Der Verdacht auf Kindesmisshandlung löst häufig erhebliche Unsicherheit aus. Seit 2017 bietet die Medizinische Kinderschutzhotline unter der Telefonnummer 0800 19 210 00 rund um die Uhr Beratung bei Verdachtsfällen auf körperliche und emotionale Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Kindesmissbrauch. Sie richtet sich an Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und der Familiengerichte.

Dr. Oliver Berthold
Während bei körperlicher Misshandlung das Geschlechterverhältnis weitgehend gleich ist, sind etwa 2,5-mal so viele Mädchen wie Jungen von sexualisierter Gewalt betroffen. Anfragen an die Kinderschutzhotline betreffen zu knapp 60% Mädchen und zu 40% Jungen.
Dr. Oliver Berthold, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderschutzmediziner (DGKiM) und Klinischer Teamleiter der Kinderschutzhotline, gibt im Interview Tipps, was im Verdachtsfall zu tun ist, wann es sinnvoll ist, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, und wann es besser ist, direkt das Jugendamt einzuschalten.
Medscape: Wie hat sich die Zahl der Anfragen bei der Kinderschutzhotline über die Jahre entwickelt? Haben sich die Beratungsanlässe geändert?
Berthold: Die Inanspruchnahme der Kinderschutzhotline ist über die Jahre deutlich gestiegen. Was auch damit zu tun hat, dass das Projekt immer bekannter wird. Erstaunlicherweise haben sich aber die Zusammensetzung der Berufsgruppen, die anrufen, oder die Inhalte der Anrufe nur wenig geändert.
Von Anfang an haben uns auch Erwachsenenmediziner kontaktiert. Psychiaterinnen, Psychiater und Psychotherapeuten, die erwachsene Patienten behandeln, machen ungefähr ein Drittel der Anrufe aus. Erwachsene mit psychischen Erkrankungen können auch einen Risikofaktor für Kindesmisshandlung darstellen – das gilt natürlich nicht für jede psychische Erkrankung, aber bei manchen Erkrankungen ist das so. Es gibt auch Konstellationen, da herrscht zusätzlich häusliche Gewalt, und die Patienten berichten in der Psychotherapie davon. Aufgrund dessen sorgen sich die Anrufer dann um das Wohl der Kinder.
Und auch die Anfragen waren von Anfang an sehr breit gefächert. Die Anrufer schildern, was sie beobachtet haben, die Sorgen, die sie sich machen, sie fragen, ob diese Sorgen gewichtig genug sind, um etwas zu unternehmen und wie der konkrete nächste Schritt aussehen könnte. Ob eher ein Elterngespräch infrage kommt oder der Kontakt zum Jugendamt oder zu anderen medizinischen Ansprechpartnern gesucht werden sollte.
Medscape: Hat sich die Pandemie auf die Inanspruchnahme der Kinderschutzhotline ausgewirkt?
Berthold: Während der Lockdowns hatten wir erst mal weniger Anrufe. Das entspricht dem, was wir auch im ambulanten und stationären Bereich gesehen haben: Wir hatten weniger Kontakt zu Patienten, in den Kinderkliniken war das ja zum Teil sehr ausgeprägt. Nach dem Ende der Lockdowns nahmen die Anfragen relativ schnell wieder zu, lagen dann auf dem Vor-Lockdown-Niveau und zeitweise auch darüber. Wir hatten nach jedem Lockdown eine leichte Überkompensation. Unsere Hauptsorge während der Lockdowns war vor allem: Was übersehen wir gerade?
Medscape: Was sind die wichtigsten Hinweise, bei denen an eine Kindeswohlgefährdung gedacht werden muss?
Berthold: Weil es verschiedene Formen von Kindeswohlgefährdung und Kindesmisshandlung gibt – körperliche und emotionale Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Kindesmissbrauch – sind die Hinweise sehr vielfältig.
Bei den körperlichen Misshandlungen sehen wir Folgen von körperlicher Gewalt, wie blaue Flecken oder Frakturen, die nicht zum uns berichteten Unfallvorgang passen wollen. Insbesondere sehr kleine Kinder sind da betroffen.
Wir sehen aber auch Kinder, die verwahrlost wirken, die verhaltensauffällig sind oder körperliche Auffälligkeiten zeigen, die auf eine Vernachlässigung hindeuten. Kinder, die aufgrund von emotionaler Misshandlung psychisch erkranken, und Kinder, die entweder durch ihr Verhalten oder durch körperliche Befunde den Verdacht auslösen, dass sie von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnten.
Häufig ist es auch so, dass Kinder direkt davon berichten, z.B. in der Schule. Kinderärzten werden auch Kinder vorgestellt, die in der Schule berichtet haben, dass sie zuhause geschlagen werden. Diese Aussagen der Kinder sind sehr wichtig und sollten immer ernst genommen werden.
Medscape: ist emotionale Misshandlung weniger schlimm als körperliche?
Berthold: Im Gegenteil, sie ist nur schwerer für uns zu erkennen. Es handelt sich oft nicht um einzelne, abgrenzbare Taten, die ihre sichtbaren Spuren hinterlassen. Vielmehr geht es um ein Klima aus Angst, Schuld und Demütigung. Die Kinder fühlen sich nicht sicher, ungeliebt und wertlos. Das kann massive Auswirkungen auf das gesamte Leben haben, psychische und körperliche Folgeerkrankungen begünstigen.
Hinweise können sein: Handeln die Eltern in Krisensituationen nach den Bedürfnissen des Kindes oder ausschließlich nach den eigenen? Bringen die Eltern das Kind zusätzlich in einen Loyalitätskonflikt (z.B. „Das darfst Du in der Therapie nicht erzählen!“)?
Medscape: Ist es sinnvoll, als Kinderarzt Eltern direkt anzusprechen, wenn man bei ihnen im Umgang mit ihrem Kind Zeichen von Überforderung oder Feindseligkeit beobachtet?
Berthold: Ich würde in aller Regel – es gibt Ausnahmen – immer erst mal mit den Eltern sprechen, wenn ich mir Sorgen um das Kind mache. Denn die primäre Verantwortung für das Kindeswohl liegt bei den Eltern, dazu gehört auch, gegen eine Gefährdung des Kindeswohls etwas zu unternehmen.
Es ist nicht einfach, das anzusprechen. Es lohnt sich aber, konkret eine Situation zu schildern und zu sagen: „Auf mich wirkt der Umgang zwischen Ihnen und Ihrem Kind gerade sehr angespannt“ und das als Gesprächseinstieg zu nutzen. Zu fragen: „Fällt ihnen das auch auf?“ und: „Gibt es gerade Belastungen, wie ist denn der Umgang zuhause miteinander?“.
Es kann auch sinnvoll sein, mit älteren Kindern das Gespräch unter 4 Augen zu suchen und die Kinder konkret nach der Situation zu Hause zu fragen. Wichtig ist nur, dass man darauf vorbereitet sein muss, dass die Kinder tatsächlich etwas berichten. Man sollte vor einem solchen Gespräch möglichst schon wissen, was man unternimmt, um dann nicht mit der Antwort überfordert zu sein. Denn das wäre für die Kinder ein schlimmes Signal.
Medscape: Wann sollte man besser darauf verzichten, die Eltern direkt anzusprechen?
Berthold: Unlängst hatte eine Kinderärztin von einem erheblich aggressiven Verhalten der Kindseltern in der Praxis berichtet, sie hatte sich auch selbst dadurch bedroht gefühlt. Das Kind hatte ihr gegenüber geäußert, dass es geschlagen wird, das aber keinesfalls erzählen darf – dem Kind war verboten worden, darüber zu sprechen.
In einem solchen Fall muss man befürchten, dass das Kind zusätzlich bestraft wird, wenn man das als Kinderarzt gegenüber den Eltern direkt anspricht und sie bittet, sich Hilfe zu suchen. In einem solchen Fall ist der Kontakt zum Jugendamt auch ohne vorheriges Gespräch mit den Eltern sinnvoll. Einfach um zu vermeiden, dass das Kind von den Eltern direkt verantwortlich gemacht und bestraft wird dafür, dass es sich geäußert hat.
Wenn ich Sorge habe, dass sich die Situation für das Kind erst mal verschlechtert, wenn ich mit den Eltern spreche, dann führe ich das Gespräch mit den Eltern nicht. Das heißt aber nicht, dass ich dann nicht tätig werde, sondern dann muss ich mir eine Alternative überlegen.
Medscape: Das Bundeskinderschutzgesetz ermöglicht es seit 2012, ohne Bruch der Schweigepflicht das Jugendamt zu informieren. Wie bekannt ist das?
Berthold: Repräsentative Daten gibt es dazu nicht. Ich weiß aber aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen in- und außerhalb der Hotline, dass es noch nicht so bekannt ist, wie es bekannt sein müsste. Tatsächlich ist es so, dass zum Teil kein Unterschied gemacht wird, ob man die Polizei informieren darf oder das Jugendamt. Der Unterschied ist häufig nicht bekannt.
Meiner Erfahrung nach besteht noch immer eine große Handlungsunsicherheit insbesondere bei den Ärztinnen und Ärzten, die nicht jeden Tag mit Kindern arbeiten und die nicht jeden Tag mit dem Thema Kindesmisshandlung konfrontiert sind.
Medscape: Was sollte der Arzt tun, wenn er einen Verdacht hat?
Berthold: Wenn ich – aufgrund von Hämatomen oder Frakturen – den Verdacht auf eine körperliche Misshandlung habe, ist eine medizinische Abklärung sinnvoll und notwendig. Die kann in einer spezialisierten Einrichtung erfolgen. Dazu überweise ich das Kind zur weiteren Diagnostik an die Kinderschutzambulanz – oder, wenn es ein kleines Kind mit einer erheblichen Verletzung ist, in die Klinik.
Und ich bespreche mit den Eltern, dass ich mir Sorgen mache wegen eines Befundes, der entweder nicht erklärbar ist oder der weiteren Abklärung bedarf. In Zweifelsfällen ist ein Anruf bei der Kinderschutzhotline sinnvoll.
Medscape: Bei einer Überweisung zur weiteren Diagnostik fragen die Eltern doch nach, oder?
Berthold: Ja. Es ist häufig so, dass die Eltern dann zurückfragen, ob man ihnen etwas vorwerfen will. Ich erlebe immer wieder, dass man um das Thema nicht herumkommt, auch wenn man ja häufig empfiehlt, dass man den Verdacht der Gewaltausübung nicht gleich ansprechen sollte.
Kommen solche Rückfragen von den Eltern, dann sollte man sich transparent verhalten und sagen: „Tatsächlich ist das ein Befund, den ich auch sehe, wenn Kinder von schwerer Gewalt betroffen sind, das muss deshalb dringend abgeklärt werden.“ Dann muss man sein weiteres Vorgehen davon abhängig machen, wie die Eltern darauf reagieren. Sie müssen das Interesse haben, Gefahr von ihrem Kind abzuwenden. Und wenn Eltern auf einen solchen Verdacht hin nicht adäquate Schritte unternehmen, dann bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, als das Jugendamt einzuschalten.
Und in vielen anderen Fällen – gerade, wenn es um Vernachlässigung geht – ist das vertrauensvolle Gespräch mit den Eltern, in Verbindung mit weiteren kurzfristigen Terminen, um am Ball zu bleiben, um zu unterstützen, häufig zielführend und reicht aus. Denn nicht selten entsteht Vernachlässigung aus einem Mangel an Ressourcen, den man durch externe Unterstützung ausgleichen kann.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Diesen Artikel so zitieren: Verdacht auf Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung? Kinderschutzhotline bietet Hilfe an – Arzt erklärt was zu tun ist - Medscape - 5. Apr 2023.
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