„Vagina auf einem Chip“: Wissenschaftler forschen mit Organ-Modellen an neuen Therapien – etwa gegen Infektionen

Interessenkonflikte

27. März 2023

Seit Jahren wird gefordert, den weiblichen Körper sowie die Gesundheit von Frauen endlich besser zu erforschen. Die weltweit erste „Vagina auf einem Chip“, die kürzlich am Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering der Harvard Medical School in Boston entwickelt wurde, könnte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. „Die Gesundheit von Frauen erfährt nicht die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht“, sagt Dr. Don Ingber, der die Forschungsgruppe leitet, die den Vagina-Chip erschaffen hat.

 
Die Gesundheit von Frauen erfährt nicht die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht. Dr. Don Ingber
 

Der Vagina-Chip zog schnell die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, nachdem Ingber und sein Team Ende November in Microbiome darüber berichtet hatten [1]. Aber die Wissenschaftler erhoffen sich mehr als nur Schlagzeilen. Sie sehen den Chip als einen Weg, die Erforschung der vaginalen Gesundheit zu erleichtern und die Tür für dringend benötigte neue Therapien zu öffnen.

Es gibt bereits mehr als 15 Organe auf Chips

Inzwischen haben die meisten von „Organen auf Chips“ gehört: winzige Devices von der Größe eines USB-Sticks, die die biologische Aktivität menschlicher Organe nachahmen sollen. Diese Glas-Chips enthalten lebende menschliche Zellen in Furchen, die das Vorbeifließen von Flüssigkeiten erlauben, die die Funktion der Zellen entweder stören oder erhalten.

Bisher haben Ingber und sein Team mehr als 15 Organ-Chip-Modelle entwickelt, darunter Chips, die die Lunge, den Darm, die Nieren und das Knochenmark nachahmen.


Der Vagina-Chip könnte Wissenschaftlern dabei helfen, neue Therapien für bakterielle Vaginose, Scheidenpilzinfektionen (Candidiasis), Chlamydien und Endometriose zu finden.

Den Ausschlag gab eine tropische Kinderkrankheit

Die Idee, einen Vagina-Chip zu entwickeln, erwuchs aus Forschungsarbeiten zur Environmental Enteric Dysfunction (EED), einer in ärmeren tropischen und subtropischen Ländern bei Kindern vorkommenden Darmerkrankung. In diesem Zusammenhang entdeckte Ingber nämlich, wie stark das Mikrobiom der Kinder die Erkrankung beeinflusste.

Ausgehend von den Arbeiten zu EED, die die Gates Foundation gefördert hat, richtete die Stiftung ihre Aufmerksamkeit auf die Gesundheit von Neugeborenen – speziell auf die Auswirkungen der bakteriellen Vaginose. Bakterielle Vaginose tritt weltweit bei 1 von 4 Frauen auf und ist mit Frühgeburtlichkeit sowie HIV-Infektionen, HPV-Persistenz und Gebärmutterhalskrebs in Zusammenhang gebracht worden.

Bei der Gründung des Vaginal Microbiome Research Consortium bat die Foundation Ingber, einen Organ-Chip zu erzeugen, der das Mikrobiom der Vagina nachahmt. Das Ziel war, „lebende biotherapeutische Produkte“ zu testen – oder lebende Mikroorganismen wie Probiotika, die die Gesundheit des vaginalen Mikrobioms wieder herstellen könnten.

Es gebe keine anderen präklinischen Modelle, um solche Tests durchzuführen, sagt Ingber: „Der Vagina-Chip ist eine Möglichkeit, Fortschritte zu machen.“

Drängen auf mehr Forschung zur reproduktiven Gesundheit von Frauen

Die Gates Foundation erkannte, dass die reproduktive Gesundheit von Frauen ein großes Problem ist: nicht nur in ärmeren Ländern, sondern auf der ganzen Welt. Als das Projekt fortschritt, hörte Ingber immer wieder von Kolleginnen, wie vernachlässigt die reproduktive Gesundheit von Frauen in der medizinischen Forschung sei. „Da wurde ich hellhörig, und mir wurde bewusst, dass es nur ein Anfang ist“, sagt Ingber.

Nimmt man zum Beispiel die bakterielle Vaginose: Seit 1982 besteht die Behandlung aus einem von 2 Antibiotika. Das liegt teilweise daran, dass es kein Tiermodell für die Forschung gibt. Keine andere Spezies hat das gleiche vaginale Mikrobiom wie der Mensch.

Vagina ist nicht in Petrischale replizierbar

Das macht die Entwicklung einer neuen Therapie zu einer „unglaublichen Herausforderung“, erklärt Dr. Caroline Mitchell, Gynäkologin und Geburtshelferin am Massachusetts General Hospital in Boston und Mitglied des Konsortiums.

Wie sich herausstellte, war es sehr schwierig, die Vagina in einer Petrischale zu replizieren. „Hier kommt der Vagina-Chip ins Spiel und eröffnet neue Möglichkeiten“, so Mitchel. „Er hat keinen extrem hohen Durchsatz, aber immer noch einen viel größeren Durchsatz als eine klinische Studie am Menschen.“ Von daher könnte der Vagina-Chip Wissenschaftlern dabei helfen, neue Therapien sehr viel schneller zu finden.

 
Die Gesundheit von Frauen erfährt nicht die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht. Dr. Don Ingber
 

Wie Ingber sieht auch Mitchell den Chip als einen Weg, mehr Aufmerksamkeit auf die Wissenslücken in der weiblichen Reproduktionsmedizin zu lenken. „Die reproduktive Gesundheit von Frauen war über Jahrzehnte unzureichend finanziert, ihre wurde keine Priorität zugemessen, sie wurde weitgehend ausgeblendet“, sagt sie.

Neue Therapien auch für Scheidenpilz, Chlamydien und Endometriose

Über die bakterielle Vaginose hinaus könnte der Chip Wissenschaftler auch dabei helfen, neue Therapien für Candidiasis, Chlamydien und Endometriose zu finden. Wie bei der bakteriellen Vaginose gibt es auch bei der Behandlung von Scheidenpilzinfektionen seit Jahrzehnten keine Fortschritte. Auch die Endometriose bleibt unzureichend erforscht, obwohl 10% der Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter davon betroffen sind.

Auch Versuche, eine Impfung gegen Chlamydien zu entwickeln – die das Fortpflanzungssystem von Frauen dauerhaft schädigen können – ziehen sich seit Jahren hin. Zwar gibt es einige Mausmodelle, die in der Chlamydien-Forschung genutzt werden können, aber es ist schwer zu sagen, ob sich die damit gewonnen Erkenntnisse auf Menschen übertragen lassen – angesichts der Unterschiede im vaginalen und zervikalen Mikrobiom.

Komplexere Chips verknüpfen Vagina und Zervix

„Auch über das Milieu in der Vagina und im Gebärmutterhals wissen wir sehr wenig“, so Mitchell. Hierfür entwickelt die Forschungsgruppe um Ingber komplexere Chips, die die Vagina und die Zervix nachahmen. Eines seiner Teammitglieder will die Chips einsetzen, um Unfruchtbarkeit zu untersuchen. Bereits verwendet haben die Wissenschaftler die Chips, um zu beobachten, wie bakterielle Vaginose und Veränderungen des Zervixschleims beeinflussen, wie Spermien sich durch den Fortpflanzungstrakt bewegen.

 
Auch über das Milieu in der Vagina und im Gebärmutterhals wissen wir sehr wenig. Dr. Caroline Mitchell
 

Das Labor verknüpft mittlerweile Vagina- und Zervix-Chips, um Virusinfektionen des Gebärmutterhalses, wie HPV, und alle Arten von bakteriellen Erkrankungen des Vaginaltrakts zu untersuchen. Sie tragen Zervixschleim auf die Vagina-Chips auf und hoffen so herauszufinden, wie das reproduktive Gewebe von Frauen auf Infektionen und Entzündungen reagiert.

 
Ich sage immer, dass Organ-Chips wie synthetische Biologie auf Ebene von Zellen, Gewebe und Organen sind. Dr. Don Ingber
 

„Ich sage immer, dass Organ-Chips wie synthetische Biologie auf Ebene von Zellen, Gewebe und Organen sind“, sagt Ingber. „Man startet simpel und schaut, ob man eine klinische Situation nachahmen kann.“

Selbst Erforschung des Menstruationszyklus auf einem Chip könnte möglich werden

Da die Chips nun immer komplexer werden – etwa durch die Integration von Blutgefäßen und weiblichen Hormonen – geht Ingber davon aus, dass es künftig möglich sein könnte, die hormonellen Veränderungen während des Menstruationszyklus zu untersuchen. „Wir könnten anfangen, die Effekte des Zyklus im Verlauf der Zeit sowie andere Arten von hormonellen Effekten zu erforschen“, sagt er.

Ingber stellt sich auch vor, den Vagina-Chip mit anderen Organ-Chips zu verknüpfen: Es ist ihm bereits gelungen, 8 verschiedene Organ-Chips miteinander zu verbinden. Aber fürs Erste hofft die Forschungsgruppe, dass der Vagina-Chips das Verständnis der grundlegenden Reproduktionsbiologie der Frau verbessern wird und die Entwicklung neuer Medikamente für die Gesundheit von Frauen beschleunigt.

Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und angepasst.

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