Wie treffen wir Entscheidungen? Warum kommt es zu Urteilsfehlern, und wie können wir diese vermeiden? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt Peter Jungblut in seinem Buch „Entscheidungswissen für Ärztinnen und Ärzte“, das im Sommer auf den Markt kommen soll. Hier finden Sie einen Auszug mit ein paar hilfreichen Tipps für den Arztalltag.
Geniale Helfer Heuristiken
Da unsere Informationsbasis meist unvollständig ist und die Beschaffung zusätzlicher Informationen zeitliche und finanzielle Ressourcen verbraucht, greifen wir beim Treffen von Entscheidung in vielen Fällen auf Heuristiken zurück – in der Regel, ohne dass uns das bewusst ist. Heuristiken sind eine Art neuronale Daumenregeln, die auf gelernten Erfahrungen basieren – eine geniale Erfindung der Evolution. Sie helfen uns, im Alltag auf einer fragilen Informationsbasis innerhalb kurzer Zeit hinreichend gute Entscheidungen zu treffen.
Der amerikanische Psychologe Arthur Elstein, der sich sein gesamtes Forscherleben mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie Ärzte Entscheidungen treffen, schreibt in der Publikation „Clinical problem solving and diagnostic decision making: selective review of the cognitive literature“ im BMJ :
„Es ist wahrscheinlich, dass erfahrene Ärzte nur bei schwierigen Fällen eine hypothetisch-deduktive Strategie anwenden und dass das klinische Denken eher eine Frage des Erkennens von Mustern oder des direkten automatischen Abrufs ist.“
4 Heuristiken, die man kennen sollte
Was Elstein hier beschreibt, wird als Repräsentativitätsheuristik beschrieben. Aber diese Entscheidungsmethode ist nicht die einzige, die auf dem Weg zu einer Diagnosestellung eine Rolle spielt. Abbildung 1 gibt einen Überblick über 4 Heuristiken, die Ärztinnen und Ärzte unbedingt kennen sollten.

Abb. 2: Urteilsfehler, ein Überblick (Foto: © Peter Jungblut)
Abb. 1: Urteilsheuristiken im Prozess der Diagnosestellung (Foto: © Peter Jungblut)
Auf der einen Seite ist die Nutzung von Heuristiken bei medizinischen Entscheidungen im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen unerlässlich. Auf der anderen Seite bergen Heuristiken das Risiko von Urteilsfehlern. Auch erfahrene Mediziner gehen Urteilsfehlern auf den Leim. Dazu schreibt der bereits erwähnte Elstein in der gleichen Publikation:
„Es ist möglich, Daten gründlich zu erheben und dennoch einige Ergebnisse zu ignorieren, misszuverstehen oder falsch zu interpretieren, aber es ist auch möglich, dass ein Arzt bei der Datenerhebung zu sparsam ist und dennoch die verfügbaren Daten richtig interpretiert. Genauigkeit und Gründlichkeit sind analytisch trennbar“.
Anzahl falscher Diagnosen zwischen 2 und 15%
Die Schätzungen über die Anzahl falscher Diagnosen gehen weit auseinander. Verlässliche Zahlen liegen nicht vor. Eine der interessantesten Arbeiten dazu stammt von den amerikanischen Medizinern Eta Berner und Mark Graber. Nach der Auswertung zahlreicher Studien über falsche Diagnosen schwankt die Häufigkeit nach ihren Angaben, je nach Fachbereich, zwischen 2 und 12%. Elstein schätzt die Fehlerquote auf 15%.
Einig sind sich die Forscher, dass kognitive Verzerrungen der häufigste Grund dafür sind. Ein typischer Urteilsfehler bei der Anwendung der Repräsentativitätsheuristik ist die „Vernachlässigung der Baserate“. Ein häufig in der Literatur zitiertes Beispiel für diesen Urteilsfehler ist das sogenannte „Petra-Problem“.
Das „Petra-Problem“
Petra ist 39 Jahre alt. Bei ihr wurde im Rahmen einer Mammografie Brustkrebs festgestellt. In ihrer Altersklasse liegt die Häufigkeit dieser Erkrankung bei etwa 0,1% (Basisrate). Mit dieser Information und der zusätzlichen Information, dass der Test in etwa 5% der Fälle zu einem falsch-positiven Ergebnis führt, konfrontierten Casscells et al. im Jahr 1978 Mitarbeiter und Studenten der Harvard Medical School. Sie wurden gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass Petra tatsächlich Brustkrebs hat.
45% der Probanden gaben als Antwort 95% Wahrscheinlichkeit für den Krebs an (darunter auch praktizierende Mediziner). Nur 18% der Versuchspersonen gaben die korrekte Antwort. Das Experiment wurde im Jahr 2014 mit einem ähnlichen Ergebnis wiederholt.
Die Urteilsfehler kann man in 3 Kategorien einteilen. Abbildung 2 zeigt diese Kategorien und weist gleichzeitig für jede Kategorie exemplarisch einige konkrete und gut erforschte Urteilsfehler auf.

Abb. 2: Urteilsfehler, ein Überblick (Foto: © Peter Jungblut)
6 Lösungsansätze
Die wissenschaftlichen Fachgebiete, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Menschen Entscheidungen treffen und welchen Urteilsfehlern sie dabei auf den Leim gehen, sind die Verhaltensökonomik und die kognitive Psychologie. Sie haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Forschungsergebnissen hervorgebracht, aus denen sich auch effektive Strategien zur Vermeidung von Urteilsfehlern beim Entscheiden ableiten lassen.
Auch der kanadische Mediziner Pat Croscarry bietet in einem Beitrag für die Zeitschrift Academy of Medicine Lösungsansätze:
Bewusstsein für Urteilsfehler entwickeln:
Tragen Sie ausführliche Beschreibungen und gründliche Charakterisierungen bekannter kognitiver Störungen zusammen mit mehreren klinischen Beispielen, die deren negative Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung und Diagnoseformulierung veranschaulichen.Alternativen „erzwingen“:
Erzwingen Sie die Berücksichtigung alternativer Möglichkeiten, z.B. das Erstellen und Durcharbeiten von Differenzialdiagnosen. Stellen Sie routinemäßig zu jedem Zeitpunkt des Entscheidungsprozesses die Frage: Was könnte das sonst sein?Metakognition:
Trainieren Sie einen reflektierenden Ansatz zur Problemlösung: Treten Sie vom unmittelbaren Problem zurück, um den Denkprozess zu untersuchen und zu reflektieren.Nutzen Sie Tools:
Verbessern Sie die Genauigkeit von Urteilen durch kognitive Hilfen, wie z.B. Merksätze, Leitfäden, Algorithmen. Reduzieren Sie Ihr Vertrauen in Ihr Gedächtnis und Ihre Intuition.Simulation:
Entwickeln Sie Strategien zum mentalen Üben / „kognitiven Durchgehen“ von spezifischen klinischen Szenarien, um kognitive Verzerrungen zu provozieren und deren Folgen zu beobachten.Feedback:
Geben Sie den Entscheidungsträgern ein möglichst schnelles und zuverlässiges Feedback, damit Fehler sofort erkannt, verstanden und korrigiert werden, was zu einer besseren Kalibrierung der Entscheidungsträger führt. Holen Sie auch für sich selbst Feedback ein.
Weitere Fälle aus der Praxis gesucht
Das Buch „Entscheidungswissen für Ärztinnen und Ärzte“ verbindet das theoretische Wissen der Entscheidungsforschung mit der Praxis von Medizinerinnen und Medizinern. Es lebt von Fallbeispielen, anhand derer die beschriebenen Entscheidungsmodelle und Urteilsfehler diskutiert werden. Daher sucht Peter Jungblut weitere Fallbeispiele für sein Buch. Grundsätzlich eignen sich nicht nur Kasuistiken, bei denen offensichtlich eine falsche Diagnose gestellt wurde, sondern auch solche, wo verschiedene Differenzialdiagnosen in Betracht gezogen wurden und es schwer war, die richtige Entscheidung zu treffen.
Das Exposé des Buches finden Sie auf der Website www.hcprof-consulting.de. Wenn Sie mit einer Kasuistik zum Erfolg des Buches beitragen wollen, können Sie Peter Jungblut über peter@jungblut.marketing kontaktieren. Er stellt Ihnen das Manuskript zur Verfügung und bespricht alle weiteren Schritte.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Wie kommt es zu Urteilsfehlern und Fehlentscheidungen – und wie lassen sie sich vermeiden? - Medscape - 26. Apr 2023.
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