Zum Tag der seltenen Erkrankungen am 28. Februar 2023 haben sich Wissenschaft und Politik dieser chronischen, mitunter lebensbedrohlichen Leiden angenommen. Bis zur richtigen Diagnose vergehen oft Jahre, was mit einem langen Leidensweg für die Betroffenen verbunden ist. Bei 80% aller seltenen Erkrankungen ist das Nervensystem beteiligt. Laut einer Mitteilung setzt sich die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) für bessere Versorgungsstrukturen, Weiterbildung und mehr Forschung ein.
Meist, aber nicht immer genetisch bedingt
Zum Hintergrund: In der Europäischen Union (EU) gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Trotz der geringen Prävalenz sind viele Menschen betroffen. Die Erklärung für die scheinbare Diskrepanz: Es gibt rund 8.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen. Allein in Deutschland leben etwa 4 Millionen Menschen mit Orphan Diseases, in der gesamten EU mehr als 30 Millionen.
Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe von sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Etwa 80% sind genetisch bedingt oder mitbedingt, aber nicht alle seltene Krankheiten haben genetische Ursachen. So gibt es zum Beispiel seltene Infektionskrankheiten, seltene Formen von Autoimmunerkrankungen oder seltene Krebskrankheiten. In etlichen Fällen sind die Ursachen noch nicht geklärt.
Bei vielen seltenen Krankheiten können frühe Symptome kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten. Dazu zählen die proximale spinale Muskelatrophie, die Neurofibromatose, Osteogenesis imperfecta, die Chondrodysplasie oder das Rett-Syndrom. Bei über 50% aller seltenen Leiden manifestiert sich die Erkrankung dagegen erst im Erwachsenenalter – wie bei der Huntington-Krankheit, Morbus Crohn, der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit, der amyotrophen Lateralsklerose sowie beim Kaposi-Sarkom.
Aufgrund der geringen Zahl an Menschen, die von einer bestimmten Erkrankung betroffen sind, und der geringen Zahl an Spezialisten ist es schwer, Studien zu den einzelnen Leiden durchzuführen. Kleine Fallzahlen und niedrige Gewinnerwartungen machen Orphan Diseases für pharmazeutische Hersteller kaum attraktiv. Um Anreize zu schaffen, erlässt die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) bestimmte Gebühren. Firmen profitieren außerdem von einer Marktexklusivität von 10 bis 12 Jahren.
Fehldiagnosen an der Tagesordnung
Für Ärzte bleibt als Herausforderung, eine Seltene Krankheit überhaupt in Erwägung zu ziehen. Stellen sich ihnen Patienten mit Symptomen vor, die von anderen Krankheitsbildern gut bekannt sind, führt die Erfahrung manchmal vorschnell zu einer Diagnose bzw. Fehldiagnose, etwa bei Morbus Fabry: In 39% der Fälle wird zunächst die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung gestellt, in 15% lautete die Erstdiagnose Arthritis, in 7% Fibromyalgie, und bei 13 % der Betroffenen wird das Leiden als psychosomatisch eingestuft.
Fehldiagnosen werden schätzungsweise bei 40% der Betroffenen gestellt. Sie führen zu Fehlbehandlungen, welche die Situation häufig noch verschlechtern. Der Leidensweg der Betroffenen ist lang – im Durchschnitt dauert es mehr als 3 Jahre, bis eine seltene Erkrankung richtig diagnostiziert wird.
Ein Register soll helfen
Diesen Weg will ein spezielles Register für Menschen mit ungeklärter Diagnose (RoUnD), das aktuell im Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) entsteht, verkürzen. Darin werden Daten der Betroffenen hinterlegt und regelmäßig mit dem neusten Forschungsstand abgeglichen.
Nach Angaben von PD Dr. Daniela Choukair, ärztliche Koordinatorin am ZSE Heidelberg, blieben aktuell zirka 2 Drittel der Patienten auch nach Einsatz umfassender genetischer Verfahren ohne Diagnose. „Ein deutschlandweites Versorgungsprojekt ergab, dass insbesondere bei Kindern etwa 1 Viertel der gefundenen genetischen Varianten vormals unbekannt und erst in den letzten 3 Jahren wissenschaftlich beschrieben wurden“, sagt die Expertin. „Daher ist es sinnvoll, die Daten von Patientinnen und Patienten mit einem unauffälligen genetischen Befund nach ca. 2 bis 3 Jahren erneut zu bewerten.
Choukair kritisiert: „Leider fehlte bisher eine systematische Erfassung der Patienten mit aufgrund der Symptome vermuteter seltener Erkrankung, aber unauffälliger genetischer Diagnostik.“ Es sei mehr oder weniger dem Zufall überlassen gewesen, wann die genetischen Daten erneut beurteilt worden seien. „Mit dem Einschluss dieser Patienten in das Register soll damit Abhilfe geschaffen werden.“ Genetische Daten der Patienten würden systematisch erfasst und nach einem definierten Zeitraum erneut beurteilt.
Umfassende Anamnese und körperliche Untersuchung
Erschwerend zur hohen Zahl seltener Erkrankungen kommt hinzu: Viele dieser Leiden sind komplex; meist sind mehrere Organsysteme beteiligt. Symptome überlagern sich, sind variabel, verändern sich also im Laufe der Zeit oder sind von Patient zu Patient unterschiedlich. Auch lassen sich Haupt- und Nebensymptome nur schwer differenzieren. Im klinischen Alltag fehlt es oft an Leitlinien, Diagnosekriterien und interdisziplinärer Vernetzung.
„Gerade vor dem Hintergrund seltener Erkrankungen ist es wichtig, bei der Diagnosestellung breit zu denken und genau hinzuschauen“, erklärt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär und Pressesprecher der DGN. „Dafür sind eine umfassende Anamnese erforderlich sowie eine dezidierte körperliche Untersuchung.“ Passe auch nur eines der Symptome nicht in das Spektrum einer bekannten Erkrankung, sollten Ärzte genau dies nicht ignorieren, sondern vielmehr ihr Augenmerk darauf richten. Eine besondere Bedeutung habe, so Berlit, die Familienanamnese: „80% der Diagnosen lassen sich allein dadurch klären.“
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Seltene Erkrankungen: Oft vergehen Jahre bis zur Diagnose – ein Register soll die Situation verbessern - Medscape - 3. Mär 2023.
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