Weißbuch Lunge: Alarmierende Zunahme von Lungenkrebs, COPD, Asthma, Lungenembolien und Schlafapnoe – was sich ändern muss 

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

2. Mai 2023

Das Weißbuch Lunge wartet mit alarmierenden Zahlen auf: Alle 4 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch an den Folgen einer Lungen- oder Atemwegserkrankung [1]. In den vergangenen Jahren stiegen die Inzidenzen bei

  • Asthma um 17%,

  • COPD um 8%,

  • Lungenkrebs um 33%,

  • Lungenembolien um 71% und bei

  • Schlafapnoe sogar um 92%.

Positiv zu vermerken ist ein Rückgang bei den Tuberkulose-Fällen um 6%, relativ stabil blieben im Untersuchungszeitraum die Fälle von Mukoviszidose und Lungenentzündung.

Das Weißbuch Lunge fasst die aktuellen Eckpunkte der häufigsten Lungenerkrankungen in Deutschland zusammen. Es erscheint seit 1996, zuletzt 2014, und wird von der Deutschen Lungenstiftung (DLS) und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) herausgegeben.

Grundlage für das Weißbuch Lunge ist eine deutschlandweite homogene Datenbasis von 8,8 Millionen Versicherten des Zeitraums 2010 bis 2019. Der umfangreiche, anonymisierte, von der Barmer Ersatzkasse zur Verfügung gestellte Datensatz, erlaubt eine sehr verlässliche Hochrechnung. Die Daten für Tuberkulose wurden durch das RKI ergänzt.

Neue Zahlen sind umfangreich und transparent

„Die Zahlen gab es zuvor in dieser Transparenz und in diesem Umfang noch nicht“, erklärt Prof. Dr. Winfried J. Randerath, einer der 3 Autoren des Weißbuchs und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP). Die Qualität der Daten für die aktuelle Auflage habe sich gegenüber der Version von 2014 signifikant verbessert, weil noch mehr und detailliertere Datenquellen verwendet werden konnten.

Die Zahlen gab es zuvor in dieser Transparenz und in diesem Umfang noch nicht. Prof. Dr. Winfried J. Randerath

 

„Diese umfassendere Datenbasis belegt eindeutig, dass die meisten Lungenerkrankungen häufiger auftreten“, ergänzt Randerath, Chefarzt und ärztlicher Direktor des Krankenhauses Bethanien in Solingen und Direktor des wissenschaftlichen Instituts für Pneumologie an der Universität zu Köln.

Die Verfasser erinnern daran, dass Atemwegsinfektionen für die Morbidität und Sterblichkeit eine maßgebliche Rolle spielen. Weltweit ist die Lebenserwartung durch die Corona-Pandemie gesunken. Wesentliche Defizite in der Forschung sind gerade in der Pandemie noch einmal deutlich geworden. Neben der unzureichenden Datenerfassung und fehlenden Digitalisierung wurden 3 Problemfelder offensichtlich: fehlende Präventionsstrategien, ein Mangel an antiinfektiven Substanzen und eine hohe Sterblichkeit - obwohl viele Infektionskrankheiten gut therapiert werden könnten.

In die aktuelle Auflage wurden Daten bis 2019 einbezogen. Die Weißbuch-Autoren gehen davon aus, dass sich mit dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie sehr wahrscheinlich einige Entwicklungen ergeben, die den aktuellen Trend verstärken könnten. „Die tatsächlichen Auswirkungen auf die stationäre und ambulante Versorgung werden wir erst vollständig im nächsten Weißbuch behandeln können. Die jetzt vorliegenden Zahlen bieten dafür einen zuverlässigen Ausgangspunkt“, sagt Mitautor Prof. Dr. Berthold Jany, ehemaliger Präsident der DGP, in einer Pressemitteilung der DGP.

Die tatsächlichen Auswirkungen auf die stationäre und ambulante Versorgung werden wir erst vollständig im nächsten Weißbuch behandeln können. Prof. Dr. Berthold Jany

Erheblicher Nachholbedarf bei Translation der Forschung in die Praxis

Die Zahlen zeigten auch, „dass es für die adäquate Behandlung von Atemwegs- und Lungenerkrankungen noch viel mehr Finanzierung braucht“, betont Mitautor Prof. Dr. Adrian Gillissen, Chefarzt der Medizinischen Klinik III an den Kreiskliniken Reutlingen. Das machen die Autoren des Weißbuchs mit einem Kapitel deutlich, das sich explizit der pneumologischen Forschung widmet. In den vergangenen Jahren hat sich viel getan. Nun komme es darauf an, die enormen technologischen Entwicklungen in der zellulären und molekularen Forschung für die Pneumologie zu nutzen.

Gleiches gelte im Bereich der Bildgebung mit der Möglichkeit, Veränderungen in immer kleineren Strukturen sichtbar zu machen, schreiben die Autoren. Ihrer Einschätzung nach kommt der Interaktion und Vernetzung verschiedener Bereiche der Forschung ein hoher Stellenwert zu, entsprechend müssen Netzwerkstrukturen ausgebaut und gefördert werden.

Die medizinische Forschung stehe aber immer unter der Prämisse, dass sie für Patientinnen und Patienten relevant ist und etwas verbessere. „Die Translation von Forschungsergebnissen in die Klinik ist das wesentliche Ziel pneumologischer Forschung. Und gerade in diesem Bereich gibt es in Deutschland erheblichen Nachholbedarf“, betonen die Autoren.

Die Translation von Forschungsergebnissen in die Klinik ist das wesentliche Ziel pneumologischer Forschung. Und gerade in diesem Bereich gibt es in Deutschland erheblichen Nachholbedarf. Prof. Dr. Winfried J. Randerath und Kollegen

 

Nachholbedarf besteht z.B. im Bereich Schlafmedizin, erinnert Randerath. „Es gibt sehr viele neue Erkenntnisse im Bereich der Schlafmedizin. Wir wissen beispielweise, was die Atmungsstörungen im Schlaf verursacht und welche Auswirkungen das hat. Auf der anderen Seite haben wir aber einen hohen Druck auf die Schlafmedizin, der die Situation verschlechtert, weshalb auf möglichst einfache Behandlungsmethoden fokussiert wird.

Zwischen den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir haben und der tatsächlichen Umsetzung in die Praxis besteht eine starke Differenz. Der Druck ist enorm hoch, die Patienten möglichst schnell, mit einfachen Methoden zu diagnostizieren und möglichst einfach und undifferenziert zu behandeln.“

Kein politisches Statement, aber die Zahlen zeigen den Handlungsbedarf

„Unser Weißbuch ist kein politisches Statement. Wir haben sehr viel Wert daraufgelegt, Zahlen vorzulegen. Und diese Zahlen sprechen für sich – daraus lässt sich ein deutlicher Handlungsbedarf ableiten“, erklärt Randerath. „Das Weißbuch Lunge stellt aus unserer Sicht jetzt eine Grundlage für die politischen Entscheidungsträger dar.

Diese Zahlen sprechen für sich – daraus lässt sich ein deutlicher Handlungsbedarf ableiten. Prof. Dr. Winfried J. Randerath

 

Unsere Hoffnung ist, dass das schiere Zahlenmaterial mit den schon sehr deutlichen Entwicklungen die politischen Entscheidungsträger dazu bringt, diese Themen ernst zu nehmen und aufzugreifen“, erklärt Randerath. Das umfangreiche Zahlenmaterial erlaubt z.B. auch eine bessere Kostenabschätzung für den stationären Sektor.

Natürlich haben Umweltfaktoren einen Einfluss auf die Entwicklung von Atemwegs- und Lungenerkrankungen. „Wir sollten alles tun – gesellschaftlich und individuell – um solche Umweltfaktoren so gering wie möglich zu halten“, betont Randerath. Beim Rauchen sei man schon auf einem sehr guten Weg gewesen und habe gute Erfolge erzielt. Leider gehe der Trend gerade wieder in die andere Richtung: Nachdem bis 2020 der Zigarettenkonsum bei 14- bis 17-Jährigen weniger geworden war, stieg er danach wieder an: 2021 rauchten 8,7% der Jugendlichen, 2022 waren es 15,9%.

Neben finanziellen Mitteln für die Rauchentwöhnung müssten Gesundheitsprojekte in Schulen, in Sportvereinen und in Kultureinrichtungen starten – „das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Randerath. „Dazu gehört auch eine breit angelegte gemeinsame Kampagne, die zeigt, dass Rauchen kein bisschen sexy ist, sondern nur schädlich und keine Vorteile bietet.“ In einem Positionspapier macht die DGP jetzt Vorschläge zur Finanzierung passender Programme, die während eines Klinikaufenthaltes beginnen und ambulant weitergeführt werden.

Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Prof. Dr. Winfried J. Randerath

 

Im Weißbuch Lunge haben die Autoren ganz bewusst auf politische Appelle oder Aussagen wie „unbedingt Feinstaub reduzieren“ u.a. verzichtet. „Aus unserer Sicht muss das Thema jetzt zu einem breiten gesellschaftlichen Diskurs werden, der die entsprechenden Schlussfolgerungen erlaubt“, schließt Randerath.

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Kommentar

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