Bei asymptomatischen Kindern können die frühen Hinweise auf eine multiple Sklerose in der Bildgebung leicht übersehen werden. Dies geht aus einer kürzlich in Multiple Sclerosis and Related Disorders veröffentlichten Studie hervor, nach der die aktuellen diagnostischen Kriterien für diese neuromuskuläre Erkrankung geändert werden müssen [1].
Aufgrund dieser Ergebnisse können Kinder, anders als Erwachsene, möglicherweise als MS-gefährdet eingestuft werden, auch wenn sie nicht die aktuell geltenden klinischen Standardkriterien erfüllen.
„Diese wichtige Studie bestätigt, dass manche Kinder ohne Symptome einer demyelinisierenden Erkrankung dennoch MRT-Befunde haben können, die auf eine solche Demyelinisierung hindeuten“, so Dr. Naila Makhani, die Professorin für Pädiatrie und Neurologie an der Yale School of Medicine und Leiterin des Yale Pediatric Neuroimmunology Program in New Haven, Connecticut ist und nicht an der Studie beteiligt war.
Das Wissenschaftsteam untersuchte die MRT-Aufnahmen von 38 Kindern zwischen 7 und 17 Jahren, die ein radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) zeigten, das als mögliche Vorstufe einer MS gilt.
Das RIS zeichnet sich wie die MS durch eine Zerstörung des Myelins aus, ist jedoch in der Regel asymptomatisch.
Obwohl das RIS mit der MS in Verbindung gebracht wird, bedeutet eine solche Diagnose nicht, dass eine Person auch an MS erkrankt. Allerdings haben frühere Studien gezeigt, dass mindestens 3% der MS-Fälle vor dem 16. Lebensjahr auftreten.
Bei den Kindern aus der Studie wurden die MRT-Untersuchungen wohl aufgrund von Kopfschmerzen oder nach der Diagnose einer Gehirnerschütterung durchgeführt, erklärten die Forschenden. Es gab keine körperlichen Symptome in Richtung einer MS und es wurden weder McDonald- noch Barkhof-Kriterien erfüllt, die als klinische Standards in der MS-Diagnostik bei Erwachsenen und Kindern gelten.
Klinischer Schub nach RIS-Diagnose bei einem Drittel der untersuchten Kinder
Innerhalb von im Mittel 3 Jahren nach der RIS-Diagnose erlitten fast 36% der Kinder einen klinischen Schub, der zur MS-Diagnose führte. Fast 3 Viertel der Kinder entwickelten weitere Läsionen im zerebralen und medullären Myelin, die im MRT sichtbar waren.
Eine MS wird häufig erst diagnostiziert, wenn eine Person einen klinischen Schub mit z.B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen, Entzündungen oder starker Müdigkeit erlitten hat. „Wird das Potenzial der Krankheit früher erkannt, kann möglicherweise auch früher behandelt werden“, sagt Dr. Leslie Benson, stellvertretende Leiterin der Abteilung für pädiatrische Neuroimmunologie am Massachusetts General Hospital und Mitautorin der Studie.
„Die Frage lautet: Sollten wir eine präsymptomatische MS behandeln? Wenn wir die Möglichkeit haben, mit sicheren Medikamenten spätere Beeinträchtigungen zu verhindern und die Langzeitergebnisse zu verbessern, lautet unsere Antwort ja.“
Frühere MS-Diagnose wäre durch Anpassung der Diagnose-Kriterien möglich
Nach Ansicht von Benson und ihrem Team könnte eine Anpassung der McDonald- oder Barkhof-Kriterien für Kinder bei der Erkennung einer RIS helfen und eine frühere MS-Diagnose ermöglichen.
„Wir wissen leider nicht genau, wann eine MS beginnt“, sagt Benson. „Wenn man nicht zufällig über eine MRT-Aufnahme verfügt oder Symptome vorliegen, kann man nicht wissen, wie lange sich die Läsionen schon entwickelt haben und wie lange der Krankheitsverlauf, der zu diesen Läsionen geführt hat, bereits andauert.“
„MRT-Aufnahmen von Hirnstamm- und Rückenmarkläsionen bei Kindern unterscheiden sich offenbar von den Bildern, die man typischerweise bei Erwachsenen sieht“, sagt Dr. Tanuja Chitnis, Direktorin des Mass General Brigham Pediatric MS Center in Boston und zugleich Koautorin der Studie.
Ab wann behandeln?
„Viele Ärzte und Ärztinnen fragen sich, ob wir nicht bei den ersten Anzeichen einer MS behandeln sollten“, so Chitnis. „Wir müssen die Situation, in der die Krankheit wahrscheinlich biologisch beginnt, bei Kindern und vor allem Jugendlichen besser verstehen.“
Benson sagte, dass die derzeitigen diagnostischen Kriterien bei der kindlichen MS recht hochschwellig seien, wodurch sich die Diagnose nur auf diejenigen beschränken könnte, deren Krankheit bereits fortgeschritten sei.
„Dies kann dazu führen, dass Personen mit einem erhöhten MS-Risiko übersehen werden. Die Frage, bei wem ein RIS diagnostiziert wird und welche Kriterien für eine genaue RIS-Diagnose geeignet sind, ist wirklich wichtig.“
Derzeit besteht die Herausforderung darin, die Merkmale von Personen mit RIS zu untersuchen, die später einen klinischen Schub erleiden.
„Wir müssen noch besser verstehen, welche Kriterien erfüllt sein müssen und wie wir das Risiko der Patienten am besten klassifizieren“, sagte Benson weiter. „Wenn die Behandlung von präsymptomatischen Fällen empfohlen wird, können wir am besten eine Einordnung vornehmen und verhindern, dass wir Nicht-Risikopersonen übertherapieren.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Diego Vito Cervo
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Vorstufe von MS bei Kindern: Radiologisch isoliertes Syndrom rechtzeitig erkennen – ab wann sollte man therapieren? - Medscape - 18. Apr 2023.
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