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Die Schaufensterkrankheit wird unterschätzt – vor allem bei Frauen! Warum pAVK-Patientinnen schlechter versorgt werden als Männer

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

24. April 2023

Der Krankheitswert der manchmal verharmlosend als „Schaufensterkrankheit“ bezeichneten pAVK wird generell unterschätzt. Dass das erst recht für Frauen gilt, darauf macht jetzt der Review „A hidden problem: peripheral artery disease in women“ aufmerksam. Studienautorin Dr. Mary M. Kavurma vom Heart Research Institute der Universität Sydney und Kollegen fordern, neben biologischen Ursachen von Geschlechtsunterschieden auch sozial konstruierte Geschlechterrollen und -beziehungen stärker zu berücksichtigen.

 
Das ist dramatisch, denn diese Substanzen reduzieren das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse deutlich. Dr. Lena Makowski
 

Medscape hat sich mit Dr. Lena Makowski, Wissenschaftlerin in der Kardiologie und Angiologie am Universitätsklinikum Münster, darüber unterhalten, weshalb bei Frauen eine pAVK seltener diagnostiziert und seltener den Leitlinien entsprechend behandelt wird. Makowski hat in ihrer im Februar 2022 publizierten Studie geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Behandlung der pAVK in vorangeschrittenem Stadium der kritischen Extremitätenischämie untersucht.

Medscape: Die Aufforderung, Frauen bei pAVK mehr in den Blick zu nehmen ist ja nicht neu. 2012 hatte die American Heart Association (AHA) mit einem Call to Action dazu aufgerufen, die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten bei pAVK in den Fokus zu nehmen. Inwieweit ist das passiert?

Dr. Lena Makowski © UKM Jean-Marie Tronquet

Makowski: Über die Jahre konnte man eine leichte Verbesserung sehen, aber die Situation ist nach wie vor unbefriedigend. In unserer Arbeit haben wir uns die Medikamenten-Verschreibung über die Jahre angeschaut. Da sieht man, dass die Verschreibungsraten zunehmen und dass sich die Medikamenten-Verschreibungen zwischen Männern und Frauen zumindest teilweise angleichen. Dennoch nimmt jeder 2. pAVK-Patient kein Statin, und jeder 3. keinen Blutverdünner – betrachtet man allein die Frauen, sind es noch weniger. Das ist dramatisch, denn diese Substanzen reduzieren das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse deutlich.

Medscape: Die Ergebnisse Ihrer Studie zeigen, dass Frauen auch zu Beginn des Klinikaufenthalts seltener die von den Leitlinien empfohlenen Medikamente erhielten. Bei den Statinen war das Verhältnis 35% zu 43%, bei den antithrombotischen Therapien 48% zu 53%. Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb das so ist?

Makowski: Die Erklärungen basieren bislang hauptsächlich auf Vermutungen. Frauen weisen bei pAVK eher atypische Symptome auf. Man vermutet, dass Frauen aufgrund dessen gar nicht als kardiovaskuläre Risikopatienten gesehen werden. Es ist ja erst in den letzten Jahren in den Fokus gerückt, dass Frauen auch bei anderen kardiovaskulären Erkrankungen ganz andere Symptome aufweisen als Männer.

Vermutet wird auch, dass Frauen möglicherweise nicht so viele Medikamente nehmen wollen, da sie häufig weitere Komorbiditäten aufweisen, beispielsweise an Nierenerkrankungen und Vorhofflimmern leiden und ohnehin schon eine ganze Palette von Medikamenten bekommen. Da sind manche Ärzte vielleicht unsicher jetzt noch eine weitere, zusätzliche Tablette zu verschreiben. Es handelt sich dabei aber um Vermutungen, hier fehlt es noch an Forschung, speziell an genderspezifischer Forschung, um herauszufinden, weshalb Frauen schlechter versorgt sind als Männer.

 
Hier fehlt es noch (…) speziell an genderspezifischer Forschung, um herauszufinden, weshalb Frauen schlechter versorgt sind als Männer. Dr. Lena Makowski
 

Erschwerend kommt bei der pAVK hinzu, dass die Patienten ohnehin schlecht versorgt sind. Die Erkrankung pAVK wird häufig nachrangig eingestuft, nach dem Motto: „das sind ja nur die Beine“. Dass aber gerade die pAVK so hohe Komplikationsraten aufweist und dass das Mortalitätsrisiko so hoch ist, das wird jetzt erst in den letzten Jahren thematisiert.

Die Prävalenz der pAVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit) wird in Deutschland mit bis zu 10% angegeben, bei Menschen über die 70 liegt sie zwischen 15 und 20%. Mit pAVK ist ein 3-fach erhöhtes Risiko für einen Myokardinfarkt und ein 4-fach erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall verbunden, die 5-Jahres-Mortalität bei Patienten mit pAVK liegt bei 20%.

Medscape: Sie sagen, dass pAVK bei Frauen eher atypische Symptome aufweisen. Welche sind das?

Makowski: Frauen mit pAVK berichten häufiger über atypische Beinschmerzen bei Belastung und in Ruhe und weisen häufig eine größere Gehbehinderung auf. Neben einer schlechteren Beinkraft bei Frauen und einer höheren Prävalenz an Spinalkanalstenosen, leiden Frauen auch häufiger an Depressionen, die zu einer schlechteren Funktionsfähigkeit der unteren Extremitäten im Vergleich zu den Männern mit pAVK beitragen können.

Medscape: Sind Frauen mit pAVK – verglichen mit Männern – auch häufiger asymptomatisch?

Makowski: Ja, Frauen haben häufig längere asymptomatische Phasen. Man könnte schon nachweisen, dass eine pAVK vorhanden ist, aber die Patienten haben noch keine Symptome. Und zeigen sie Symptome, ist das teilweise auch keine typische Claudicatio intermittens. Man vermutet, dass Frauen deshalb häufiger Fehldiagnosen erhalten. Sie gehen zum Arzt und der stuft die Symptome eher als muskulär oder skelettal bedingt ein. Das führt dazu, dass Frauen häufig erst im vorangeschrittenen Stadium der kritischen Extremitätenischämie diagnostiziert werden.

Medscape: Gehen Frauen auch später zum Arzt als Männer?

Makowski: Ja, eine Studie von McDermott et al. konnte zeigen, dass Frauen häufig später zum Arzt gehen. Vielleicht sind Frauen leidensfähiger, nehmen ihre Symptome nicht so ernst, oder nehmen eher als Männer hin, dass sie z.B. nicht mehr so gut laufen können. Es gibt dazu verschiedene Vermutungen aber warum das so ist, weiß man noch nicht.

Medscape: Wenn sich eine pAVK bei Frauen häufig nicht mit klassischen Symptomen äußert oder asymptomatisch ist – wie kann man diese Patienten entdecken?

Makowski: Eine gute Maßnahme ist, den Knöchel-Arm-Index (ABI, Ankle Brachial Index) zu messen. Dabei misst man den Unterschied des Blutdrucks an Arm und Bein. Das Messen des ABI ist nicht-invasiv, kostengünstig und geht recht schnell. Würde dies gemacht, könnten wir viel mehr Patienten früher diagnostizieren.

Das Problem: Diese Messung wird in den Gefäßpraxen vergütet, in den Hausarztpraxen hingegen nicht. Auch deshalb schaffen das viele Hausärzte zeitlich und personell gar nicht. Da sich aber der weitaus größte Teil der Patienten mit etwaigen Beschwerden beim Hausarzt vorstellt, ist das ein Problem für die Diagnostik.

 
Wir würden uns wünschen, dass ABI-Messungen regelmäßig gerade für Risikopatienten durchgeführt werden oder dass Patienten generell ab einem bestimmten Alter gescreent werden. Dr. Lena Makowski
 

Wir würden uns wünschen, dass ABI-Messungen regelmäßig gerade für Risikopatienten durchgeführt werden oder dass Patienten generell ab einem bestimmten Alter gescreent werden. Ein solches Screening wäre – verglichen mit der KHK, deren Diagnose mittels Katheteruntersuchung gesichert werden muss – für die pAVK sehr einfach umzusetzen.

Medscape: In ihrer Studie waren die weiblichen Patienten älter und erhielten seltener die in den Leitlinien empfohlenen Medikamente. Dennoch wiesen sie in der Nachbeobachtung ein besseres Gesamtüberleben und ein besseres amputationsfreies Überleben auf. Wie ist das zu erklären?

Makowski: Dass Frauen ein besseres Gesamtüberleben und amputationsfreies Überleben aufweisen könnte hormonell bedingt sein, das wird vermutet. In unserer Studie hatten mehr Frauen endovaskuläre Interventionen, die nicht so invasiv wie ein offener chirurgischer Eingriff waren.

Man muss sich aber klar machen: Auch wenn Frauen im Vergleich zu den Männern ein etwas besseres Gesamtüberleben aufweisen, sind die Zahlen immer noch dramatisch. Denn auch die Mortalitätsraten der Frauen sind immer noch sehr hoch. Wenn wir jetzt die Frauen noch den Leitlinien entsprechend behandeln, können wir die Mortalitätsraten und die Amputationsraten weiter senken.

Medscape: In der oben genannten Studie plädieren Kavurma und Kollegen dafür, dass neben biologischen Ursachen von Geschlechtsunterschieden auch sozial konstruierte Geschlechterrollen und -beziehungen stärker berücksichtigt werden sollten, um Frauen mit pAVK besser zu versorgen. Wie sehen Sie das?

Makowski: Es ist sehr wichtig nicht nur das biologische Geschlecht, sondern auch andere Faktoren wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft, das Bildungsniveau etc. zu berücksichtigen. Für unsere Studie haben wir Krankenkassendaten aus Deutschland ausgewertet, deshalb können wir zur Rolle der Frau keine Aussage treffen.

Doch wie ist z.B. die Situation in Low Income Countries? Haben Frauen dort überhaupt die Möglichkeit zum Arzt zu gehen? Können sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen, um zum Arzt zu gelangen? Ist ihre gesellschaftliche Rolle so definiert, dass sie eher zuhause bleiben? Da ist noch sehr viel genderspezifische Forschung nötig.

 
Der Frauenanteil in kardiovaskulären Studien liegt derzeit bei einem Viertel bis einem Drittel, ist also noch viel zu gering. Dr. Lena Makowski
 

Wichtig ist auch, dass mehr Frauen an randomisierten klinischen Studien teilnehmen. Der Frauenanteil in kardiovaskulären Studien liegt derzeit bei einem Viertel bis einem Drittel, ist also noch viel zu gering. Das Verhältnis sollte ausgeglichen sein, um irgendwann nicht nur generalisierte, sondern auch geschlechtsspezifische Empfehlungen für unsere Patienten geben zu können.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

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