Die Prognose von Überlebenszeit stellt ein sehr herausforderndes und ethisch empfindliches Thema im Umgang mit schwer kranken und sterbenden Menschen dar. Die Frage „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“ beinhaltet ganz unterschiedliche Facetten, die für den Lebens- und Behandlungskontext des betroffenen Patienten essenziell sind, erklärt Prof. Dr. Lukas Radbruch, Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn.
Doch so klar, wie vom Patienten gewünscht, lässt sich die Frage „Wie lange habe ich noch?“ nicht beantworten. „Wie wir mit Prognosen umgehen, ist für uns natürlich ein Standardthema. Und tatsächlich ist immer noch, nach vielen Jahren, meine erste Antwort: ‚Das weiß nur der liebe Gott‘“, sagt Radbruch.
Patienten in fortgeschrittenen Stadien einer Tumorerkrankung möchten häufig wissen, wie lange sie noch zu leben haben. Auch für den Arzt spielt die Einschätzung der Überlebenszeit eine wichtige Rolle bei therapeutischen Entscheidungen. Der klinische Eindruck des Arztes führt allerdings bei 80% der Tumorpatienten zu einer sehr ungenauen Einschätzung.
In den letzten Jahren werden zunehmend Scores als Hilfsmittel zur Prognose-Einschätzung diskutiert – wie ECOG PF, KPS, PPS, PPI, PaP, PiPS. Sie berücksichtigen u.a. den Allgemeinzustand (Karnofsky-Index) und bestimmte Symptome (wie z.B. Atemnot, Dysphagie, Verwirrtheit). Verschiedene angepasste Scores werden in Studien eingesetzt.
Im deutschen Sprachraum wird vorwiegend Gebrauch von 2 Messinstrumenten gemacht: dem Palliative Prognostic Index (PPI) und dem Palliative Prognostic Score (PaP-S). Der PPI ist ein ist ein multidimensionaler Score des kurz- und mittelfristigen Überlebens, der die folgenden Punkte einschließt:
den Wert der Palliative Performance Scale (bewertet Gehen, Lebensaktivitäten, Fähigkeit, auf sich selbst aufzupassen, orale Aufnahme und Bewusstseinsniveau),
die Nahrungsaufnahme (unterteilt in normal, mäßig reduziert und stark reduziert),
Ödeme (vorhanden, abwesend),
Dyspnoe in Ruhe (vorhanden, abwesend) und
Delirium.
Die Gesamtpunktzahl ordnet den Patienten dann einer prognostischen Klasse zu:
PPI > 6: Überleben weniger als 3 Wochen
PPI > 4: Überleben weniger als 6 Wochen
PPI ≤ 4: Überleben mehr als 6 Wochen
Scores: Für Studien sinnvoll, für die Prognose am Bett nur bedingt
Doch wie geeignet sind diese Scores für die Einschätzung der Prognose? Man muss unterscheiden zwischen ihrem Einsatz in Studien und dem Einsatz am Bett des Patienten. Für letzteres eignen sie sich nur bedingt, betont Radbruch. Denn der Wert dieser Instrumente liegt eher in der Beschreibung von Patientengruppen als in der Beurteilung individueller Patienten. „Die Genauigkeit dieser Scores für Studien ist nicht schlecht“, sagt Radbruch.
Man müsse sich aber auch die Bedeutung der Ergebnisse klar machen: Ergibt der Score beispielweise, dass 60% der Betroffenen mit einem bestimmten Score-Wert innerhalb von 3 Wochen gestorben sind, dann zeigt das eben auch, dass 40% der Patienten nach 3 Wochen noch am Leben sind.
Die Scores sind vor allem für Studien entwickelt worden. Dafür seien sie auch geeignet, weil sie in einer speziellen Patientengruppe mit durchschnittlicher Belastung etwas anzeigen und Anhaltspunkte liefern, so Radbruch. „Aber daraus für den einzelnen betroffenen Patienten abzuleiten, dieser Patient hat einen Score von 20 und fällt damit in die Hochrisikogruppe – das wäre aus meiner Sicht vermessen. Denn so genau sind diese Scores nicht.“
Überlebenszeiten von Studien können nur grobe Anhaltspunkte bieten. Denn die individuellen Patienten weisen häufig andere Charakteristika auf als Studienpatienten, beispielsweise hinsichtlich Alter, Komorbiditäten, kognitiver Einschränkungen oder wegen ihrer Gebrechlichkeit.
Für die Einschätzung des einzelnen Patienten spielt deshalb das Bauchgefühl noch immer eine wichtige Rolle. „Wenn ich das bei der Teambesprechung diskutiere und nicht nur ich alleine, sondern wir alle damit rechnen, dass ein Patient in Kürze stirbt, dann sind wir mit dieser gemeinsamen Einschätzung besser als jeder Score.“
Wichtige Hinweise zur Überlebenszeit liefert die Überraschungsfrage
Wichtige Hinweise zur Einschätzung der Überlebenszeit liefert die Überraschungsfrage. „Ich frage also nicht: ‚Wie fällt das Ergebnis des Prognose-Scores aus? Wie lange ist die Überlebenszeit dieses Menschen?‘ Sondern ich frage stattdessen: ‚Würde es mich überraschen, wenn dieser Patient innerhalb der nächsten 24 Stunden stirbt?‘ Oder: ‚Würde es mich überraschen, wenn dieser Patient innerhalb der nächsten 3 Tage sterben würde?‘ Wenn die Antwort dann lautet: ‚Nein, das würde mich nicht überraschen‘, dann ist die Chance ziemlich hoch, dass es auch passiert“, erklärt Radbruch.
Daraus lasse sich natürlich keine 90%ige Sicherheit ableiten, „aber es ist dann so, dass ich den Angehörigen sagen kann: ‚Wenn Sie ihren Angehörigen noch einmal sehen, sich verabschieden wollen, dann kommen Sie besser heute noch vorbei‘“.
Die Überraschungsfrage kann sowohl für längere wie auch für kürzere Zeiträume zumindest einen klaren Warnhinweis geben, bei welchen Patienten die Überlebenszeit vielleicht viel kürzer ist als gedacht.
Ärzte überschätzen die Lebenserwartung oft
Grundsätzlich allerdings fallen ärztliche Prognosen deutlich zu optimistisch aus. „Tatsächlich zeigen Studien, dass Ärzte die Lebenserwartung ihrer Patienten in der Regel um den Faktor 5 überschätzen, das gilt auch für die Palliativmedizin“, sagt Radbruch. Prognose-Scores können hier deshalb eine wichtige Korrektiv-Funktion einnehmen.
So zeigen die Ergebnisse einer Studie aus 2009 von Radbruch und seinen Kollegen, dass Ärzte die Überlebenszeit ihrer Patienten im Durchschnitt um das Vierfache überschätzten. Eingeschlossen waren 83 Patienten. PPI und PaP-S wurden zusätzlich zum Kerndatensatz der Hospiz- und Palliativpflege-Evaluation für Patienten ausgewertet, die auf Palliativstationen in Aachen, Bonn und Köln aufgenommen wurden. Die Überlebenszeit wurde mit den Schätzungen der Ärzte und den prognostischen Scores verglichen.
Radbruch und seine Kollegen kommen zu dem Schluss, dass prognostische Scores zwar nicht in der Lage sind, eine genaue, zuverlässige Prognose für den einzelnen Patienten zu erstellen. Dennoch können sie für die ethische Entscheidungsfindung und für Teambesprechungen verwendet werden.
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Diesen Artikel so zitieren: „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“ Was Prognose-Scores in der Palliativmedizin leisten – und wie Ärzte mit der Frage umgehen sollten - Medscape - 28. Mär 2023.
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