„Wir haben schwer damit zu kämpfen“: Infektiologe berichtet von diagnostischen Problemen, aber auch Möglichkeiten bei Long-COVID

Dr. Amesh Adalja

Interessenkonflikte

28. April 2023

Dr. Amesh A. Adalja

Ärzte sind noch immer in einer schwierigen Lage, wenn es um die Diagnose und Behandlung von Patienten mit Long-COVID geht. Dr. Amesh A. Adalja ist Spezialist für Infektionskrankheiten, Intensivmedizin und Notfallmedizin in Pittsburgh und leitender Wissenschaftler am Johns Hopkins Center for Health Security in Baltimore, USA. Der Arzt beleuchtet die Situation, erklärt, welche Diagnosen ausgeschlossen werden sollten und was bei der Forschung über Long-COVID beachtet werden sollte:

Diesen Monat habe ich einen Patienten betreut, der sich vor Kurzem mit COVID-19 infiziert hatte und über Brustschmerzen geklagt hat. Nachdem ich einen Herzinfarkt, eine Lungenembolie und eine Lungenentzündung ausgeschlossen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass das Symptom auf die COVID-19-Infektion zurückzuführen war.

Schmerzen in der Brust sind ein häufiges und anhaltendes Symptom nach einer COVID-19-Infektion. Aufgrund des geringen Wissens über diese postakute Symptomatik konnte ich meinen Patienten aber nicht darüber informieren, wie lange seine Brustschmerzen anhalten würden, weshalb er daran litt oder was die eigentliche Ursache dafür war.

 
Long-COVID ist Realität, aber es gibt jede Menge Zusammenhänge, die in vielen Diskussionen dazu ausgeblendet werden. Dr. Amesh A. Adalja
 

Das ist derzeit der Stand des Wissens zu Long-COVID. Dieses Informationsvakuum ist der Grund dafür, dass wir Ärzte uns schwertun und in einer schwierigen Lage sind, wenn es um die Diagnose und Behandlung von Patienten mit Long-COVID geht.

Fast täglich werden neue Studien zu Long-COVID und seine gesellschaftlichen Auswirkungen veröffentlicht. In diesen Arbeiten werden häufig verschiedene Angaben über die Prävalenz dieser Erkrankung, ihre Dauer und ihr Ausmaß gemacht. Viele dieser Studien liefern aber kein vollständiges Bild – und schon gar nicht, wenn sie von der Laienpresse interpretiert und zum Clickbaiting genutzt werden.

Long-COVID ist Realität, aber es gibt jede Menge Zusammenhänge, die in vielen Diskussionen dazu ausgeblendet werden. Diese Krankheit zu entschlüsseln und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, ist wichtig, um Long-COVID zu verstehen. Denn das ist entscheidend für Ärzte, die Patienten mit entsprechenden Symptomen behandeln.

Long-COVID: Was ist das?

Die Centers of Disease Control and Prevention (CDC) betrachten Long-COVID als Oberbegriff für „gesundheitliche Folgen“, die mindestens 4 Wochen nach einer akuten Infektion auftreten. Beschrieben werden kann dieser Zustand als „fehlende Wiederherstellung des normalen Gesundheitszustands nach COVID-19-Infektion“, so die CDC.

Die häufigsten Symptome sind:

  • Müdigkeit,

  • Kurzatmigkeit,

  • Belastungsintoleranz,

  • „Gehirnnebel“,

  • Brustschmerzen,

  • Husten und

  • Geschmacks-/Geruchsverlust.

Beachten Sie, dass die Symptome nicht so schwerwiegend sein müssen, dass sie die Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigen – es reicht aus, dass diese Symptome vorhanden sind.

Es gibt keinen diagnostischen Test oder spezifische Kriterien, die die Diagnose Long-COVID bestätigen. Daher sind die oben genannten Symptome und Definitionen vage und machen es schwer, die Prävalenz der Krankheit zu beurteilen. Je nach Studie liegen die unterschiedlichen Schätzungen zwischen 5% und 30%.

 
Es gibt keinen diagnostischen Test oder spezifische Kriterien, die die Diagnose Long-COVID bestätigen. Dr. Amesh A. Adalja
 

Es ist unwahrscheinlich, dass bei einer Routine-Blutuntersuchung oder Bildgebung bei diesen Patienten irgendwelche Anomalien gefunden werden. Einige Betroffene erfüllen allerdings die Diagnosekriterien des posturalen orthostatischen Tachykardiesyndroms (POTS). POTS ruft Kreislaufstörungen hervor, die besonders beim Aufstehen auftreten.

Wie kann man Long-COVID von anderen Zuständen unterscheiden?

Bei der Untersuchung eines Patienten mit Long-COVID sollten einige wichtige Bedingungen ausgeschlossen werden.

  • Erstens sollte jede nicht diagnostizierte Erkrankung oder Veränderung einer Grunderkrankung, die die Symptome erklären könnte, in Betracht gezogen und ausgeschlossen werden.

  • Zweitens ist es wichtig zu berücksichtigen, dass diejenigen, die aufgrund von COVID-19 auf der Intensivstation behandelt werden mussten, nicht mit denjenigen Patienten in einen Topf geworfen werden sollten, die eine unkomplizierte COVID-19-Infektion aufwiesen, die keine medizinische Behandlung erfordert hatte.

Hintergrund dafür ist das sogenannte Post Intensive Care Syndrom (PICS). PICS ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen, die sich infolge eines Intensivaufenthalts entwickeln und wahrscheinlich das Ergebnis vieler Faktoren, die bei Intensivpatienten häufig auftreten. Charakteristisch sind:

  • Immobilität,

  • eine starke Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus,

  • die Einnahme von Beruhigungsmitteln sowie

  • eine schwere Grunderkrankung.

Es ist nicht zu erwarten, dass sich diese Personen schnell erholen, und je nach Art ihrer Erkrankung können sie noch jahrelang gesundheitliche Probleme haben. Sie weisen sogar eine erhöhte Sterblichkeitsrate auf.

 
Es besteht die Gefahr, dass Long-COVID mit PICS und Post-Hospital-Syndrom verwechselt werden. Dr. Amesh A. Adalja
 

Dasselbe gilt, in geringerem Maße, für Krankenhauspatienten, bei denen das Post-Hospital-Syndrom ein erhöhtes Risiko für anhaltende Symptome mit sich bringt. Das bedeutet nicht, dass Long-COVID bei schwerer erkrankten Patienten nicht vorkommt, sondern nur, dass Long-COVID davon abgegrenzt werden muss.

In der Definition der CDC und in vielen Studien wird diese wichtige Unterscheidung nicht getroffen. Es besteht deshalb die Gefahr, dass Long-COVID mit PICS und Post-Hospital-Syndrom verwechselt werden.

Kontrollgruppen in Studien sind entscheidend

Wichtig für das Verständnis von Long-COVID ist, dass die Studien dazu mit Kontrollgruppen durchgeführt werden. Darin werden Probanden, die an COVID-19 erkrankt sind, direkt mit Probanden verglichen, die nicht daran erkrankt waren. Ein Studiendesign mit Kontrollgruppe ermöglicht es den Forschern, die Auswirkungen von COVID-19 zu isolieren und sie von anderen Faktoren zu trennen, die bei den Symptomen ebenfalls eine Rolle spielen könnten.

 
Wichtig für das Verständnis von Long-COVID ist, dass die Studien dazu mit Kontrollgruppen durchgeführt werden. Dr. Amesh A. Adalja
 

Eine bemerkenswerte Studie hat gezeigt, dass die Prävalenz von Long-COVID-Symptomen bei denjenigen, die COVID-19 hatten, vergleichbar war mit der Prävalenz derjenigen, die glauben, an COVID-19 erkrankt zu sein.

Identifizierung von Risikofaktoren

Mehrere Studien deuten darauf hin, dass bestimmte Personen unter den Long-COVID-Patienten überrepräsentiert sein könnten. Zu diesen Risikogruppen für Long-COVID zählen:

·       Frauen,

·       ältere Menschen,

·       Menschen mit psychiatrischen Vorerkrankungen (Depressionen/Angstzustände) und

·       Menschen mit Übergewicht.

Zu den weiteren Faktoren, die mit Long-COVID in Verbindung gebracht werden, gehören:

·       die Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus (EBV),

·       abnorme Cortisolspiegel und

·       eine hohe Viruslast von SARS-CoV2 während der akuten Infektion.

Zwar hat keiner dieser Faktoren nachweislich eine kausale Rolle gespielt, aber sie sind Hinweise auf eine zugrunde liegende Ursache. Es ist aber nicht klar, ob Long-COVID monolithisch ist – es kann Subtypen oder mehr als eine Erkrankung geben, die den Symptomen zugrunde liegt.

Schließlich scheint Long-COVID auch nur mit einer Infektion durch die Nicht-Omikron-Varianten verbunden zu sein.

Die Rolle von Virostatika und Impfstoffen

Es hat sich gezeigt, dass Impfstoffe das Risiko von Long-COVID verringern, aber nicht völlig ausschließen. Dies ist ein Grund, warum Personen mit niedrigem Risiko von der COVID-Impfung profitieren. Einige haben auch über einen therapeutischen Nutzen der Impfung bei Patienten mit Long-COVID berichtet.

Es gibt auch Hinweise darauf, dass Virostatika das Long-COVID-Risiko verringern können, vermutlich über die Beeinflussung der Viruslast-Kinetik. Bei der Entwicklung neuerer Virostatika ist es wichtig, nicht nur ihre Rolle bei der Prävention schwerer Erkrankungen zu berücksichtigen, sondern auch bei der Senkung des Risikos der Entwicklung anhaltender Symptome. Auch andere entzündungshemmende Medikamente und Arzneimittel wie Metformin könnten eine Rolle spielen.

Long-COVID und andere Infektionskrankheiten

Die Anerkennung von Long-COVID hat viele zu der Frage veranlasst, ob eine ähnliche Symptomatik auch bei anderen Infektionskrankheiten auftritt. Denjenigen, die in meinem Fachgebiet der Infektionskrankheiten arbeiten, werden routinemäßig Patienten mit anhaltenden Symptomen nach Borreliose oder nach infektiöser Mononukleose überwiesen.

Auch Patienten mit Influenza können nach ihrer Genesung noch wochenlang husten. Und sogar Ebola-Patienten können anhaltende Symptome aufweisen, wobei dies aufgrund der Schwere der meisten Ebola-Infektionen schwierig einzuschätzen ist.

Einige Experten vermuten, dass die individuelle Immunreaktion die Entwicklung der postakuten Symptome beeinflussen kann. Die Tatsache, dass so viele Menschen auf einmal an COVID-19 erkrankten, ließ ein seltenes Phänomen, das bei vielen Infektionsarten schon immer vorhanden war, deutlicher hervortreten.

Wie es weitergehen soll: Eine Forschungsagenda

Bevor man etwas Definitives über Long-COVID sagen kann, müssen grundlegende wissenschaftliche Fragen beantwortet werden.

Ohne ein Verständnis der biologischen Grundlagen von Long-COVID ist es unmöglich, eine Diagnose zu stellen, Behandlungsschemata zu entwickeln oder eine Prognose zu stellen (auch wenn die Symptome mit der Zeit zu verschwinden scheinen).

Kürzlich wurde gesagt, dass die Entschlüsselung der Besonderheiten von Long-COVID zu vielen neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des Immunsystems führen wird. Das ist eine aufregende Aussicht, die die Wissenschaft und das Wissen um die menschliche Gesundheit voranbringen wird.

Mit diesen Informationen werden wir Ärzte, wenn wir das nächste Mal einen Patienten – wie den von mir beschriebenen – sehen, besser in der Lage sein, ihm zu erklären, warum er solche Symptome hat, Behandlungsempfehlungen zu geben und eine Prognose zu stellen.“

Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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