiko zu verringern.
Eine Schwangerschaft ist ohnehin eine stressige Zeit. Wenn Sie also irgendetwas tun können, um das Risiko für sich selbst und ihr ungeborenes Kind zu verringern, ist das meiner Meinung nach wirklich sinnvoll.
Medscape: Warum, glauben Sie, war diese gründliche Überprüfung notwendig?
Moore Vogel: Es ist schwer, die riesige Menge an Literatur, die es inzwischen dazu gibt, zu sichten. Eric Topol und Hannah Davis, 2 der Co-Autoren, sind 2 Leute, die sich damit beschäftigt haben, und sie halten sich über die gesamte Literatur auf dem Laufenden und twittern ständig darüber.
Die meisten Menschen haben aber nicht die Zeit, diese Literatur zu sichten. Wir haben deshalb die gesamte Literatur durchgesehen, sie in Abschnitte gegliedert und die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst. Die andere Sache, die meiner Meinung nach im Moment wirklich wichtig ist, sind die Empfehlungen.
Medscape: Welche Auswirkungen wird die neue Studie zu Long-COVID in Nature Ihrer Meinung nach haben?
Moore Vogel: Die Reaktion auf unseren Review übertrifft meine Erwartungen bei weitem. Ich denke, das ist – zumindest teilweise – auch ein Zeichen dafür, dass das Bewusstsein für das Problem mit Long-COVID zunimmt.
Ich hoffe, dass dies dazu beiträgt, dass mehr Therapiestudien durchgeführt werden. Es gibt eine Menge großartiger Kandidaten da draußen. Wir haben in dem Bericht eine ganze Tabelle über die verschiedenen potenziellen Behandlungen, die getestet werden sollten, zusammengestellt.
Medscape: Was ist die wichtigste Botschaft für Ärzte?
Moore Vogel: Eine der wichtigsten Empfehlungen bezieht sich auf die Ausbildung der Ärzte. Wir wissen, dass es für Ärzte schwer ist, mit dieser riesigen Menge an Literatur Schritt zu halten, wir brauchen wirklich mehr ärztliche Fortbildung. Eine Fortbildung für Ärzte, die wirklich keine Zeit haben, die gesamte Primärliteratur selbst zu lesen.
So viele Menschen erhalten nicht die medizinische Versorgung, die sie brauchen. Da diese Art von Erkrankung von Hausärzten, Physiotherapeuten usw. nicht so häufig gesehen wird, ist viel mehr Aufklärung nötig.
Ich denke, die Grundprinzipien könnten wahrscheinlich in einem Wochenendkurs gelehrt werden, [einschließlich] den Patienten zuzuhören, den Patienten zu glauben. Es kommt so oft vor, dass Symptome von Patienten [abgetan und] von ihren Ärzten nicht wirklich ernst genommen werden.
Ein Teil des Problems besteht auch darin, dass psychische Probleme mit anderen physiologischen Symptomen verwechselt werden. Es gibt da schon eine Tendenz zu sagen: 'All das wird durch psychische Probleme verursacht, und die psychische Gesundheit ist die Hauptursache', während in Wirklichkeit die Krankheit die Hauptursache ist.
Medscape: Wie groß ist die Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit durch Long-COVID?
Moore Vogel: Ich glaube, es ist eine massive Krise, ein massiver Notfall. Viele Menschen, die an Long-COVID leiden, bezeichnen es als ein Ereignis, das zu einer Massenbehinderung führt. Es besteht die Sorge, dass wir, wenn wir die Pandemie lange genug ungebremst laufen lassen - denn wir gehen davon aus, dass etwa 10% der Menschen, die an COVID-19 erkranken, infolge an Long-COVID leiden werden -, am Ende eine mehrheitlich behinderte Gesellschaft haben könnten.
Das wäre verheerend - für den Einzelnen, für die Wirtschaft, für das medizinische System. Meines Erachtens nach handelt es sich um einen absoluten Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Aus diesem Grund war ich auch so überrascht, dass es keine Studien gab und die Öffentlichkeit nicht sensibilisiert wurde. In der Öffentlichkeit wurde über Long-COVID nicht so viel aufgeklärt wie über die akute COVID-19-Infektion. Ich denke, dass wir aus Sicht der öffentlichen Gesundheit mehr tun könnten.
Medscape: Was sind die größten Herausforderungen bei der Bekämpfung von Long-COVID?
Moore Vogel: Das Fehlen von Therapiemöglichkeiten ist der verheerendste Teil, weil es eine so schwere Krankheit ist und weil kein Ende in Sicht ist. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich so sehr für die Behandlung einsetze, denn ich möchte Long-COVID-Patienten Hoffnung geben.
Ich hege die Hoffnung, dass wir innerhalb von 5 Jahren über Behandlungen verfügen, die die Lebensqualität der Patienten wirklich verbessern können. Ich weiß, dass das für die Patienten eine lange Zeit ist, und ich hoffe, dass es innerhalb von 1 bis 2 Jahren einige klinische Studien geben wird, die die Kontrolle der Symptome verbessern. Ich denke aber, für wirklich neuartige Ansätze wird es mindestens 5 Jahre brauchen.
Medscape: Welchen Rat geben Sie heute einem Patienten mit Long-COVID?
Moore Vogel: Der Austausch mit anderen, die diese Erfahrung gemacht haben, ist äußerst wertvoll und kann – weil Long-COVID gerade auch psychisch sehr belastend sein kann - wirklich helfen.
Für jeden, der nicht an Long-COVID leidet, aber jemanden kennt, der an Long-COVID leidet, ist es von entscheidender Bedeutung, Unterstützung anbieten zu können. Das kann einen großen Unterschied in der Lebensqualität ausmachen. Für diejenigen, die nicht an Long-COVID leiden, ist es sehr wichtig, die Erkrankung in ihrer Risikokalkulation zu berücksichtigen. Etwa wenn sie überlegen: Trage ich hier eine Maske oder gehe ich in diese Bar?
Bedenken Sie, dass Sie, wenn Sie sich mit COVID-19 infizieren, eine Risikowahrscheinlichkeit von 10% haben, Long-COVID zu entwickeln. Und wenn Sie Long-COVID bekommen, liegt ihre Chance, nicht mehr arbeiten zu können oder so krank zu werden, dass Sie nicht mehr arbeiten können und Ihre Krankenversicherung verlieren, bei 25%. Die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, sind absolut verheerend. Ich glaube, dass das in den Risikokalkulationen zu wenig berücksichtigt wird.
Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Lebenslang behindert? Corona-Forscherin mit Long-COVID-Leiden übt Kritik an der Therapie und erklärt, was Ärzte tun sollten - Medscape - 3. Mai 2023.
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