Multimedikation – kein seltenes Problem in der Praxis: So gelingt es, Arzneimitteltherapien zu optimieren

Nathalie Haidlauf

Interessenkonflikte

3. Mai 2023

Wiesbaden – Nehmen Menschen 5 oder mehr Medikamente ein, sprechen Ärzte von Multimedikation. Und das ist kein Randphänomen: In Deutschland nehmen rund 14% aller Patienten, die im kassenärztlichen System geführt werden, 5 oder mehr Wirkstoffe ein. Weitere 6% erhalten 7 oder mehr und immerhin noch 2% mehr als 10 Wirkstoffe. 

Strategien gegen Multimedikation hat Prof. Dr. Elke Roeb beim 129. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin vorgestellt [1]. Sie arbeitet bei der UKGM - Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH. 

Welche Erkrankungen führen zu Multimedikation?

Zum Hintergrund: Multimedikation ist im Wesentlichen auf einige wenige Krankheiten zurückzuführen. Allen voran ist es die koronare Herzerkrankung, die zu vielen Verschreibungen führt. Über 81% der Erkrankten erhalten 5 oder mehr Präparate. 23% der Betroffenen benötigen sogar 10 oder mehr Dauermedikamente. Aber auch Erkrankungen wie Demenz, Typ-2-Diabetes, COPD oder Osteoporose sind häufig Ursache für Multimedikation.

Multimedikation bei Personen mit Erkrankungen (alle AOK-Versicherten 2020), Quelle: Arzneimittel-Kompass

Gerade bei älteren Menschen liegen nicht selten Herzinsuffizienz, Demenz und Diabetes gleichzeitig vor. In diesem Fall könnten leitliniengerecht vielleicht 15 oder 20 Medikamente verordnet werden, so Prof. Dr. Elke Roeb bei ihrem Vortrag. Doch alles zu verordnen, was angezeigt ist, ist nicht die Lösung – und genau bei der Entscheidung nach der richtigen Auswahl der Medikamente soll die Leitlinie Multimedikation helfen.

Was tun, wenn viele verschiedene Erkrankungen vorliegen?

Um eine sinnvolle Auswahl an Wirkstoffen zu treffen, ist es wichtig, vorab ein Ziel zu setzen: Was ist dem Patienten wichtig? Welche der Erkrankungen verringern die Lebensqualität und die Lebenserwartung am stärksten? Hier sollte man ansetzen und entsprechend geeignete Präparate auswählen, ausprobieren und kontinuierlich überprüfen, welche Medikamente gegebenenfalls wieder abgesetzt werden können.

Wie arbeitsintensiv und zeitintensiv Multimedikation für Ärzte ist, zeigt das Schema aus dem Arzneimittelkompass:

Medikationsprozess laut Leitlinie Multimedikation. Quelle: Arzneimittelkompass 2022 (Quelle: Arzneimittelkompass 2022)

Dennoch gehöre die gewissenhafte Überprüfung des Medikationsplans laut Roeb zu den ärztlichen Pflichten, die sich nicht delegieren ließen. Die Referentin gibt anhand der Leitlinie einige Hilfestellungen, wie dies effizient und qualifiziert gelingt.

Die häufigsten Nebenwirkungen auf einen Blick

Für die qualifizierte Erstellung oder Überprüfung von Medikationsplänen ist es hilfreich, die häufigsten Nebenwirkungen zu kennen. Roeb zeigt in ihrem Vortrag, welche häufig verordneten Medikamente beispielsweise ein hohes anticholinerges Risiko mit sich bringen. Mithilfe dieser Übersicht können Ärzte vermeiden, Medikamente mit ähnlichem Nebenwirkungsprofil zu verordnen. Die Liste findet sich auch in der Leitlinie (siehe S. 57).

Die 2. häufige Nebenwirkung, die bei Polymedikation eine Rolle spielt, ist die Verlängerung der QT-Zeit. Werden in Summe mehrere Präparate verordnet, die eine QT-Zeit-Verlängerung mit sich bringen, lohnt es sich zu prüfen, ob sich einzelne Präparate durch Präparate mit einem anderen Nebenwirkungsprofil ersetzen lassen.

Praxistipps bei Polymedikation

Wie kommt es dazu, dass Multimedikation so häufig ist, obwohl Medikationspläne mittlerweile Pflicht sind? Laut Roeb liege dies kurz gesagt meistens an einer mangelnden Übersicht. Befristete Therapien werden oftmals nicht als solche gekennzeichnet oder Bedarfsmedikationen werden zur Dauertherapie.

Folgende Praxistipps können Ärzten dabei helfen, diese häufigen Probleme zu vermeiden:

Praxistipps zur Vermeidung häufiger Fehler, Quelle: Leitlinie Multimedikation (Quelle: Hausärztliche Leitlinie Multimedikation, AWMF-Registernummer: 053-043) 

Der Medikationsplan – Dreh- und Angelpunkt bei Multimedikation

Ein Medikationsplan sollte grundsätzlich vollständig sein und im bundeseinheitlichen Format erstellt werden. Die Koordination liegt in der Regel bei Hausärzten bzw. bei Ärzten, welche die Behandlung leiten. 

Ziel ist es, eine Über- oder Unterversorgung mit Medikamenten zu verhindern. Deshalb ist es im Zuge des Medikationsplans notwendig, die Einnahmevorschriften und die Adhärenz zu hinterfragen sowie Doppelverordnungen auf den Grund zu gehen. Prof. Roeb nennt wichtige Eckpunkte, die durch die Erstellung bzw. Prüfung eines Medikationsplans leiten:

  • Liegt ein aktueller und schriftlicher Einnahmeplan vor?

  • Sind die Einnahmevorschriften korrekt?

  • Sind die Handhabung und Anwendungsvorschriften praktikabel?

  • Bestehen Doppelverschreibungen?

  • Ist die Adhärenz zur Therapie gegeben?

  • Wird jede behandlungsbedürftige Indikation therapiert?

  • Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt?

Wichtig dabei: Einfach weiterverordnen, was einmal entschieden wurde, ist in der Praxis aus Zeitmangel keine Seltenheit – für Patienten aber problematisch. Laut der konsensbasierten Leitlinien-Empfehlung sollte mindestens 1-mal jährlich eine Medikationsüberprüfung erfolgen.

Fazit: Die Rücksprache mit Patienten ist zentral

Evidenzbasierte Empfehlungen in Abstimmung mit Patienten sollten immer mithilfe des Medikationsplans erfolgen und auch dort dokumentiert und umgesetzt werden. Ein zentraler Aspekt, der im Dialog immer wieder abgefragt werden sollte, ist der Erhalt der Lebensqualität. Was ist dem Patienten bzw. der Patientin wichtig? Was dient dem Erhalt der Funktionsfähigkeit? Das kann individuell sehr unterschiedlich sei – und entsprechend muss auch jeder Medikationsplan individuell gewichtet werden.

Hilfreiche Links

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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