MEINUNG

Dr. Andreas Schießl von der PSU Helpline: „Es ist in Ordnung, sich selbst Unterstützung zu holen“

Lilith Schreiber

Interessenkonflikte

15. März 2023

Die PSU Helpline bietet telefonische Beratung bei besonderen Belastungssituationen und schwerwiegenden Ereignissen für Mitarbeiter im Gesundheitswesen an. Das Besondere daran: Die Hilfe kommt aus der Kollegenschaft. Dr. Andreas Schießl ist Oberarzt im Fachzentrum für Anästhesie und Intensivmedizin in der Schön Klinik München Harlaching und ärztlicher Leiter des PSU-Akut e.V. Er stellt Details des Modells vor. 

Die PSU Helpline im Überblick

Coliquio: Könnten Sie das Konzept der PSU Helpline genauer beschreiben?

Schießl: Mit der Implementierung des Telefonsystems haben wir die Helpline allen im Gesundheitssystem angeboten. Trotzdem bleibt aber das Prinzip dieser Arbeit die kollegiale Unterstützung. Das heißt, an der Helpline sitzen ausgebildete Peers, Fachkollegen mit Zusatzausbildung oder psychosoziale Fachkräfte aus dem Bereich Klinik. Das stellt sicher, dass die Menschen, die am Telefon sitzen, ein Grundverständnis dafür haben, in welcher Situation der Anrufende steckt. Das spart sehr viel Zeit, wenn man den Berufsjargon kennt oder einfach Feldkompetenz mitbringt.

Bei einer schwierigen Situation in der Klinik denken viele „Mit meinen Kollegen muss ich morgen ja wieder arbeiten – an wen wende ich mich nun?“  Wenn man sich deshalb nach Extern wenden möchte, hat man die Möglichkeit, dies über die Helpline anonym und kostenfrei zu machen – also außerhalb des eigenen Systems.

Wir bieten neben diesen kollegialen Gesprächen die Möglichkeit an, eine Stunde am Werktag erfahrene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten am Telefon zu sprechen, an welche die Peers die Anrufenden dann weiter vermitteln können. Bei diesem Angebot sind drei Gespräche kostenfrei. Das heißt nicht, dass man gleich mit einer Psychotherapie beginnt, sondern erst mal in diesen ein bis drei Gesprächen Zeit hat, sich mit einem Profi die Situation noch einmal genauer anzuschauen. Oft reichen diese ersten ein, zwei Kontakte mit Peer oder Psychologen und Psychologinnen aus. 

Arbeiten während der Pandemie

Coliquio: Haben Sie während der COVID-19-Pandemie eine Zunahme der Inanspruchnahme erlebt?

Schießl: Sowohl die Anruferzahl als auch die Themen sind abhängig von den COVID-19-Wellen gewesen. Gerade am Anfang war es oft die Angst sich anzustecken und es an die Nahestehenden weiterzugeben, welche Anrufende beschäftigt hat. Was aber durchgängig Themen sind, sind schwerwiegende Ereignisse: Die schwierige Geburt, Schockraumerlebnisse, Komplikationen im OP oder auch eine mögliche Medikamentenverwechslung. Diese Themen nehmen im Moment auch mehr zu, weil viele einfach unter immensem Druck, verbunden mit der geringen Personalanzahl, arbeiten und so viele Situationen kritisch werden können. 

Belastungen erkennen

Coliquio: Wie macht es sich bemerkbar, wenn eine Krisensituation einen doch mehr mitnimmt als anfangs angenommen?

Schießl: Manche spüren so eine Verunsicherung in der eigenen Tätigkeit, dass sie beim nächsten Mal noch vorsichtiger sind, sich noch mehr absichern, noch mehr Untersuchungen machen. Betroffene fühlen sich in ihrer Entscheidungsklarheit eingeschränkt, was dann oft leider in die Richtung der Absicherungsmedizin läuft, jedoch eher nicht zu höherer Stabilität führt – und manche mutigen Entscheidungen dann eben nicht getroffen werden. Manchmal ist es jedoch auch so, dass man bestimmte Situationen vermeidet: Dass man sich lieber nicht mehr in den Notarztdienst einteilen lässt oder nicht mehr so gern in den Kreißsaal geht.

Manche Betroffenen reagieren auch körperlich, sie merken, dass sie tachykarder und schwitziger sind und letztlich irgendwie ein Signal von innen bekommen, dass es ihnen in der Situation nicht gut geht. Manche leiden auch unter Intrusionen, also sich aufdrängenden Erinnerungen, und versuchen sie „wegzuschieben“. Wir raten jedoch öfter: „Vermeide das Vermeiden“ – mit sich ehrlich zu sein und genau da hinzuschauen.

Manchmal ist es aber auch im Umgang mit den Kollegen so, dass sie untereinander aggressiver werden, dass Grabenkämpfe mehr auftauchen, weil manchmal die Menschen über das, was sie erlebt haben, gar nicht so gerne sprechen wollen oder denken: „Die anderen halten mich für schlecht“.

Coliquio: Könnten Sie eine der Strategien zur Stressreduktion näher erklären? Gibt es etwas, was Sie selbst als hilfreich erlebt haben?

Schießl: Uns ist es wichtig, keine pauschalen Empfehlungen zu geben, aber natürlich gibt es Tools, die helfen, aus einer Situation auch wieder rauszukommen. Ich empfehle zum Beispiel nach stressigen Situationen, nicht direkt nach Hause zu gehen, sondern lieber noch eine Runde um den Block zu drehen oder eine Straßenbahnstation früher auszusteigen, um die Stresshormone abzubauen.  Auch kann man schauen, was die Ressourcen der Einzelnen sind, was ihnen individuell helfen kann, in dieser Situation Abstand zu haben, aber auch Sicherheit und Stabilität zu bekommen, um wieder handlungsfähig zu sein.

Wir versuchen den Betroffenen solche Tools zur Stabilisierung zu vermitteln. Wichtig ist es jedoch, individuell zu gucken, was für den Einzelnen funktioniert.

Stärken der Hotline

Coliquio: Wo sehen Sie die Stärken der Helpline im Vergleich zu Telefonseelsorge oder auch der betrieblichen Seelsorge?

Schießl: Seelsorger sind Spezialisten für die Seele. Sie bringen Zeit, Ressourcen und die Aufmerksamkeit für die Menschen mit. Das ist für uns sehr wertvoll. Aber die Menschen, die in der Medizin arbeiten, haben natürlich auch einen Fachanteil. Einem Seelsorger nun zu erklären, warum die Intubation schwierig war, führt dazu, dass man sehr viel erklären muss. Es ist viel niedrigschwelliger, viel einfacher für einen Fachkollegen das nachzuvollziehen. 

Seelsorge ist eine gute Unterstützung und soll gerne eine Ergänzung sein. Aber diese Qualität von „Ich muss niemanden erklären, was mir da passiert ist, weil die Person das selbst kennt“ ist das Wirkprinzip unserer kollegialen Unterstützung über PSU Helpline.

Coliquio: Die PSU bietet nicht nur telefonische Unterstützung einzelner Mitarbeitenden an, sondern auch Akutinterventionen für Teams. Wie sieht das konkret aus?

Schießl: Der goldene Weg ist eigentlich, ein Peer-System vor Ort in der Klinik zu haben. Dieses sollte, wenn eine schwierige Situation passiert, auch zügig und selbstverständlich darauf reagieren können. Insbesondere bei multidisziplinären Teams braucht es jedoch eine gewisse Organisation, diese Gruppe der Betroffenen nach dem Vorfall noch einmal zusammen zu holen. In einem schon etablierten Peer-System ist genau das die Aufgabe der Peers. Im Idealfall könnte dann noch jemand von uns dazu geholt werden und vor Ort die Gruppenintervention leiten.

Diese Interventionen bieten wir zurzeit nur im Raum München und in Bayern an, aber es ist der grundsätzliche Gedanke, so ein System vor Ort zu haben und dann mit externer Unterstützung – falls Sie noch notwendig ist – die Intervention durchzuführen.

Eine typische PSU-Maßnahme im Rahmen einer Gruppenintervention ist entweder eine Kurzbesprechung direkt nach dem Ereignis oder eine Nachbesprechung im Abstand weniger Tage. Das Ziel der Begleitung von Teams ist es, dass es kein Tabu mehr darstellt, über die eigene Schwäche oder Vulnerabilität zu sprechen, sondern, dass es sogar erwünscht ist, frühzeitig auch auf seine eigenen Bedürfnisse und aufeinander zu schauen.

Zur PSU Helpline

Die PSU Helpline bietet kollegiale Unterstützung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen bei besonderen Belastungssituationen und schwerwiegenden Ereignissen. Sie ist täglich von 9 bis 21 Uhr unter 0800 0 911 912 oder per E-Mail an info@psu-akut.de erreichbar.

Lokal wird die PSU-Akutintervention von der Stadt München, der bayerischen Landesärztekammer und durch das Gesundheitsministerium Bayern unterstützt. Eine Ausweitung des Angebots in weiteren Bundesländern ist angestrebt.  

Wie sollten Führungskräfte handeln?

Coliquio: Was wünschen Sie sich von Führungskräften – ob nun Chefärztin oder Praxisinhaber – nach einer für das Team belastenden Situation? 

Schießl: Wir sind zu Einzelkämpfern erzogen worden, also „Wenn das zu stark für dich ist, dann bist du zu schwach, und wenn du es nicht schaffst, dann hab‘ ich ja noch genügend Bewerber, die es schaffen können.“  Die Bewerbersituation hat sich jedoch mit der Zeit verändert, aber diese Einstellung hat sich bei vielen nicht verändert. 

Gleichzeitig haben wir im Gesundheitswesen das Idealbild des immer starken, helfenden Menschen, der auf seine eigene Belastung nicht so ganz hinschaut. Das macht es schwieriger, Hilfe anzunehmen und braucht Ermutigung, das zu tun. Auf uns selbst zu achten, im Sinne des Genfer Gelöbnisses, ist natürlich auch im Sinne der Patientensicherheit. Es ist in Ordnung, sich selbst Unterstützung zu holen, um gesund zu bleiben und frühzeitig in die eigene Gesundheit zu investieren. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Führungskräfte, dass sie Raum und Sicherheit geben und zeigen, dass sie spürbare Wertschätzung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schenken und an einer Sicherheitskultur interessiert sind.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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