Hamburg – Rund 86 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn steuern in komplexen dynamischen Netzwerken fast alle sensomotorischen und kognitiven Prozesse. Wie die Informationen in verschiedenen Hirnregionen verarbeitet werden, ist nach wie vor unklar. Vielversprechende Ansätze gibt es aber bereits, die Dynamik neuronaler Netze gezielt zur Behandlung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen zu beeinflussen.
Beim Kongress für Neurowissenschaften der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) e.V. in Hamburg zählten die Dynamik von Hirnnetzwerken bei sensomotorischen und kognitiven Prozessen sowie Störungen der Netzwerkdynamik bei neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbildern zu den Schwerpunktthemen [1].
„Nur wenn wir neuronale Funktionen auf allen Komplexitätsebenen verstehen, können wir innovative Therapien für weit verbreitete neurologische und psychiatrische Erkrankungen entwickeln“, sagte Prof. Dr. Andreas K. Engel, Direktor des Instituts für Neurophysiologie und Pathophysiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Präsident der DGKN und Kongresspräsident, bei der Online-Pressekonferenz [2].
Netzwerkdynamik neuronaler Signale zur Charakterisierung von Bewusstseinszuständen
Bereits vor mehr als 30 Jahren wurde erkannt, dass neuronale Signale im Gehirn dynamisch gekoppelt sind. Welche funktionelle Bedeutung diese Kopplung für die Informationsverarbeitung hat, ist trotz intensiver Forschung bis heute weitgehend ungeklärt.
Genutzt werden Methoden der neurowissenschaftlichen Bildgebung wie Elektroenzephalografie (EEG), Magnetenzephalografie (MEG), strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomografie (MRT) sowie elektrophysiologische Untersuchungen. Modellberechnungen der Daten legen nahe, dass dynamische Kopplungen der Signale im Kortex eine Schlüsselrolle unter anderem bei Gedächtnisleistungen, Denkprozessen und Entstehung der Wahrnehmung haben.
Gezeigt werden konnte bereits, dass sich die Netzwerkdynamik neuronaler Signale zur Charakterisierung von Bewusstseinszuständen eignet. Die neuronalen Signale und die Kopplungsmuster unterscheiden sich bei gesunden Probanden im Wachzustand deutlich von denen bei Personen im Schlaf, unter Narkose oder im Wachkoma. Nach Einschätzung von Engel könnten maschinelle Lernalgorithmen in Zukunft zur Klassifikation von Bewusstseinszuständen verwendet werden.
Veränderungen der Hirnaktivität als Biomarker?
Für die klinische Praxis noch wertvoller erscheinen die Unterschiede bei der Dynamik neuronaler Signale zwischen gesunden Probanden und Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie. „Die charakteristischen Veränderungen der Hirnaktivität im primären auditorischen Kortex kommen sogar als potenzielle Biomarker für die Vorhersage zum klinischen Verlauf von psychiatrischen Erkrankungen wie Psychosen infrage“, berichtete Engel.
Als möglicher Marker einer Schizophrenie gilt aktuell die Gamma-Band-Aktivität im auditorischen Kortex. Laut MEG-Untersuchungen seien die Werte sowohl bei Personen mit erhöhtem Risiko einer Psychose als auch ersten Symptomen im Vergleich zu Kontrollpersonen erniedrigt.
Aktivierung oder Hemmung von Hirnnetzwerken als neue Therapieansätze
Intensiv erforscht werden derzeit neue Therapieansätze, die auf der Aktivierung oder Hemmung von Hirnnetzwerken beruhen. Es sei eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Grundlagenforschern und Klinikern erforderlich, betonte Engel. In greifbarer Nähe steht bereits die Anwendung einer nicht-invasiven Hirnstimulation In der Neurorehabilitation von Schlaganfall-Patienten. „Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren die Hirnstimulation als festen Bestandteil der Schlaganfall-Therapie etablieren werden“, so die Einschätzung von Prof. Dr. Christian Grefkes-Hermann, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main und 1. Vizepräsident der DGKN.
Trotz großer Fortschritte in der Akuttherapie des Schlaganfalls blieben bei vielen Patienten dauerhafte alltagsrelevante Defizite zurück, sagte der Neurologe. Rehabilitative Verfahren hätten oft einen unbefriedigenden Effekt, und die Ergebnisse zeigten eine hohe Varianz. Künftig sei eine Personalisierung der Therapie anhand von Netzwerkmustern möglich, die zu besseren Ergebnissen führen soll, so die Hoffnung der Forscher.
Das Ziel ist es, Hirnareale mit gestörter Netzwerkaktivität nach Schlaganfall gezielt mit Hilfe einer transkraniellen Magnetstimulation (TMS) zu reorganisieren. „Der wichtigste Faktor für die funktionelle Erholung nach einem Schlaganfall ist die neuronale Reorganisation“, so Grefkes-Hermann. Bei der neuen Methode der Neurorehabilitation werden Störungen der Netzwerk-Konnektivität, die mit motorischen Defiziten einhergehen, mit funktioneller MRT (fMRT) zunächst visualisiert.
Die Bildgebung oder das EEG machen diejenigen Hirnareale sichtbar, die am meisten von einer Neurostimulation profitieren können. Anschließend können Nervenzellen in diesem Bereich mit TMS präzise stimuliert werden. Da nach einem Schlaganfall die gesunde Hemisphäre des Gehirns in der Regel überaktiv ist, wird gleichzeitig versucht, den kontraläsionellen Motorkortex zu inhibieren.
Erste Ergebnisse machen Hoffnung. Durch TMS-vermittelte Korrektur pathologischer Konnektivitäten konnten bei einigen Patienten in der Frühphase nach Schlaganfall motorische Defizite gebessert werden, wie Grefkes-Hermann berichtete. Zudem konnten anhand der fMRT-Muster Erholung und Interventionseffekte individuell vorhergesagt werden. Derzeit läuft eine Phase-3-Studie bei 150 Schlaganfall-Patienten, in der die Wirksamkeit des neuen Verfahrens belegt werden soll.
Kombination TMS und EEG
Mit der Kombination einer TMS und der gleichzeitigen Messung der EEG-Aktivität wird derzeit bereits eine Weiterentwicklung von fMRT-Konnektivitätsanalysen erprobt. Dieses Verfahren, das kostengünstiger, zeitlich hochauflösender und direkt am Patientenbett einsetzbar sei, hat nach Einschätzung von Grefkes-Hermann ein hohes Potenzial zur personalisierten Therapieplanung in der klinischen Routine.
Das TMS-EEG-Verfahren ermöglicht zudem eine Vorhersage des Risikos eines Post-Stroke-Delirs, das etwa 30% aller Schlaganfall-Patienten betrifft und das Outcome erheblich verschlechtert, wie Prof. Dr. Ulf Ziemann betonte, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen. In einer Studie bei 33 Patienten mit akutem Schlaganfall konnte mit dem TMS-EEG-Verfahren innerhalb von 48 Stunden nach dem Ereignis die Entwicklung eines Post-Stroke-Delirs mit hoher Genauigkeit vorhergesagt werden.
Als weitere vielversprechende nicht-invasive Methoden zur Aktivierung von Neuronen nannte Ziemann die fokussierte transkranielle Ultraschallstimulation (fTUS) mit niedriger Intensität, die bei chronischen Schmerzen, Demenz, Epilepsie, Schädel-Hirntrauma und Depressionen untersucht wird, sowie die transkranielle Pulsstimulation (TPS), ebenfalls auf Ultraschallbasis. In einer Pilotstudie bei 35 Alzheimer-Patienten wurden mit der TPS innerhalb von 3 Monaten positive Effekte auf Domänen der Kognition erzielt. Die Studie war allerdings nicht kontrolliert, weitere Untersuchungen sind nötig.
Tiefe Hirnstimulation nach Maß
Auch bei der tiefen Hirnstimulation (THS), etablierte Therapie bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen, sei das Ziel eine individualisierte symptombezogene Netzwerkstimulation, berichtete Prof. Dr. Andrea Kühn, Direktorin der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation an der Klinik für Neurologie der Berliner Charité.
Im überregionalen Sonderforschungsbereich ReTune, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 2020 über 4 Jahre hinweg mit 10 Millionen Euro gefördert wird, werden Bildgebungs- und Computer-gestützte Programmieralgorithmen für die THS entwickelt. Sie würden das zeitaufwendige Standardverfahren zur bestmöglichen Einstellung der Stimulationsparameter, das einen mehrtägigen Klinikaufenthalt erfordert, deutlich vereinfachen.
In einer randomisierten Cross-over-Studie bei 35 Parkinson-Patienten wurde bereits die Gleichwertigkeit der schnellen Algorithmen-gestützten THS zur motorischen Symptomkontrolle im Vergleich zum Standardverfahren belegt.
Die neuen Methoden haben das Potenzial, das Outcome von Patienten mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen erheblich zu verbessern, so der Tenor der Wissenschaftler. Allerdings müssen die vorliegenden positiven Daten noch in weiteren Studien validiert werden.
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Credits:
Photographer: © Teeradej Srikijvilaikul
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Diesen Artikel so zitieren: Hirnstimulation nach Schlaganfall und anderen neurologischen Erkrankungen kann Prognose erheblich verbessern - Medscape - 9. Mär 2023.
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