Soziale Isolation, Einsamkeit und Herzgesundheit: In einem Anfang August 2022 veröffentlichten Scoping Review im Journal der American Heart Association (JAHA) wird ein direkter Zusammenhang zwischen sozialer Isolation, koronarer Herzkrankheit und Schlaganfallsterblichkeit aufgezeigt. Ein kürzlich erschienener Kommentar von Dr. Julianne Holt-Lunstad und Dr. Carla Perissinotto im New England Journal of Medicine greift das Thema Vereinsamung ebenfalls auf. Und in UK wurde 2018 ein Ministerium gegründet, das die Versuche der Regierung koordinieren soll, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu holen.

Prof. Dr. Volker Köllner
Aber wie ist die Situation in Deutschland: Wird der Einfluss von sozialer Isolation und Einsamkeit auf die Herzgesundheit unterschätzt? Medscape sprach darüber mit Prof. Dr. Volker Köllner, Ärztlicher Direktor des Reha-Zentrums Seehof in Berlin und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Klinische Psychotherapie, Prävention und Psychosomatische Rehabilitation (DGPPR) e.V.
Medscape: Hinweise, dass sich soziale Isolation negativ auf die Gesundheit auswirkt, gibt es ja schon länger. Wie ordnen Sie vor dem Hintergrund die beiden Veröffentlichungen ein?
Köllner: Einen Zusammenhang vermutet man diesbezüglich schon länger, aber gerade in der Kardiologie sind klare empirische Belege entscheidend, um Behandlungsempfehlungen auszusprechen und deren Umsetzung zu bewirken.
Insofern ist der Scoping Review der American Heart Association im JAHA sehr wichtig, weil er die gesamte vorhandene Evidenz klar, anschaulich und übersichtlich zusammenfasst. Die Psychokardiologie ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell und konsequent in der Kardiologie auf neue Evidenz reagiert wird. Deshalb ist das Review im JAHA eine sehr hilfreiche und richtungsweisende Publikation.
Hinzu kommt: Wenn jemand z.B. in MedLine eine Recherche durchführt, wird er bei den psychischen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen eher nach Depressionen suchen – nicht aber nach Einsamkeit oder sozialer Isolation. Auch deshalb war es wichtig, diese fundierte Publikation so prominent zu platzieren.
Definitiv weisen das Statement der AHA und der Kommentar von Holt-Lunstad und Perissinotto auf die Dringlichkeit hin. Die geballte Zusammenstellung macht den Handlungsbedarf deutlich. Und der Kommentar ist ja ein sehr emotionaler Appell, das Thema endlich ernst zu nehmen.
Medscape: Haben Vereinsamung und soziale Isolation in den vergangenen Jahren zugenommen?
Köllner: Vieles spricht dafür. Denn wir haben immer mehr Single-Haushalte, es gibt immer mehr Familienstrukturen, die zerbrechen. Dies sind natürlich Faktoren, die Einsamkeit fördern. Auch leben immer mehr alte Menschen allein.
Nicht zu vergessen: Wichtige Faktoren waren die Lockdowns in der Corona-Pandemie. Gerade dazu besteht erheblicher Forschungsbedarf. Kinder und Jugendliche waren durch die Schulschließungen extrem betroffen, alte Menschen in Pflegeeinrichtungen durch die vorübergehenden Besuchsverbote ebenfalls. Die Lockdowns stellen sozusagen eine Art Feldstudie zum Thema Einsamkeit dar, und dazu gibt es noch viel auszuwerten.
Medscape: Wird der Einfluss von sozialer Isolation und Einsamkeit auf die Herzgesundheit unterschätzt? Sowohl in der Gesundheitspolitik als auch von Ärzten und in der Öffentlichkeit?
Köllner: Absolut. Ich glaube, der Zusammenhang ist bisher sehr unterschätzt worden. Selbst wir in der Psychokardiologie, die besonders auf das Psychosoziale schaut, hatten vornehmlich die Depression und die posttraumatische Belastungsstörung als Risikofaktoren im Blick. Daten zu Einsamkeit und sozialer Isolation sind erst in den letzten 10 Jahren immer mehr ins Blickfeld gekommen.
Auch insgesamt in der Medizin hat dieser Faktor bislang keine große Rolle gespielt. Vielleicht auch deswegen, weil unsere ärztlichen Einflussmöglichkeiten – zumindest auf den ersten Blick – begrenzt sind. Wenn man genauer hinschaut, sieht es aber etwas günstiger aus.
Medscape: In UK gibt wurde 2018 ein Ministerium gegründet, das die Versuche der Regierung koordinieren soll, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu holen. Um das Ministerium selbst ist es still geworden, wenngleich das Netzwerk gegen Einsamkeit – an dem mehrere Ministerien beteiligt sind – Jahresberichte herausgibt, die sich mit den verschiedenen Aspekten von Einsamkeit und sozialer Isolation beschäftigen. Was halten Sie von solchen Ansätzen?
Köllner: Im Prinzip halte ich den Ansatz für sinnvoll. Ich bin mir nicht sicher, ob es dieses Ministerium noch gibt. Ich frage mich schon: Muss es gleich ein ganzes Ministerium sein? Das vermittelt ein wenig den Eindruck von Aktionismus.
Dass es aber eine spezielle Stelle gibt – vielleicht im Gesundheitsministerium oder im Sozialministerium angesiedelt, eine Stabsstelle –, die sich dieses wichtigen Themas annimmt und es mehr in die Öffentlichkeit rückt und Maßnahmenpläne koordiniert, das fände ich sehr wichtig. Denn ich glaube schon, dass wir in der Gesellschafts- und Gesundheitspolitik hier deutlich zu wenig tun.
Medscape: Was können Ärzte tun, um den Blick mehr darauf zu lenken? Haben Sie eine Empfehlung für niedergelassene Kardiologen und Hausärzte?
Köllner: Allein die Information darüber, dass es diesen Risikofaktor gibt, ist sehr hilfreich. Denn wenn ich als Arzt einen Risikofaktor nicht auf dem Schirm habe, dann werde ich den Patienten dazu auch nicht beraten. Wenn ich den Risikofaktor hingegen kenne, kann ich den Patienten darauf aufmerksam machen.
Ein Beispiel dazu: Eine der erfolgreichsten Methoden der Rauchentwöhnung ist immer noch der ärztliche Rat, mit dem Rauchen aufzuhören. Klar, nicht jeder Raucher hört sofort damit auf, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Im Endeffekt hilft das direkte Ansprechen doch sehr gut.
Zum Thema Einsamkeit und soziale Isolation geht das natürlich auch. Etwa indem der Arzt sagt: „Eine Sache fällt mir bei Ihnen auf – Sie haben eben gesagt, dass Sie sich einsam fühlen und sich sehr zurückziehen. Wissen Sie eigentlich, dass das auch ein Risikofaktor für Ihr Herz sein kann?“
Wenn der Arzt diese Information weitergibt, dann kann der Patient selbst etwas tun. Wenn der Arzt das dem Patienten aber gar nicht mitteilt, dann kann er auch nichts unternehmen. Und gerade ältere Menschen, die ein bisschen ängstlicher sind, neigen sehr dazu, sich zu Hause zu verkriechen und zu denken: „Wenn ich nicht vor die Türe gehe, bin ich sicher.“
Aber nur zu Hause zu sitzen ist keine Lösung. Als Arzt kann man über das direkte Ansprechen einen Ansporn geben, sich wieder mit alten Freunden zu verabreden oder soziale Aktivitäten in der Gemeinde wahrzunehmen.
Gerade in der Kardiologie sind Herzsport-Gruppen eine gute Möglichkeit, etwas für die Herzgesundheit und gleichzeitig gegen Einsamkeit zu tun. Neben dem präventiven Effekt von Bewegung auf das Herz-Kreislauf-System kommen 2 Zusatzeffekte hinzu: Der eine ist, dass Bewegung ähnlich antidepressiv wirkt wie ein Antidepressivum. Dazu gibt es viele kontrolliert-randomisierte Studien.
Der andere Zusatzeffekt ist, dass die Teilnahme an Herzsport-Gruppen auch gegen Einsamkeit hilft. Denn Herzpatienten werden dadurch genötigt, wenigstens einmal die Woche rauszugehen. Neben der Teilnahme am Sport werden darüber soziale Kontakte aufgebaut, in vielen Gruppen entstehen gemeinsame Unternehmungen wie Weihnachtsfeiern u.ä..
Man denkt vielleicht, wir brauchen hier eine spezielle Intervention gegen Einsamkeit, aber man kann auch vorhandene Ressourcen nutzen. Gerade bei den Herzsport-Gruppen gibt es flächendeckend eine gute Versorgung.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Credits:
Photographer: © Motortion
Lead image: Dreamstime.com
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Diesen Artikel so zitieren: Ein Psychokardiologe erklärt, wie sich Einsamkeit auf die Herzgesundheit auswirkt, und gibt Tipps - Medscape - 29. Mär 2023.
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