Antidepressiva zur Therapie von Schmerzen: Schlechte Evidenz für die Wirksamkeit – aber ein Versuch kann sich lohnen

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

6. März 2023

Antidepressiva werden auch zu Behandlung chronischer Schmerzen eingesetzt. Allerdings scheint hier ein pragmatisches Ausprobieren – und Absetzen bei ausbleibendem Erfolg – notwendig zu sein. Laut einer Auswertung von 28 systematischen Reviews mit insgesamt 156 Einzelstudien sind Antidepressiva bei chronischen Schmerzen oft unwirksam [1].

 Der Einsatz von Antidepressiva hat sich in Deutschland von 2000 bis 2019 mehr als verdoppelt. Es wird davon ausgegangen, dass der Off-Label-Einsatz dieser Medikamente bei häufigen Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgie, chronischen Kopfschmerzen und neuropathischen Schmerzen für einen Teil dieses Anstiegs verantwortlich ist.

Prof. Dr. Hans Christoph Diener, Leiter der Abteilung für Neuroepidemiologie am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) der Universitätsklinik Essen, warnt: „Aus dieser Übersichtsarbeit darf man nicht abzulesen, dass es keinen Sinn hat, diese Medikamente einzusetzen. Es gilt wie immer in der Schmerztherapie das Trial-and-Error-Prinzip, man muss es im Zweifelsfall ausprobieren und schauen, ob das Antidepressivum wirkt.“

 
Aus dieser Übersichtsarbeit darf man nicht abzulesen, dass es keinen Sinn hat, diese Medikamente einzusetzen. Prof. Dr. Hans Christoph Diener
 

Antidepressiva haben einen eigenständigen Effekt auf Schmerzen

Dass Antidepressiva eine eigenständige schmerztherapeutische Wirkung hätten, sei tier- und humanexperimentell belegt, so Diener. „Sie wirken auf deszendierende und aszendierende schmerzleitende Systeme, das ist ein eigenständiger therapeutischer Effekt.“ Speziell Trizyklika und den selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Duloxetin hob der Schmerzspezialist in diesem Zusammenhang hervor.

Die 26 systematischen Reviews, die Dr. Giovanni Ferreira von der Sydney School of Public Health an der University of Sydney in Sydney, Australien, und seine Kollegen, auswerteten, umfassen insgesamt 156 Einzelstudien mit mehr als 25.000 Teilnehmenden. Analysiert wurden darin die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von 8 Antidepressivaklassen bei 22 Schmerzerkrankungen in insgesamt 42 separaten Vergleichen.

 
[Antidepressiva] wirken auf deszendierende und aszendierende schmerzleitende Systeme, das ist ein eigenständiger therapeutischer Effekt. Prof. Dr. Hans Christoph Diener
 

Es gibt Evidenz, aber sie ist nicht gut

Die Forschungsgruppe weist darauf hin, dass keiner der eingeschlossenen systematischen Reviews qualitativ hochwertige Evidenz zur Wirksamkeit von Antidepressiva bei Schmerzerkrankungen geliefert habe. Dies liege überwiegend an der Qualität der durchgeführten Studien.

Evidenz für einen Effekt von Antidepressiva fand sich für 9 Schmerzerkrankungen. Aber auch hier erreichte die Evidenz nur bei 4 davon zumindest moderate Qualität: So kann mit Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) bei Rückenschmerzen eine Reduktion von 5,3 Punkten auf einer 100-Punkte-Schmerz-Skala erreicht werden. Und auch bei postoperativen Schmerzen (-7,3 Punkte), neuropathischen Schmerzen (-6,8 Punkte) und Fibromyalgie (Risk Ratio [RR] 1,4) können SNRI Linderung verschaffen.

Außerdem gab es niedriggradige Evidenz für einen Effekt von SNRI bei Schmerzen durch eine Brustkrebstherapie, Depression, Kniearthrose und Schmerzen aufgrund anderer Erkrankungen. Dies galt auch für die Evidenz, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei Depressionen und Schmerzen aufgrund anderer Erkrankungen wirken, und dass Trizyklika bei Reizdarmsyndrom, neuropathischen Schmerzen und chronischen Spannungskopfschmerzen helfen.

In allen anderen Fällen erwiesen sich Antidepressiva entweder als unwirksam oder die Evidenz war nicht eindeutig.

Keine Aussage zu Sicherheit und Verträglichkeit möglich

Die Autoren um Ferreira ergänzen, dass die meisten Daten zu Sicherheit und Verträglichkeit unpräzise gewesen seien, was darauf hindeute, dass die Sicherheit von Antidepressiva bei etlichen Erkrankungen noch immer ungeklärt sei.

Sie räumen ein, dass hinter den meisten Vergleichen nur eine kleine Zahl von Studien gestanden hätten. Darüber hinaus „gelten die Ergebnisse möglicherweise nicht für Antidepressiva, die aufgrund von Symptomen verschrieben wurden, die mit Schmerzerkrankungen einhergehen, etwa Fatigue oder Schlafstörungen“, schreiben sie. 

Auch dass fast die Hälfte der Einzelstudien in den systematischen Reviews Verbindungen zur Pharmaindustrie aufgewiesen hätten, müsse bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.

Einsatz von Antidepressiva bei Schmerzen erfordert differenzierten Ansatz

Die Autorengruppe kommt zu dem Fazit, dass „manche Antidepressiva bei einigen Schmerzerkrankungen wirksam waren. Aber die Wirksamkeit scheint von der Erkrankung und der Antidepressivaklasse abzuhängen. Dies deutet darauf hin, dass ein differenzierter Ansatz erforderlich ist, wenn Antidepressiva gegen Schmerzen verordnet werden.“

Diener weist im Gespräch mit Medscape darauf hin, dass die Dosierung von Antidepressiva in der Schmerztherapie deutlich niedriger sei als in der Depressionstherapie. Dies könne bei Patienten mit chronischen Schmerzen und einer Depression zu Therapiefehlern führen. „Bei Patienten, die eine Schmerzerkrankung, aber auch eine deutliche Depression haben, muss man die Dosis verordnen, die für eine ausreichende Behandlung der Depression erforderlich ist“, betont er.

Antidepressiva für die meisten Schmerzpatienten eine Enttäuschung?

In einem begleitenden Editorial [2] schreiben Dr. Cathy Stannard vom NHS Gloucestershire Integrated Care Board, Gloucester, und Dr. Colin Wilkinson vom Centre for Pain Research der University of Bath, Bath, beide im Vereinigten Königreich: „Für die meisten Erwachsenen mit chronischen Schmerzen bedeuten diese Ergebnisse, dass eine Therapie mit Antidepressiva enttäuschend verlaufen wird.“

Sie schreiben, dass Ärztinnen und Ärzte häufig damit fortführen, Arzneimittel zu verschreiben, auch wenn deren Evidenz schlecht sei, weil sie beobachteten, dass einige Patienten darauf ansprächen. „Aber es gibt andere, potenziell weniger schädliche Optionen wie etwa Sport, Mobilitätsunterstützung und Prävention von sozialer Isolation. Diese Maßnahmen können es Menschen ermöglichen, auch mit einer Schmerzerkrankung besser zu leben.“

 
Für die meisten Erwachsenen mit chronischen Schmerzen bedeuten diese Ergebnisse, dass eine Therapie mit Antidepressiva enttäuschend verlaufen wird. Dr. Cathy Stannard und Kollegen
 

Das Ausprobieren gehört „zur guten ärztlichen Praxis“

Für Diener dagegen gehört es „zur guten ärztlichen Praxis in der Schmerztherapie“, Medikamente erst einmal auszuprobieren und zu schauen, ob der Patient sie verträgt und darauf anspricht. 

Ein gutes, wenn auch nicht-medikamentöses Beispiel, für dieses Vorgehen sei die Akupunktur: „Akupunktur ist in Studien nicht besser als Scheinakupunktur. Aber dennoch ist sie oft wirksam, ob es sich dabei um einen Placeboeffekt oder einen biologischen Effekt handelt, ist dann egal, Hauptsache dem Patienten ist geholfen.“

Sein Fazit: „Wenn eine Substanz in 2 oder 3 placebokontrollierten Studien keine Wirksamkeit gezeigt hat, dann ergibt es natürlich keinen Sinn, sie auszuprobieren. Aber die Substanzen, für die es zumindest ein wenig Evidenz gibt, kann man durchaus einmal ausprobieren.“

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Kommentar

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