Mannheim – Bei der Cholesterinsenkung bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen ist noch reichlich Luft nach oben: Schon die Ergebnisse der DA-VINCI-Studie hatten eine deutliche Diskrepanz zwischen den LDL-Cholesterin-Zielwerten in den ESC/EAS-Leitlinien (European Society of Cardiology/European Atherosclerosis Society) und der tatsächlichen klinischen Praxis ergeben. Jetzt weisen die Ergebnisse der SANTORINI-Studie erneut auf die Notwendigkeit für einen intensiveren Einsatz von Lipidsenkern hin.
In SANTORINI waren 9.606 Patienten mit hohem und sehr hohem Risiko rekrutiert worden. „Die Zielwerte mit 70 mg/dl bei Patienten mit hohem Risiko und 55 mg/dl bei Patienten mit sehr hohem Risiko wurden bei Weitem nicht erreicht“, berichtete PD Dr. Roland Klingenberg auf einem Symposium beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) in Mannheim [1].
Klingenbergs Einschätzung nach wird das Risiko bei Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko in Deutschland oft unterschätzt. Gerade diese Patienten haben in der täglichen Praxis „noch immer wesentlich höhere LDL-Cholesterin-Werte, als in den Leitlinien empfohlen wird“, so Klingenberg. Auch in DA-VINCI hatten nur 54% der Patienten die LDL-Cholesterin-Zielwerte der Leitlinie aus 2016 und nur 33% der Patienten die noch strengeren Zielwerte der Leitlinie 2019 erreicht.
Kluft zwischen Armamentarium und Umsetzung wirtschaftlich begründet
„Wir haben das Armamentarium, um eine Reduktion des LDL-Cholesterins mit hoher Effektgröße zu erreichen, die Therapie wird dahingehend immer intensiver und raffinierter – aber die Umsetzung in der Realität sieht eben häufig ganz anders aus“, konstatierte Klingenberg. Eine moderat intensive Monotherapie mit einem Statin ist nach wie vor die am häufigsten angewendete lipidsenkende Therapie in Europa, nur eine Minderheit der Patienten erhält eine Kombinationstherapie, und PCSK9-Inhibitoren werden sehr selten verordnet. Die Gründe für diese Kluft seien „sicherlich auch wirtschaftlich begründet“.
Gute Instrumente sind vorhanden – die Arzneimittelrichtlinie gibt allerdings vor, dass vor dem Einsatz eines PCSK9-Inhibitors erst mal eine ganze Reihe anderer Substanzen angewandt werden müssen. Daraus ergibt sich folgender Behandlungsalgorithmus:
gesunder Lebensstil,
Statin (hochpotent und hoch dosiert),
Statin + Ezetimib,
Statin + Ezetimib +Bempedoinsäure,
Statin + Ezetimib + Bempedoinsäure + PCSK9-Hemmer,
Apherese + Statin + Ezetimib +/- Bempedoinsäure +/- PCSK9-Hemmer.
Reicht die Lebensstiländerung nicht aus, startet eine Therapie mit Statinen. Wird so der Zielwert nicht erreicht, folgt eine Kombination mit Ezetimib, ggf. zusätzlich Bempedoinsäure. Reicht auch das nicht aus, folgt ein PCSK9-Hemmer als Add-on-Therapeutikum.
Dennoch schneidet Deutschland bei der Erreichung der Erreichung der LDL-C-Zielwerte schlecht ab, betonte Prof. Dr. Oliver Weingärtner, Oberarzt interventionelle Kardiologie am Universitätsklinikum Jena. Derzeit erreichen in Europa weniger als 20% der Patienten mit sehr hohem Risiko die von der ESC/EAS-Leitlinie empfohlenen LDL-C-Zielwerte.
Kohortenstudie JaZ: Strike early, strike hard
Die unbefriedigende Situation nahmen Weingärtner und seine Kollegen zum Anlass, in Jena die prospektive Kohortenstudie „Jena auf Ziel – JaZ“ zu starten. Bei 85 Patienten mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) wurde bei Klinikaufnahme eine frühe Kombinationstherapie mit Atorvastatin (80 mg) und Ezetimib (10 mg) eingeleitet. Während der Nachbeobachtung wurde die lipidsenkende Therapie mit Bempedoinsäure und PCSK9-Inhibitoren eskaliert, um die empfohlenen LDL-Cholesterin-Zielwerte bei allen Patienten zu erreichen.
Bei der Entlassung aus der Klinik erreichten 32,9% der Studienteilnehmer die LDL-Cholesterin-Zielwerte unter Atorvastatin und Ezetimib. Nach 4 bis 6 Wochen hatten 80% aller Patienten, die zum Zeitpunkt des Infarktes mit Atorvastatin und Ezetimib behandelt wurden, die ESC/EAS-LDL-Cholesterin-Ziele erreicht.
Bei 20 Patienten wurde die kombinierte lipidsenkende Therapie entweder mit Bempedoinsäure oder PCSK9-Inhibitoren eskaliert. Alle Patienten erreichten während der Nachbeobachtung unter der 3-Fach-Lipidsenkung LDL-Cholesterin-Werte von 55 mg/dl oder darunter. Die kombinierte lipidsenkende Therapie war gut verträglich und hatte nur wenige Nebenwirkungen.
„Durch eine frühzeitige Kombinationstherapie mit einem hochdosierten Statin und Ezetimib und eine Eskalation der lipidsenkenden Therapie mit entweder Bempedoinsäure oder PCSK9-Inhibitoren können potenziell alle Patienten mit STEMI die von der ESC/EAS empfohlenen LDL-Cholesterin-Zielwerte ohne signifikante Nebenwirkungen erreichen“, erklärte Weingärtner.
Seit 2020 gingen 20 Städte und Regionen mit Auftaktveranstaltungen nach dem Vorbild von JaZ „auf Ziel“, in einigen fanden bereits 2 Netzwerk-Veranstaltungen statt.
Wann sind PCSK9-Hemmer wirtschaftlich und erstattungsfähig?
Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen, die am Zentrum für Innere Medizin der Universitätsmedizin Rostock eine Lipidambulanz aufgebaut hat, erinnerte daran, wann PCSK9-Inhibitoren als wirtschaftlich, verordnungs- und erstattungsfähig gelten:
bei Patienten mit heterozygoter familiärer oder nicht-familiärer Hypercholesterinämie oder gemischter Dyslipidämie,
bei Patienten mit gesicherter vaskulärer Erkrankung sowie regelhaft weiteren Risikofaktoren,
bei therapierefraktären Patienten mit einer dokumentierten maximal diätetischen und medikamentösen lipidsenkenden Therapie über einen Zeitraum von grundsätzlich 12 Monaten,
bei Patienten, deren LDL-Cholesterin-Werte nicht ausreichend gesenkt werden konnten und davon ausgegangen wird, dass die Indikation zur LDL-Apherese besteht.
Steinhagen-Thiessen betonte, dass in Anbetracht der knappen finanziellen Mittel der Fokus „auf Aufklärung und Prävention liegen“ müsse und „der therapeutische Fokus auf den Risikopatienten“. Dazu müsse die Politik einen gesellschaftlichen Diskurs anstoßen, statt ihn – wie bislang – zu vermeiden.
Angst vor Regress: Eine gute Dokumentation ist alles
Dr. Bernd Nowak vom Cardioangiologischen Centrum Bethanien (CCB) Frankfurt, machte deutlich, dass dem Patienten eine individuelle adäquate Therapie geschuldet werde. Im Prinzip, so Nowak sei man bei der Lipidbehandlung zwischen 2 Polen gefangen: dem Paragrafen 2 des SGB V, der die Leistungen definiert, und dem Paragrafen 12 des SGB V zum Wirtschaftlichkeitsgebot.
§ 2 SGB V verlangt, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen müssen. Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot aber müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Adäquate Therapie bedeutet die Orientierung an Leitlinien, Studien und Standards, so Nowak. Je nach Substanz allerdings unterscheiden sich die Tagestherapiekosten bei der Lipidsenkung deutlich: Für Rosuvastatin + Ezetimib liegen sie bei 34 Cent, für Bempedoinsäure + Ezetimib liegen sie bei 2,60 Euro, für den PCSK9-Hemmer Evolocumab bei 15,50 Euro. „Man kann aber nicht sagen – das ist zu teuer, damit behandele ich meinen Patienten nicht. Wir müssen nach medizinischem Standard behandeln“, so Nowak und verwies auf § 630a Abs. 2 BGB.
Ein Urteil des Landgerichts Hamburg (Az 336 0 76/17) vom 19. Mai 2021 zeigt, dass kein Behandlungsfehler vorliegt, wenn eine Therapie leitliniengerecht unter Beachtung der LDL-Cholesterin-Zielwerte erfolgt. Aus dem Urteil: „Ein früheres Eingreifen wäre geeignet gewesen, dass der Gesundheitsschaden der Klägerin nicht oder nur in geringerer Ausprägung eingetreten wäre.“
Auch wenn die Angst vor dem Regress immer mitschwinge, in letzter Zeit sei manches dazu entschärft worden, erinnerte Nowak:
In den ersten 2 Jahren der Niederlassung gibt es keinen Regress (Welpenschutz),
Prinzip: Beratung vor Regress,
erneute Beratung vor Regress nach 5 Jahren „Amnestie-Regelung“,
Praxisbesonderheiten aus medizinischen Gründen (besonders kranke Patienten, wichtig ist: gut dokumentieren!),
maximal 5% der Ärzte einer Fachgruppe werden überprüft,
Begründungspflicht für alle Prüfanträge,
Verkürzung der Prüffristen rückwirkend auf 2 Jahre,
Anträge müssen 6 Monate vor Fristende vorliegen.
Nowak erinnerte auch daran, dass Regresse verhältnismäßig selten sind. Der Bundesverband Niedergelassener Kardiologen (BNK) hatte im Februar 2016 niedergelassene Kardiologen befragt, ob sie in den vergangenen 5 Jahren einen Regress aufgrund lipidsenkender Therapie erfahren hatten. 91,7% der Befragten gaben an, keinen Regress gehabt zu haben, 7,9% der Befragten gaben an, einen Regress gehabt zu haben.
Bei den Präparaten, die zu einem Regress geführt haben, lagen die PCSK9-Hemmer mit 58,82% vorne. „Eine gute und ausführliche Dokumentation ist entscheidend. Wenn es eine Prüfung bei mir gibt, und ich gut belegen kann, warum ich so behandelt habe, übersteht man diese Prüfung in der Regel gut. Schwierig kann es werden, wenn ich nicht ordentlich dokumentiert habe“, betonte Nowak.
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Credits:
Photographer: © Artur Szczybylo
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Diesen Artikel so zitieren: Tipps zur Cholesterinsenkung bei kardiovaskulären Erkrankungen – wie lässt sich das kostendeckend und ohne Regress machen? - Medscape - 17. Apr 2023.
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