Ischämischer Schlaganfall: Positive SELECT-Studie zur Thrombektomie bei großem Infarktkern

Interessenkonflikte

14. April 2023

Dallas – Die endovaskuläre Thrombektomie hat in einer groß angelegten internationalen Studie bei Personen mit einem ischämischen Schlaganfall und großem ischämischen Kern oder Infarktkern ihren Benefit bewiesen. Dies könnte zu einer Änderung der klinischen Praxis und der Schlaganfallversorgung führen.

Die Ergebnisse der SELECT2-Studie, die an Standorten in den USA, Kanada, Europa, Australien und Neuseeland durchgeführt wurde, zeigen, dass die endovaskuläre Thrombektomie innerhalb von 24 Stunden nach dem letzten bekannten Gesundheitszustand in Verbindung mit einer medizinischen Behandlung bei einem großen Infarktkern zu besseren klinischen Ergebnissen führt als die medizinische Behandlung allein.

Diese Resultate wurden während der International Stroke Conference (ISC) 2023 in Dallas, Texas, von Prof. Dr. Amrou Sarraj, Neurologe am University Hospitals Cleveland Medical Center-Case Western Reserve University in Ohio, vorgestellt [1]. Die Studie wurde gleichzeitig im New England Journal of Medicine publiziert [2].

Die vergleichbare chinesische ANGEL-ASPECT-Studie wurde auch während des Kongresses präsentiert und führte zu ganz ähnlichen Resultaten. Und beide Studien stützen wiederum die japanische RESCUE-JAPAN LIMIT-Studieaus dem vergangenen Jahr, die ebenfalls den Nutzen der Thrombektomie bei Personen mit großen Infarktkernen belegte. Für Sarraj belegen die Ergebnisse dieser 3 Studien zusammen „eindeutig den Nutzen der endovaskulären Thrombektomie bei großem ischämischem Kern“.

Etwa 20% der Schlaganfälle mit großen Gefäßverschlüssen weisen einen großen Infarktkern auf. Die Patienten galten jedoch bisher nicht als Kandidaten für eine endovaskuläre Thrombektomie, weil es zu große Bedenken wegen möglicher Reperfusionsschäden im nekrotischen Hirngewebe gab, die zu einem erhöhten Risiko für Blutungen, Ödeme, Behinderungen und Tod führten. Die Folge waren Unsicherheiten bei der Behandlung dieser Menschen mit Infarktkern, so Sarraj. 

Patienten hatten großvolumigen Infarktkern

In die SELECT2-Studie wurden Personen mit einem Schlaganfall infolge eines Verschlusses der A. carotis interna oder des ersten Segments der A. cerebri media aufgenommen. Die Patienten zeigten einen großvolumigen Infarktkern. Ein solcher wurde definiert als ein „Alberta Stroke Program Early Computed Tomography“-Score (ASPECTS) von 3 bis 5 oder als Infarktkernvolumen in der Bildgebung von mindestens 50 ml. 

Die Patienten wurden zufällig einer endovaskulären Thrombektomie plus medizinischer Versorgung oder einer alleinigen medizinischen Versorgung zugewiesen.

Die Studie, an der 560 Personen teilnehmen sollten, wurde wegen der gezeigten Wirksamkeit vorzeitig beendet, nachdem die Thrombektomie-Gruppe aus 178 Patienten und die Gruppe mit medizinischer Versorgung aus 174 bestand.

Wahrscheinlichkeit eines besseren funktionellen Ergebnisses nach einer Thrombektomie 60%

Das primäre Outcome war die Odds Ratio für eine Verschiebung in der Verteilung der modifizierten Rankin-Skala (mRS) zugunsten der Thrombektomie. Diese betrug 1,51 (p < 0,001). „Demnach beträgt die Wahrscheinlichkeit eines besseren funktionellen Ergebnisses nach einer Thrombektomie 60% bei einer NNT (number needed to treat) von 5. Das heißt also, dass 5 Personen eine Thrombektomie erhalten müssen, damit eine von ihnen ein besseres funktionelles Ergebnis erzielt“, erklärte Sarraj. 

Das heißt also, dass 5 Personen eine Thrombektomie erhalten müssen, damit eine von ihnen ein besseres funktionelles Ergebnis erzielt. Prof. Dr. Amrou Sarraj
 

Das sekundäre Outcome, die funktionelle Unabhängigkeit nach 90 Tagen als ein mRS-Wert von 0 bis 2, wurde bei 20% der Personen in der Thrombektomie-Gruppe und bei 7% in der Gruppe mit alleiniger medizinischer Versorgung erreicht (relatives Risiko: 2,97) bei einer NNT von 7.

Nach 90 Tagen konnten 37,9% der durch Thrombektomie Behandelten und 18,7% der medizinisch Versorgten selbstständig gehen (relatives Risiko: 2,06). Die NNT lag bei 5. Die Mortalität war in beiden Gruppen ähnlich.

Weitere sekundäre Endpunkte wiesen im Ergebnis im Allgemeinen in die gleiche Richtung wie die primäre Analyse, wobei eine mögliche Ausnahme in einer frühen neurologischen Verbesserung bestand, so die Autoren.

Die Inzidenz symptomatischer intrakranieller Blutungen war in beiden Studiengruppen gering. Es gab einen Fall in der Thrombektomie-Gruppe und 2 in der Gruppe der medizinischen Versorgung.

Wenige symptomatische intrakranielle Blutungen

Die Forschenden weisen darauf hin, dass in früheren Studien die Rate der symptomatischen intrakraniellen Blutungen in Fällen von großen ischämischen Infarktkernen höher war als in dieser Studie. „Daher kam der niedrige Prozentsatz an symptomatischen intrakraniellen Blutungen, der in beiden Studiengruppen beobachtet wurde, unerwartet.“

Bei etwa 20% der Patienten in der Thrombektomie-Gruppe traten Komplikationen im Zusammenhang mit dem Verfahren auf. In der Thrombektomie-Gruppe kam es 5-mal zu Komplikationen am arteriellen Zugang, 10-mal zu Dissektionen, bei 7 Menschen perforierte ein kraniales Gefäß, und bei 11 kam es zu einem vorübergehenden Vasospasmus.

Bei 24,7% in der Thrombektomie-Gruppe und bei 15,5% in der medizinisch versorgten Gruppe entwickelte sich eine frühe neurologische Verschlechterung, die als Anstieg auf der NIHSS-Skala (National Institutes of Health Stroke Scale) um 4 oder mehr Punkte definiert war (relatives Risiko: 1,59).

In einer Post-hoc-Analyse, „aus der keine Schlussfolgerungen gezogen werden können“, war eine frühe neurologische Verschlechterung auch mit schlechteren funktionellen Ergebnissen nach 90 Tagen verbunden, so das Autorenteam. Und Patienten, bei denen eine neurologische Verschlechterung aufgetreten war, hatten zu Studienbeginn mit einem mittleren Volumen von 107 ml größere ischämische Infarktkerne als bei Personen ohne neurologische Verschlechterung (77 ml).

Die Autoren stellen fest, dass in manchen Fällen eine mögliche Ursache für die Verschlechterung ein mit der Reperfusion verbundenes Hirnödem war. Insgesamt sei die endovaskuläre Thrombektomie jedoch mit einem besseren Outcome verbunden gewesen als die medizinische Behandlung allein, betonten sie.

„Zwei Drittel der Patienten hatten Infarktkerne von mehr als 70 ml Volumen. Bei einem Drittel waren es über 100 ml. Aber selbst bei großen und sehr großen Infarktkernen war die Thrombektomie der alleinigen medizinischen Versorgung überlegen“, so Sarraj.

Selbst bei großen und sehr großen Infarktkernen war die Thrombektomie der alleinigen medizinischen Versorgung überlegen. Prof. Dr. Amrou Sarraj
 

Ergebnis wird klinische Praxis verändern

Der Vorsitzende des ISC 2023 Dr. Tudor Jovin vom Cooper Neurological Institute in Cherry Hill, New Jersey, kommentierte die Studie für Medscape: „Diese Studie zeigt, dass selbst Fälle mit einem großen Infarktkern, die wir in der Vergangenheit nicht thrombektomiert hätten, tatsächlich von diesem Verfahren profitieren. Und erstaunlicherweise ist der Nutzen fast genauso groß ist wie bei Personen mit kleineren Infarktkernen. Ein solches Ergebnis hat das Zeug, die klinische Praxis zu verändern.“ 

Diese Studie zeigt, dass selbst Fälle mit einem großen Infarktkern, die wir in der Vergangenheit nicht thrombektomiert hätten, tatsächlich von diesem Verfahren profitieren. Dr. Tudor Jovin
 

Diese Ergebnisse sollten nach Jovin nicht nur die Auswahl der Patienten für eine Thrombektomie verändern, sondern auch die Versorgungssysteme. „Denn unsere derzeitige Versorgung basiert auf dem Ausschluss von Personen mit großen Infarkten. Das wird in Zukunft nicht mehr nötig sein.“ 

Unsere derzeitige Versorgung basiert auf dem Ausschluss von Personen mit großen Infarkten. Das wird in Zukunft nicht mehr nötig sein. Dr. Tudor Jovin
 

Und weiter führte Jovin aus: „Ich glaube, dass uns die Bildgebung eher zurückgehalten hat. Wir können Blutungen mit einem einfachen kranialen CT ausschließen. Bei einem Infarkt ist die wichtigste Information aus der Bildgebung der Aufschluss über die Größe des Infarkts. Wir hatten Sorge, die Betroffenen bei einem großen Infarkt zu schädigen. Dann mussten externe Kliniken zusätzliche bildgebende Verfahren anwenden, um zu entscheiden, ob die Patienten einer Thrombektomie zugeführt werden konnten. Dies alles sind Faktoren, die eine mögliche Intervention herauszögern.“

Jovin fügte hinzu: „Ich bin daher sehr erfreut über diese Resultate und hoffe, dass die Patientenauswahl zukünftig einfacher wird und auch Patienten mit großen Infarkten eher behandelt werden.“.

Prof. Dr. Joseph Broderick, Neurologe und Leiter des Neuroscience Institute an der Universität von Cincinnati, kommentierte ebenfalls für Medscape, dass die Ergebnisse „robust und bedeutsam“ seien. Die Ergebnisse der SELECT2-Studie würden zusammen mit den beiden anderen, ähnlichen Studien „die bisherige klinische Praxis verändern und die endovaskuläre Therapie auf mehr Patienten mit schweren Schlaganfällen ausweiten“.

Broderick ist jedoch der Ansicht, dass die Bildgebung weiterhin notwendig sein wird, um Personen mit einem ASPECTS-Wert von 0 bis 2 auszuschließen, die nicht in diese Studien einbezogen wurden. „Diese Erkrankten weisen auf dem Ausgangsbild sehr große hypodense Bereiche auf (das Gewebe ist dort bereits abgestorben), und sie profitieren von einer Reperfusion mit lytischen Medikamenten oder einer endovaskulären Therapie nicht mehr“, erklärte er.

„Willkommene Neuigkeiten“

In einem NEJM-Editorial zu den beiden neuen Studien weist Dr. Pierre Fayad, vom University of Nebraska Medical Center in Omaha darauf hin, dass alle 3 Thrombektomie-Studien bei Personen mit großen Infarktkernen „bemerkenswert ähnliche Ergebnisse“ zeigten und dies trotz der Unterschiede beim Studiendesign, bei der Patientenauswahl, der thrombolytischen Therapie und Dosierung, bei der geografischen Lokalisation und bei den bildgebenden Kriterien [3].

„Insgesamt sind die Studienergebnisse von über 1.000 Personen mit großen ischämischen Schlaganfällen in verschiedenen medizinischen Systemen positiv und werden wahrscheinlich das Vorgehen und die Verfahren in der klinischen Praxis verändern“, so Fayad. 

Insgesamt sind die Studienergebnisse von über 1.000 Personen mit großen ischämischen Schlaganfällen in verschiedenen medizinischen Systemen positiv und werden wahrscheinlich das Vorgehen und die Verfahren in der klinischen Praxis verändern. Dr. Pierre Fayad
 

Er hält es für sinnvoll, bei großen Schlaganfällen die endovaskuläre Thrombektomie anzubieten, wenn die Patienten rechtzeitig ein entsprechendes Zentrum erreichen, das den Eingriff durchführen kann, und wenn sie einen ASPECTS-Wert von 3 bis 5 oder ein ischämisches Infarktkernvolumen von mindestens 50 ml aufweisen.

Trotz des erhöhten Risikos einer symptomatischen Blutung, eines Ödems, einer neurologischen Verschlechterung und einer Hemikraniektomie sind bei dieser Behandlung insgesamt bessere Ergebnisse zu erwarten.

„Die Erkrankten und ihre Familien sollten über die Grenzen der Behandlung und die zu erwartenden neurologischen Restdefizite infolge des großen Infarkts aufgeklärt werden. Die verbesserten Chancen auf eigenständiges Gehen und den Erhalt anderer alltäglicher Aktivitäten bei Menschen mit schwersten Schlaganfällen sind eine gute Nachricht für alle Beteiligten“, betonte Fayad abschließend. 

Die verbesserten Chancen auf eigenständiges Gehen und den Erhalt anderer alltäglicher Aktivitäten bei Menschen mit schwersten Schlaganfällen sind eine gute Nachricht für alle Beteiligten. Dr. Pierre Fayad
 

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus  https://www.medscape.com  übersetzt und adaptiert.

Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der  Link  zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....