Hersteller von Säuglingsnahrung werben häufig mit positiven Effekten wie „unterstützt die Entwicklung des Gehirns, der Augen und des Nervensystems“, „stärkt das Immunsystem“, „hilft bei Wachstum und Entwicklung“. Doch inwieweit sind diese Angaben auf Säuglingsnahrung tatsächlich von wissenschaftlicher Evidenz gedeckt?
Die Ergebnisse einer im British Medical Journal erschienenen internationalen Querschnittserhebung fallen recht ernüchternd aus: 74% der Produkte, für die mit spezifischen gesundheitsbezogenen Vorteilen geworben wurde, weisen keine wissenschaftliche Referenz auf [1].
Dr. Ka Yan Cheung vom Imperial College London und Kollegen hatten dazu 757 Säuglingsnahrungsprodukte im Zeitraum von 2020 bis 2022 untersucht. Sie fanden nicht nur heraus, dass für die meisten Produkte keine wissenschaftliche Referenz angegeben wurde. Auch bei den Produkten, für die eine Referenz vorlag, handelte es sich nur zu 56% um die Ergebnisse klinischer Studien. Die übrigen Angaben bezogen sich auf Rezensionen, Meinungsartikel oder Tierstudien. Außerdem wiesen 88% der Studien Autoren auf, die entweder von der Lebensmittelindustrie finanziert wurden oder direkt für sie arbeiteten.
Die Forschenden erinnern daran, dass es sich um die Ergebnisse von Beobachtungen handelt, und weisen auf mögliche Unstimmigkeiten bei der Datenerfassung hin. Sie heben aber auch hervor, dass für die meisten Produktangaben eine wissenschaftliche Referenz fehlt und dass die Angaben nicht durch solide klinische Studien belegt wurden.
WHO-Kodex soll verhindern, dass Werbung den Stillerfolg untergräbt
Cheung und Team haben in ihre Analyse sowohl an Verbraucher gerichtete Angaben einbezogen als auch Angaben, die sich an die Angehörigen von Gesundheitsberufen richten. Prof. Dr. Berthold Koletzko, Leiter der Abteilung Stoffwechsel- und Ernährungsmedizin am Dr. v. Haunerschen Kinderspital der Universität München, kritisiert, dass die Forschenden diese Daten allerdings nicht getrennt ausgewiesen haben: „Das wird in dieser Arbeit lediglich vermischt ausgewertet, was methodisch äußerst problematisch ist“.
Der 1981 verabschiedete WHO-Kodex „Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten“ soll sicherstellen, dass für nicht gestillte Kinder geeignete Ersatznahrung zur Verfügung steht, und soll verhindern, dass die Werbung für Säuglingsnahrung den Stillerfolg untergräbt oder beeinträchtigt.
Der Kodex erlaubt aber, dass die Hersteller faktische und wissenschaftsbasierte Aussagen an Angehörige der Gesundheitsberufe kommunizieren können, damit diese Familien mit Säuglingen, die eine Flaschennahrung brauchen, entsprechend beraten können.
Deshalb ordne er die Studie auch eher als politische denn als wissenschaftsbasierte Arbeit ein, so Koletzko, der auch Vorsitzender der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ) ist.
Kodex aus Sicht der Kinder- und Jugendmediziner nur zum Teil umgesetzt
Nach Einschätzung von Cheung und Team „mangelt es beim Zustandekommen der Angaben auf Säuglingsnahrung noch immer an Transparenz“. Sie halten es für „erforderlich, die Vorschriften zum Vertrieb für Muttermilchersatz zu überarbeiten“.
Auch in Deutschland besteht dazu offensichtlich noch Nachholbedarf. Rechtslage ist, dass Säuglingsnahrung in der EU nicht mit gesundheits- oder nährwertbezogenen Angaben („health or nutrition claims“) beworben werden darf.
„Aus Sicht der Kinder- und Jugendmedizin ist der WHO-Kodex in den Mitgliedsländern der EU aber nur zum Teil umgesetzt“, sagt Koletzko. Zwar gibt es klare Beschränkungen für Säuglingsanfangsnahrung, für die nicht öffentlich geworben werden darf – z.B. mit Anzeigen in Publikumsmedien. Das gilt aber nicht für Folgenahrungen, die ab dem Alter von etwa 6 Monaten eingesetzt werden: Für sie darf geworben werden.
Das Problem dabei: „Die Verpackungen für Säuglingsanfangsnahrung und für Säuglingsfolgenahrung sehen ganz gleich aus, nur steht auf der einen Verpackung die Zahl 1 und auf der anderen Verpackung die Zahl 2. So wird mit der Werbung für die Folgenahrung auch für die Anfangsnahrung geworben. Wir brauchen eine konsequentere Begrenzung der Werbung von Säuglingsnahrungen im ganzen ersten Lebensjahr – mit einer Regelung, in der die Werbung für Folgenahrung den gleichen Beschränkungen unterliegt wie die für Säuglingsanfangsnahrung“, erklärt Koletzko.
Gesetz wird auch in anderer Hinsicht unterlaufen
Das Gesetz wird aber auch in anderer Hinsicht unterlaufen. Eigentlich darf Werbung für Säuglingsnahrung nicht idealisieren, also nicht den Eindruck erwecken, dass Säuglingsnahrung dem Stillen nahekommt. Die Begriffe „adaptiert, maternisiert, humanisiert“ dürfen deshalb nicht verwendet werden.
Säuglingsnahrungen werden inzwischen Oligosaccharide zugesetzt. Deren Struktur ist dann zwar mit einzelnen Oligosacchariden in der Muttermilch identisch, auf der Verpackung steht aber: „Mit Humanmilch-Oligosacchariden (HMO)“.
„Es ist inakzeptabel, den Begriff ‚humanisiert‘ zu verbieten, gleichzeitig aber zuzulassen, dass Begriffe wie ‚Humanmilch‘ oder die entsprechende Abkürzung ‚HMO‘ in der Werbung für Säuglingsnahrung verwendet werden. Für die Öffentlichkeit kann so der Eindruck entstehen, dass diese Nahrung der Muttermilch ähnlich sei. Das stimmt natürlich nicht, denn die Oligosaccharide der Muttermilch sind viel vielfältiger und komplexer zusammengesetzt als die Oligosaccharide in den Säuglingsnahrungen“, stellt Koletzko klar.
Obwohl also laut geltender Rechtslage nicht idealisiert werden dürfe, „sehen wir das jeden Tag“. Die DGKJ sei schon mehrfach an Ministerien und Behörden herangetreten, aber leider werde nichts unternommen.
Ausgenutzt wird auch die Ausnahmeregelung, dass für Säuglingsnahrung für besondere medizinische Zwecke Aussagen über deren Eigenschaften getroffen werden dürfen. Dies ist angemessen z.B. bei Nahrungen für Säuglinge mit angeborenen Stoffwechselerkrankungen. Das Gesetz schreibt dafür eine medizinische Indikationsstellung und die ärztliche Überwachung vor.
Gesunde Säuglinge brauchen keine Spezialnahrung
„Das Problem ist, dass die Hersteller das auch für Säuglingsnahrungen ausnutzen, die nicht für die Behandlung von Krankheiten notwendig sind. Im Drogeriemarkt findet man z.B. Antispuck-Nahrung oder sogenannte Komfortnahrung, die angeblich Kinder vor Koliken, Schlafstörungen usw. schützen soll“, berichtet Koletzko.
„Doch erstens sind das keine behandlungsbedürftigen Erkrankungen – Koliken verschwinden im Lauf der Zeit wieder von ganz allein –, und zweitens ist die Datenlage dazu außerordentlich schwach“, erklärt Koletzko.
Eltern allerdings, die diese vermeintlich sinnvolle Nahrung im Drogeriemarkt sehen, greifen in dem Glauben, ihrem Sprössling etwas Gutes zu tun, darauf zurück. Das sollte reguliert werden, sagt Koletzko, denn „gesunde Säuglinge brauchen eine solche Nahrung nicht.“
Für die Hersteller sind Antispuck-Nahrung & Co lukrativ, die Angebote liegen im Trend und ihr Absatz hat in den vergangenen Jahren zugenommen.
Selbstregulierung hat nicht funktioniert – Politik sollte einschreiten
Die Auffassung, dass die Politik einschreiten muss, um Säuglinge und Eltern besser vor kommerziellen Interessen zu schützen, teilt auch Dr.Nigel Rollins von der WHO in einem Leitartikel [2]. Rollins betont, dass weder Familien noch Angehörige von Gesundheitsberufen die Zeit hätten, Angaben auf Säuglingsnahrung zu prüfen.
Die Selbstregulierung der Hersteller habe nicht funktioniert, betont Rollins. „Die Regulierungsbehörden müssen daher entscheiden, ob die Verwendung solch offensichtlich irreführender Evidenz akzeptabel ist, oder sie müssen die Nahrungsmittelbranche an höhere Standards binden, bessere Produkte auf der Grundlage hochwertiger Beweise fordern und die Standards überprüfen“, schreibt er.
Rollins sieht in der Studie eine Grundlage für Aufsichtsbehörden, die Angaben auf Säuglingsnahrung zu prüfen und Säuglinge und Eltern „besser vor kommerziellen Interessen zu schützen“.
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Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Falsche Werbeversprechen bei Muttermilchersatz? Kennzeichnung von Säuglingsnahrung unzureichend – WHO-Kodex nicht eingehalten - Medscape - 17. Mär 2023.
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