MEINUNG

Wenn man „mit kaltem Herzen handeln“ muss – was Katastrophenmedizin ausmacht und wie man sie erlernt

Christian Beneker

Interessenkonflikte

1. März 2023

Dr. Andreas Follmann ist Arzt, Katastrophenmediziner und stellvertretender Sektionsleiter der Klinik für Anästhesiologie am Uniklinikum Aachen. Medscape fragte ihn nach den Möglichkeiten der Medizin, wenn fast nichts mehr geht. Was macht eine Katastrophe aus medizinischer Sicht aus? Wo führt sie die Medizin und die Mediziner an ihre Grenzen? Wie erlernt man Katastrophenmedizin?

Dr. Andreas Follmann
© Uniklinik RWTH Aachen

Medscape: Herr Dr. Follmann, leider rückt die Katastrophenmedizin derzeit in den Mittelpunt des Interesses. Der Krieg in der Ukraine oder das Erdbeben in der Türkei und in Syrien sind furchtbare Einsatzszenarien, in denen sich die Katastrophenmedizin derzeit ganz besonders bewähren muss. Aber was macht Katastrophenmedizin eigentlich aus?

Follmann: Katastrophenmedizin wird sehr unterschiedlich beschrieben. Was aber alle Definitionen gemeinsam haben, ist, dass Ärzte immer dann katastrophenmedizinisch arbeiten müssen, wenn der Bedarf an medizinischem Material und Personal nicht gedeckt ist – nicht nur bei Kriegen oder Erdbeben, sondern auch etwa an einem Unglücksort, wo sich herausstellt, dass ein Bus mit 50 Passagieren in einen Unfall verwickelt ist und nur zwei Rettungswagen am Unfallort sind.

Medscape: … dann müssen die Notärzte unter Umständen triagieren.

Follmann: So ist es. Sie müssen dann nach dem Ampelsystem sichten, welchen Patienten noch zu helfen ist: „Roten“ Patienten muss sofort geholfen werden, den „gelben“ später und den „grünen“ erst im Verlauf. Anders gesagt: Den „Roten“ muss sofort geholfen werden, sonst werden diese nicht überleben. Für die Versorgung der anderen hat man mehr Zeit.

 
Die Frage ist in der Tat, ob wir in manchen Krankenhäusern in katastrophenmedizinische Zustände hineinrutschen. Dr. Andreas Follmann
 

Medscape: Also ist die Rede von den katastrophalen Zuständen etwa wegen fehlenden Pflegepersonals in vielen Krankenhäusern nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Follmann: Katastrophenmedizin ist immer dann relevant, wenn alle verfügbaren Ressourcen ausgeschöpft sind. Die Frage ist in der Tat, ob wir in manchen Krankenhäusern in katastrophenmedizinische Zustände hineinrutschen. Wollten wir da aber nach katastrophenmedizinischen Grundsätzen vorgehen, müssten wir bei Personalmangel die Normalstationen schließen und nur noch die Intensivpatienten versorgen. Das tun wir natürlich aus ethischen Gründen nicht.

Bahnunglück in Eschede: 101 Tote, 105 Verletzte und über 60 Ärztinnen und Ärzte

Medscape: Als 1998 der Intercity-Express in Eschede verunglückte, waren rasch an die 60 Ärztinnen und Ärzte am Unfallort, Hubschrauber, Rettungspersonal, sogar die Bundeswehr. Ist Eschede aus medizinischer Sicht gar kein katastrophenmedizinisches Ereignis gewesen?

Follmann: Anfangs herrschte ein Mangel an Personal und Material, der konnte aber schnell ausgeglichen werden. Ressourcenausgleich findet immer dann statt, wenn sich zwei Retter um einen Verunglückten kümmern können.

Medscape: Was bedeutet es für die Katastrophenmedizin, wenn der Katastrophenfall nicht ausgerufen wird oder nicht rechtzeitig, wie bei der Ahrtalflut?

Follmann: Der Katastrophenfall bietet uns Rechtssicherheit. Wenn wir beispielsweise eine Sichtung durchführen, entscheiden wir uns auch bei Patienten schon einmal dazu, notwendige Maßnahmen zu unterlassen, um den priorisierten Patienten zu helfen und so möglichst viele zu retten. Normalerweise würde man das nicht tun – wir sind ja dazu verpflichtet jedem zu helfen. Von dieser Pflicht entbindet uns der Katastrophenfall, der normalerweise von Landkreis oder eben auf Landesebene ausgerufen wird. Dann kommen ganz andere Konzepte zu tragen, die sich auch im Föderalismus unterscheiden. Der Bund ist nur zuständig, wenn wir vom Zivilschutz sprechen und uns im Verteidigungsfall befinden.

Medscape: Wie und wo lernt man Katastrophenmedizin?

Follmann: Da schneiden Sie ein Problem an. Denn es geschehen glücklicherweise nur wenige Katastrophen. Andererseits brauchen wir sie, um Katastrophenmedizin zu erlernen und Erfahrung zu sammeln. Wie stelle ich Transportpriorität fest? Wie gehe ich mit Mangellagen um? Wem gebe ich von den wenigen Schmerzmitteln, die übrig sind, und wem nicht? Wie priorisiere ich? Wie rette ich möglichst viele Patientinnen und Patienten? Wie sorge ich für die psychosoziale Versorgung der Betroffenen und Angehörigen? Weil wir nicht auf die Katastrophe warten können, behelfen wir uns mit Übungen und Fortbildungen. Inzwischen forschen wir auch am Einsatz von Drohnen im Katastrophenfall.

 
Wenn ein Verunglückter besonders laut ruft und klagt, neigen wir dazu, ihn zu den roten Patienten zu zählen – obwohl andere schwerer verletzt sein könnten ... Dr. Andreas Follmann
 

Medscape: Wie und warum wollen Sie Drohnen einsetzen?

Follmann: Rettungsmediziner sind auch Menschen. Wenn ein Verunglückter besonders laut ruft und klagt, neigen wir dazu, ihn zu den roten Patienten zu zählen – obwohl andere schwerer verletzt sein könnten, aber weniger schreien. Deshalb haben wir eine Drohne entwickelt, die über eine Kamera, einen Infrarot- und einen Radarsensor aus 7 Metern Entfernung feststellen kann, ob er sich bewegt, wie die Herz -und Atemfrequenz ist, ob er die Augen geschlossen hat oder nicht. Alle diese unbestechlichen Parameter können bei der Sichtung helfen. Das klingt zwar nach Science-Fiction, aber Katastrophenmedizin muss manchmal mit kaltem Herzen handeln.

Medscape: Welche katastrophalen medizinischen Szenarien haben Sie selbst erlebt?

Follmann: Während der Flutkatastrophe 2021 war ich in meiner Heimat in Rheinland-Pfalz. Ich wurde eingesetzt, als das Ausmaß der Situation noch unklar war. Da kamen Anrufe von eingeschlossenen Menschen. Da rief ein Mann an, der im Rollstuhl saß und dem das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand. Gleichzeitig rief eine Person an mit Herzinfarkt-Anzeichen. Das musste ich entscheide, wem von beiden ich zuerst helfe. Wer würde mehr Zeit haben? Wenn man hier nicht entschieden hätte, hätten wir beide verloren.

Medscape: Zu wem sind Sie zuerst gefahren?

Follmann: Zu dem Mann im Rollstuhl, in der Hoffnung, dass der Infarkt nicht so akut sein würde. Wir haben einen großen Frontlader genommen. Mit dem sind wir zu dem Haus des Rollstuhlfahrers durchgekommen und konnten ihn retten.

Medscape: Und die Person mit Herzinfarkt?

Follmann: Auch sie konnten wir glücklicherweise retten, denn sie hatte gar keinen Herzinfarkt gehabt. Sie hatte vor allem Angst, war in Panik.

Medscape: Können Sie nach solchen und anderen Einsätzen, wo Sie priorisieren und sichten müssen, noch schlafen – wenn jemand aufgrund Ihrer Entscheidungen gesundheitlich geschädigt wird oder gar stirbt?

 
Katastrophenmedizin muss manchmal mit kaltem Herzen handeln. Dr. Andreas Follmann
 

Follmann: Das erlebten gerade viele Helferinnen und Helfer im Ahrtal. Inzwischen gibt es erste Schritte auch zur psychosozialen Notfallversorgung von Helfern. Die Helfer machen das ja ehrenamtlich; da sollen nicht auch noch ihre seelischen Leiden unversorgt bleiben.

Medscape: Wie könnten Sie die Retter in der Ukraine und in der Türkei unterstützen?

Follmann: In der Türkei dürfte man keine Opfer mehr lebend bergen. Dort ist alles kaputt, Seuchen drohen. Es ist unvorstellbar, wie viele Ressourcen dort gebraucht werden. In der Ukraine ist das Leid umso größer, weil klar ist: Es ist menschengemacht. Aber hier kann man noch vielen Verletzten helfen. Dabei muss man wissen, dass das Ukrainische Gesundheitssystem sehr gut aufgestellt ist. Wir haben eine App entwickelt, mit denen Katastrophenmediziner vor Ort Kontakt aufnehmen könne zu einem Expertennetzwerk in Deutschland. Diese App haben wir auch der Ukraine angeboten.

Medscape: Müsste man nicht sagen, dass die Kompetenz in diesem Falle in der Ukraine sitzt, wo tagtäglich Katastrophenmedizin gemacht wird, und nicht in Deutschland?

Follmann: Tatsächlich ist die App, die wir angeboten haben, kein einziges Mal von ukrainischer Seite genutzt worden. Im Kontakt mit dem Gesundheitsministerium der Ukraine wurde außerdem klar, dass der Datensicherheit eine weitaus größere Bedeutung zukommt, als wir gedacht hatten. Denn es besteht immer die Gefahr, dass die russische Seite die Daten abfängt und Schlüsse daraus ziehen könnte. Wenn das eigene Land angegriffen wird, sucht man sich nicht sofort Hilfe aus Deutschland.

Was wir aber auf jeden Fall brauchen, ist mehr Austausch. Wir müssen aus Fehlern lernen. Nehmen Sie nur den Terroranschlag von 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz, wo ein LKW in einen Weihnachtsmarkt gefahren ist. Da sind die Einsatzkräfte einfach hingefahren, unwissend, dass es sich um einen Anschlag handelte. Wenn eine Bombe im LKW gewesen wäre, hätte es zu eine noch größeren Katastrophe kommen können. Um aus solchen Fehlern der Einsatzkräfte zu lernen, brauchen wir mehr Austausch und eine offene Fehlerkultur.

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