Was tun, wenn ein Patient nicht fahrtauglich erscheint? Ob eine ärztliche Meldepflicht bei Behörden sinnvoll sein könnte, beschäftigte Experten auf dem Verkehrsgerichtstag 2023 und Ärzte auf coliquio. Mit einem Kommentar von Stefanie Pranschke-Schade, Fachanwältin für Medizinrecht und Wirtschaftsmediatorin von der Rechtsanwaltskanzlei Broglie, Schade & Partner GbR.

Stefanie Pranschke-Schade
Schon im Vorfeld des diesjährigen Verkehrsgerichtstages hatten sich Automobilverbände dagegen ausgesprochen, Ärzte dazu zu verpflichten, fahrunfähige Personen zu melden. Aktuell gibt die Rechtslage vor, dass sie dies in Ausnahmefällen, nämlich bei „Gefahr in Verzug“ ohnehin zu könnten. Diese Regelung beruht auf einem Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1968.
„Ich halte es für wichtig, dass dieses Thema besprochen wird, auch wenn keine nennenswerten Änderungen empfohlen werden sollten“, hatte Verkehrsgerichtstag-Präsident Prof. Dr. Ansgar Staudinger im Vorfeld des Verkehrsgerichtstages gesagt. Unter anderem wegen immer schnelleren Autos, einer alternden Gesellschaft und den zunehmenden verschiedenen Verkehrsteilnehmern sei der Umgang von Ärzten mit fahrungeeigneten Menschen ein Thema.
Verkehrsgerichtstag 2023: Die Expertenempfehlungen
Beim Verkehrsgerichtstag 2023 formulierte ein Arbeitskreis zum Thema ärztliche Meldepflicht, u.a. besetzt mit Medizinern und einem Fachanwalt, folgende Empfehlungen in Richtung Politik:
Der Arbeitskreis lehnt eine ärztliche Meldepflicht fahrungeeigneter Personen ab.
Bei begründetem Verdacht auf fehlende Fahreignung und nach Ausschöpfung therapeutischer und beratender Optionen soll eine Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde zulässig sein.
Es wird empfohlen, die medizinischen Voraussetzungen, bei deren Vorliegen behandelnde Ärztinnen und Ärzte Kenntnisse an Behörden weitergeben dürfen, zu präzisieren. Dies dient der Rechtssicherheit.
Es wird festgestellt, dass in verkehrsmedizinischer Hinsicht ein erheblicher ärztlicher Aus-, Fort- und Weiterbildungsbedarf besteht.
Vorrangig sollen jedoch niederschwellige Angebote zum Erhalt der Fahreignung und zu alternativer Mobilität in größerem Umfang etabliert und beworben werden.
So steht die ärztliche Community auf coliquio zur Meldepflicht
In einer Forumsfrage hatten wir gefragt, wie Ärztinnen und Ärzte auf coliquio die Frage aus ihrem Arbeitsalltag heraus einschätzen.
dr_knock schreibt, dass „die Bestimmungen im Normalfall ausreichen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient würde erheblich leiden, wenn Ärzte fahruntüchtige Patienten selbst an die Behörden melden bzw. sogar dazu gezwungen werden sollten.“ Auch Dr. Horst Benthien lehnt die Meldepflicht ab und sieht Klagen wegen der Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht auf die Kollegenschaft zukommen, sollte diese einmal beschlossen werden.
waltraut21 ist da anderer Meinung: „Sofort melden! Auch anonym“. Und jermaa sieht das Verweigern gar „als eine Art von ‚unterlassener Hilfeleistung‘ an der Gesellschaft“ an.
hans_wurst wie auch hier wortwörtlich docmed betonen die Schwierigkeit bei der „Abwägung zwischen dem hohen Gut der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht und dem privaten (Sicherheits-) Interesse von Patient (!) und Öffentlichkeit“.
Insgesamt stimmten bis 8. Februar 36 Kolleginnen und Kollegen auf coliquio mit 48,6% gegen eine ärztliche Meldepflicht, 34,3% sprachen sich dafür aus. 17,1% waren unsicher, wie die Frage zu beantworten sei.
Lösungsvorschlag: „Regelmäßiger Gesundheitscheck“
Die Idee eines Gesundheitscheck für Autofahrer diskutierten die User ebenfalls. So weist beispielsweise owliswe darauf hin, dass europäische Nachbarländer Senioren zum Gesundheitscheck bitten und führt die Niederlande, Großbritannien, Schweden, die Schweiz und Spanien als Beispiele an.
Unterstützt würde dieser Vorschlag von einer japanischen Studie, die erst kürzlich im Journal of the American Geriativs Society veröffentlicht worden war. Demnach führen obligatorische Fahreignungstests bei Senioren zu weniger Autounfällen. Die Forschenden hatten japanische Polizeidaten zu Unfällen ausgewertet, die von Juli 2012 bis Dezember 2019 in Japan passiert waren.
Vor 6 Jahren wurde in Japan ein Gesetz eingeführt, das Fahrer ab 70 Jahren auf kognitive Screeningtests verpflichtet. Sollte ihnen dabei Demenz nachgewiesen werden, so ist der Entzug der Fahrerlaubnis möglich. In der Folge konnte das Forscherteam sinkende Unfallzahlen, insbesondere bei den männlichen Autofahrern, feststellen.
Und auch pege259 meint: „Ich verstehe nicht, warum wir in D nicht, wie in anderen Ländern, eine Pflichtbeurteilung alle 5 Jahre festlegen können. In Spanien ist das ab Mitte 40(!) Pflicht. Damit könnte man schon einen guten Teil abfangen.“
Zustimmung zu Eignungstests kommt auch von Dr. Matthias Leidinger, der jedoch eine Prüfung auf Fahrtauglichkeit für alle Besitzer eines Führerscheins vorschlägt. Seine Erfahrung: „Ich erlebe praktisch jede Woche in meiner Praxis haarsträubende Befunde bei Autofahrern! Es geht auch nicht um massenhafte, dauerhafte Fahrverbote! Viele brauchen nur eine passende Brille oder eine Katarakt-OP.“
Fahrverbot aussprechen: Erfahrungen der Ärztinnen und Ärzte
Von ganz praktischen Vorfällen wissen einige Kolleginnen und Kollegen ebenfalls zu berichten.
So berichtet hans_wurst: „Ich behandle ja regelmäßig Patienten mit Hirntumoren oder Metastasen, die natürlich über ihre Fahruntüchtigkeit aufgeklärt werden. Falls ich die dennoch beim Fahren erwische, teile ihnen auch mit, dass ich im Zweifel meine Schweigepflicht nicht einhalten werde. Bisher war das dann nicht nötig, entweder haben sie es gelassen oder gut genug vor mir verheimlicht.“
Und synapse1947 meint: “Vor Jahren habe ich 2 Männer nach Apoplex betreut, die m.E. dadurch fahruntüchtig wurden (80 und 84J). Ich habe die Führerscheinzulassungsstelle anonym benachrichtigt und die Führerscheine wurden eingezogen. Meine Ermahnungen waren fruchtlos gewesen (‚ich fahre ja nur noch im Ort...)‘.“
Über medizinische und rechtliche Punkte hinaus, schildert synapse 1947 noch einen weiteren Aspekt in der Diskussion, nämlich die Perspektive der Angehörigen. Die wären in diesen konkreten Fällen „sehr glücklich über den Entzug“ gewesen und „dankten dem anonymen Melder herzlich, weil die beiden Herren völlig uneinsichtig gewesen seien. Keine elegante Lösung, auf die ich stolz bin, war aber notwendig.“
Eine eher unkonventionelle, aber kreative Lösung zum Problem bietet juazeiro mit Blick auf besorgte Angehörige: Diese „waren (...) dann meist so kreativ, dass dem Auto dann der Verteilerfinger, die Zündkerzen oder die Autobatterie fehlten. So kam es meines Wissens nicht zu dramatischen Ereignissen außer dem Ärger, den mir der Patient dann über seine Verwandten berichtete. Und die ich dann versuchte, vor ihm in Schutz zu nehmen.“
3 Fragen an Rechtsanwältin Stefanie Pranschke-Schade
coliquio: Grundsätzliches zu Beginn: Wie lautet die aktuelle Regelung beim Thema ärztliche Meldepflicht bei fahruntüchtigen Personen?
Pranschke-Schade: Die gegenüber Behörden nicht bestehende Meldepflicht, die ihre Grundlage in der Ärztlichen Schweigepflicht hat und nach § 203 StGB auch strafbewährt ist, entbindet Ärztinnen und Ärzte nicht davon, behandelte Personen und ggf. deren Angehörige darüber aufzuklären, dass eine Fahruntüchtigkeit besteht. Diese Pflicht resultiert aus dem Behandlungsvertrag und dem Patientenrechtegesetz § 630c Abs. 2. Diese Aufklärung ist aus Beweisgründen zu dokumentieren.
coliquio: Können sich Ärztinnen und Ärzte, die fahruntüchtige Patientinnen und Patienten bei Behörden melden, also strafbar machen?
Pranschke-Schade: Ärztinnen und Ärzte können sich nicht strafbar machen, denn es besteht grundsätzlich keine Verpflichtung zur Meldung. Die auch in der Berufsordnung hinterlegte Schweigepflicht des Arztes ist nach der zurzeit herrschender Meinung das höherwertige Schutzgut.
Eine Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht ist allerdings möglich, wenn der Arzt den Patienten über die Fahruntüchtigkeit aufgeklärt hat und er danach feststellt, dass der Patient sich nicht an seinen Rat hält. In einem solchen Fall könnte der Arzt – zum Schutz der Allgemeinheit – Meldung bei der Straßenverkehrsbehörde machen.
Doch Vorsicht: Bei der Meldung dürfen die kompletten Krankenunterlagen nicht beigefügt werden. Allein der Hinweis auf die die Fahruntüchtigkeit auslösenden Umstände sind ausreichend für die Behörde, tätig zu werden. Eine Strafbarkeit nach § 203 StGB kommt in einem solchen Fall dann nicht in Betracht, da sich der Arzt auf einen Rechtsfertigungsgrund zum Schutz der Allgemeinheit berufen kann.
coliquio: Wie schätzen Sie also diese Empfehlung des Verkehrsgerichtstages mit Blick auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ein?
Pranschke-Schade: Der Verkehrsgerichtstag folgt mit seiner Empfehlung der ständigen Rechtsprechung.
Problematisch ist dabei, dass auch durch das Gericht Ärztinnen und Ärzten eine Verantwortung übertragen wird. Im Einzelfall müssen sie also ein Urteil fällen, obwohl ihnen möglicherweise die genauen Informationen über die Patientin bzw. den Patienten fehlen.
So kann die Meldung ja nur dann in Frage kommen, wenn sie erstens aufgeklärt haben und zweitens wissen, dass die Patientin bzw. der Patient sich an das Fahrverbot nicht halten wird. In der Praxis dürfte dies sehr schwierig nachweisbar sein und einen Einzelfall darstellen.
Wichtig für die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen bleibt jedoch, die Aufklärung in jedem Fall schriftlich zu dokumentieren. In besonderen Fällen könnte auch eine Unterzeichnung der Aufklärung durch die behandelte Person sinnvoll sein.
Dieser Artikel ist im Original am 8. Februar 2023 erschienen auf Coliquio.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Soll man fahruntaugliche Patienten melden? Das sagen Verkehrsexperten, Kollegen und eine Anwältin - Medscape - 1. Mär 2023.
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