Wechseljahre, Kinderwunsch, Fehlgeburt, Arzttermine: Firma gewährt bezahlten Extra-Urlaub in schweren Lebensphasen – ein Tabubruch?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

5. April 2023

Die 120 Angestellten von Kellogg in Deutschland sollen künftig in privaten Krisenzeiten ein „Recht auf Rückzug“ erhalten. Das erklärt der Konzern in einer Mitteilung, die Medscape vorliegt. Arbeitspsychologen und Gewerkschafter begrüßen das Projekt, mahnen aber: „Es kommt darauf an, wie es gelebt wird.“

Mit Krisen meint Kellogg zum Beispiel einen Schwangerschaftsverlust, eine künstliche Befruchtung bei unerfülltem Kinderwunsch, problematische Menopause oder eine Geschlechtsumwandlung. Über die genannten Themen am Arbeitsplatz zu sprechen sei sehr schwierig und „immer noch ein Tabu“, sagt Wieland Beck, Sprecher von Kellogg Deutschland zu Medscape.

„Kellogg bricht als Vorreiter diese Tabuisierung und gibt sich eine Policy, die Mitarbeitende in schwierigen Lebensphasen schützt und unterstützt“, so der Konzern. Die Regelung gilt für Männer wie Frauen. Man sei offen für jedes Geschlecht und für jede sexuelle Orientierung, betont Beck.

Mitarbeitende in Krisenzeiten schützen

In Deutschland haben zum Beispiel Paare, die vor dem 6. Schwangerschaftsmonat ein Kind verloren haben, keinen Anspruch auf Erholungstage. Auch bei Wechseljahresbeschwerden gebe es in der deutschen Arbeitspolitik keine klaren Regelungen zu Freizeiten, schreibt die Firma Kellogg. Und das, obwohl viele Frauen so sehr unter ihren Wechseljahresbeschwerden leiden, dass sie in den Vorruhestand gehen. Ebenso könne eine Hormontherapie bei unerfülltem Kinderwunsch einen körperlichen und seelischen Ausnahmezustand bedeuten, erklärt Kellogg.

Hier will die Firma ansetzen und zum Beispiel bei Mitarbeiterinnen, die ein Baby verloren haben, 2 Wochen Auszeit bei voller Bezahlung gewähren. Den Bedarf kann die betroffene Mutter ohne ärztlichen Nachweis selbst bescheinigen. Auch nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz kann die Mitarbeiterin weitere freie Genesungstage nehmen.

Die Regelungen gelten auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit unerfülltem Kinderwunsch. Sie können etwa für eine In-vitro-Fertilisation im Laufe eines Jahres 3-mal 5 Tage bezahlten Urlaub bekommen.

 
Wir sind das erste Unternehmen in Deutschland, das sich offen für Akzeptanz und Beistand für Mitarbeitende in schweren Lebensphasen einsetzt. Daniela Cocirta
 

Auch für alle ärztlichen oder therapeutischen Termine in Verbindung mit dem Problem werden die Betroffenen beurlaubt, erklärt die Firma. „Kellogg bietet darüber hinaus flexible Arbeitszeitmodelle – wie eine stufenweise Rückkehr zur Arbeit, mehr Pausen und Zeit abseits des Computers oder vorübergehendes Reduzieren der Arbeitszeit.“

„Wir sind das erste Unternehmen in Deutschland, das sich offen für Akzeptanz und Beistand für Mitarbeitende in schweren Lebensphasen einsetzt“, betont Daniela Cocirta, Human Resources Lead bei Kellog DACH. „Wir verankern diese Tabuthemen offiziell in unserer Policy und wollen damit Vorbild für eine faire und vielfältige Arbeitspolitik sein.“

Für die Neuregelung sollen die Vorgesetzten in der neuen Unternehmenskultur eigens für die Gespräche mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschult werden, erklärt Beck. Schließlich legen sie im Gespräch mit der Führungskraft privateste Themen offen, um zusätzlichen Urlaub zu bekommen. Allerdings gelten die neuen Regeln ausschließlich für einen festen Katalog von Beschwerden. Es geht um jene „Tabu“-Erkrankungen, beziehungsweise „Tabu“-Themen. Auch die Dauer der Auszeiten hat Kellogg reglementiert.

Zu viel Privates am Arbeitsplatz?

Grundsätzlich sei jeder Versuch von Arbeitgebern, die Beschäftigten in psychisch und physisch herausfordernden Zeiten zu entlasten, zu begrüßen, so Jonas Bohl, Sprecher der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), zu Medscape. „Allerdings kommt es insbesondere bei so persönlichen Themen, wie einem unerfüllten Kinderwunsch oder einem Schwangerschaftsverlust, auf die ganz konkrete Umsetzung an. Viele Menschen wollen diese belastenden und leider häufig auch tabuisierten Themen eben gerade nicht mit Arbeitskollegen oder gar einer Führungskraft teilen.“

 
Viele Menschen wollen diese belastenden und leider häufig auch tabuisierten Themen eben gerade nicht mit Arbeitskollegen oder gar einer Führungskraft teilen. Jonas Bohl
 

Prof. Dr. Laura Venz, Arbeits- und Organisationspsychologin an der Leuphana-Universität in Lüneburg, sieht ähnliche Probleme, begrüßt aber das Projekt ausdrücklich. Eine offenere Betriebskultur sei möglich, erklärt Venz. Vor allem der Umstand, dass betroffene Frauen und Männer gleichermaßen ein „Recht auf Rückzug“ haben, sei ein wesentlicher Fortschritt.

Aber am Ende bleibe es die individuelle Entscheidung der Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, ob sie ihren Chef ansprechen oder sich einfach krankschreiben ließen. „Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Schulungen der Führungskräfte“, so Venz. „Es darf eben nichts verpuffen. Denn was nützt es den Betroffenen, wenn sie zwar das Recht haben, sich frei zu nehmen, sich aber nicht trauen?“

Kritisch könnte es allerdings werden, wenn der Grund des Fernbleibens in der Abteilung der beurlaubten Person bekannt würde. „Das wäre nicht jedem angenehm. Es ist ja niemand verpflichtet, den Grund seines Fernbleibens zu kommunizieren.“

Für Venz überwiegen klar die Vorteile des Kellogg-Projektes. „Es wäre ja auch unsinnig, dass Paare, die gerade ein Kind verloren haben, ihre volle Arbeitsleistung erbringen können.“

 
Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Schulungen der Führungskräfte. Prof. Dr. Laura Venz
 

Der Anstoß für das „Recht auf Rückzug“ habe eine Mitarbeitergruppe gegeben, berichtet Kellogg-Sprecher Beck. Die Firma habe dann eine entsprechende Richtlinie ausgearbeitet, die zunächst in England und dann in Deutschland umgesetzt wird. „Soweit wir recherchiert haben, sind wir die erste Firma in Deutschland, die das so umgesetzt hat. Aber wir sind keine Experten in dem Bereich“, betont Beck. „Wir sind selbst noch auf der Reise und müssen lernen, mit den neuen Regeln umzugehen.“

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