Paris – Biomarker im Blut von Menschen, die ihr Leben lang an psychiatrischen Erkrankungen gelitten haben, zeigen, dass diese Menschen – gemessen am chronologischen Alter – biologisch rascher gealtert sind. Die Forschungsergebnisse wurden kürzlich auf dem European Congress of Psychiatry 2023 vorgestellt [1]. Zu den untersuchten Krankheiten zählen Depressionen, bipolare Störungen und Angststörungen.
Dr. Julian Mutz, Postdoktorand am King's College London (KCL) und Studienleiter, erklärt: „Es ist mittlerweile möglich, das [biologische] Alter von Menschen anhand von Stoffwechselprodukten im Blut zu bestimmen. Wir fanden heraus, dass Menschen, die ihr Leben lang an einer psychischen Erkrankung gelitten haben, im Durchschnitt ein Stoffwechselprofil hatten, das auf ein höheres Alter schließen ließ als es tatsächlich der Fall war. Menschen mit einer bipolaren Störung hatten zum Beispiel Blutmarker, die darauf hindeuten, dass sie biologisch etwa 2 Jahre älter waren, gemessen am chronologischen Alter.“
Zusammen mit Prof. Dr. Cathryn Lewis, Professorin für genetische Epidemiologie und Statistik am KCL, untersuchte Mutz Stoffwechselprofile von 110.780 Teilnehmern der UK Biobank. Im Fokus standen 168 verschiedene Blutmetaboliten, welche mithilfe der Nightingale Health-Plattform quantifiziert wurden.
Psychische Erkrankungen und Komorbiditäten
Die Forscher verknüpften ihre Daten mit Diagnosen psychischer Erkrankungen. Ihr Ziel war, durch Methoden des maschinellen Lernens das biologische Alter mit der Metabolomik, sprich mit Stoffwechseldaten aus der Kernspinresonanzspektroskopie, zu ermitteln. Sie wollten danach in Erfahrung bringen, ob psychiatrische Erkrankungen mit einer schnelleren biologischen Alterung in Verbindung stehen.
Bekannt sei bislang, dass Menschen mit psychischen Störungen „tendenziell eine schlechtere Gesundheit haben“ und „Menschen mit schlechter psychischer Gesundheit häufig eine erhöhte Tendenz haben, Krankheiten wie Herzerkrankungen und Diabetes zu entwickeln“, erklären die Forscher. „Diese Krankheiten neigen dazu, sich mit dem Alter zu verschlechtern.“
Das wiederum scheint die Mortalität zu beeinflussen. So ergab eine Studie aus dem Jahr 2019, dass Menschen mit psychischen Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung im Durchschnitt eine um etwa 10 Jahre (Männer) bzw. 7 Jahre (Frauen) kürzere Lebenserwartung haben.
Schnellere Alterung, kürzere Lebenserwartung?
„Eine beschleunigte biologische Alterung könnte zu einer höheren Prävalenz altersbedingter Krankheiten und damit auch zu einer höheren Sterblichkeit bei Menschen mit psychischen Störungen führen“, erklärten die Forscher. „Jüngste Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens und der Erfassung komplexer molekularer 'omics'-Daten ermöglichen die Bestimmung des biologischen Alters.“
In der Studie bestimmten Wissenschaftler Abweichungen des biologischen und des chronologischen Alters bei Personen der Kohorte – und zwar bei Probanden mit psychischen Erkrankungen sowie bei Kontrollen ohne diese Leiden. Dann untersuchten sie, ob polygene Scores für psychische Störungen das metabolomische Alter vorhersagten.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Personen mit einer psychischen Erkrankung ein höheres biologisches Alter hatten, verglichen mit ihrem chronologischen Alter. Polygene Scores für psychische Störungen korrelierten positiv mit dem metabolomischen Alter. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Personen mit einer Vorgeschichte von psychischen Erkrankungen oder mit höheren polygenen Werten für psychische Störungen biologisch älter sind als es ihr chronologisches Alter erwarten lässt“, so die Schlussfolgerung der Forscher.
Befunde könnten verkürzte Lebensspanne erklären
„Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum Menschen mit psychischen Problemen eine kürzere Lebenserwartung und mehr altersbedingte Krankheiten haben als die Allgemeinbevölkerung“, so die Forscher.
Mutz sagt: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Körper von Menschen mit psychischen Erkrankungen tendenziell älter ist, als man es für eine Person aufgrund des chronologischen Alters erwarten würde. Dies erklärt vielleicht nicht den gesamten Unterschied hinsichtlich der Gesundheit und der Lebenserwartung zwischen Menschen mit psychischen Problemen und der Allgemeinbevölkerung. Aber es bedeutet, dass eine beschleunigte biologische Alterung ein wichtiger Faktor sein könnte.“
Der Wissenschaftler hofft: „Wenn wir diese Marker nutzen können, um die biologische Alterung zu verfolgen, könnten wir auch die Art und Weise verändern, wie wir die körperliche Gesundheit von Menschen mit psychischen Erkrankungen überwachen und wie wir die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit bewerten.“
Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Frailty-Scores
Im Gespräch mit Medscape erklärte Mutz, dass die aktuelle Studie zwar noch nicht veröffentlicht worden sei, dass die Veröffentlichung aber für „die nächsten Monate“ geplant sei. Er sagte, die Studie knüpfe an frühere Arbeiten des Teams an, die ebenfalls auf Daten der UK Biobank basierten und auf ein höheres Maß an Gebrechlichkeit bei Personen mit psychischen Störungen hindeuteten. Er sieht Zusammenhänge zwischen der Gesamtmortalität bei Personen mit psychischen Störungen und Frailty-Scores.
Im Vergleich zu nicht gebrechlichen Personen ohne psychische Störungen betrug beispielsweise die Hazard Ratio für die Gesamtmortalität bei Personen mit bipolarer Störung und Gebrechlichkeit 3,65 (95%-KI; 2,40-5,54).
Mutz erklärte auch, dass sein Team eine Korrelation zwischen Frailty-Scores und Blutmarkern gefunden habe. Personen mit einem höheren biologischen als chronologischen Alter seien eher körperlich gebrechlich und hätten einen höheren Frailty- Score.
In Hinblick auf künftige Forschungsprojekte sagte der Wissenschaftler, dass seine Gruppe bisher die biologische Alterung bei Menschen mit einer Vorgeschichte von Depressionen, Angststörungen oder bipolaren Störungen untersucht habe. In Zukunft sei geplant, weitere psychiatrische Erkrankungen zu erforschen.
„Ich schließe derzeit ein Forschungsprojekt ab, in dem wir verschiedene Algorithmen für maschinelles Lernen untersucht haben, um das Alter von Menschen anhand ihrer Blutmetaboliten vorherzusagen“, ergänzt Mutz. „Diese Arbeit soll noch in diesem Jahr zur Veröffentlichung eingereicht werden.“
Verständnis der Mechanismen „entscheidend“ für die Versorgung von Patienten
Dr. Sara Poletti vom Istituto Scientifico Universitario Ospedale San Raffaele in Mailand, Italien, die nicht an der Studie beteiligt war, kommentiert: „Dies ist eine wichtige Arbeit, da sie eine mögliche Erklärung für die höhere Prävalenz von Stoffwechselkrankheiten und von altersbedingten Krankheiten bei Patienten mit psychischen Erkrankungen liefert. Das Verständnis der Mechanismen, welche der beschleunigten biologischen Alterung zugrunde liegen, könnte für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen und maßgeschneiderten Therapien von entscheidender Bedeutung sein.“
Der Beitrag wurde von Michael van den Heuvel aus Medscape UK übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Edhardream
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Biologisches versus chronologisches Alter: Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen scheinen schneller zu altern - Medscape - 13. Apr 2023.
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