In Deutschland leben 8,7 Millionen Patienten mit diagnostiziertem Typ-2-Diabetes. Aufgrund einer allgemein höheren Lebenserwartung und bei weiter steigender Neuerkrankungsrate könnte die Zahl der Diabetesfälle bis 2040 auf bis zu 12 Millionen ansteigen.

PD Dr. Kilian Rittig
Speziell die Behandlung von Diabetespatienten mit Gefäßkomplikationen erfordert die Zusammenarbeit vieler Disziplinen. Doch wie gut funktioniert die interdisziplinäre Versorgung? PD Dr. Kilian Rittig, bis September 2022 Chefarzt der Klinik für Angiologie und Diabetologie am Klinikum Frankfurt (Oder), jetzt niedergelassener Diabetologe und Gefäßmediziner, erklärt im Interview mit Medscape, was gut läuft, wo Fallstricke liegen und was sich ändern muss.
Das Gesundheitssystem zwischen Wirtschaftlichkeit und Merkantilismus
Medscape: Wie gut ist Deutschland in der interdisziplinären Diabetesversorgung aufgestellt?
Rittig: Im Prinzip haben wir alles, was wir für eine gute Diabetes-Versorgung brauchen. Das Problem ist: Die einzelnen Faktoren greifen noch nicht reibungslos ineinander.
Medscape: Wo genau liegt das Problem?
Rittig: Zum einen sind es die unterschiedlichen Vergütungssysteme zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die Sektorengrenzen. Zum anderen sind es die stationären Vergütungssysteme, das DRG selbst. Das verhindert häufig, dass Patienten fachübergreifend ohne Probleme versorgt werden.
Bis dato ist es immer noch so, dass die entlassende Abteilung eines Patienten den Fall abrechnen kann, das beeinträchtigt die Interdisziplinarität. Die Hemmschwelle einen Patienten interdisziplinär zu behandeln und ihn so möglicherweise für seine Abteilung zu verlieren, besteht. Die Abrechnung wird aber gebraucht, um beispielsweise den Stellenplan zu rechtfertigen. Die größte Hemmschwelle für die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Krankenhaus liegt im derzeitigen Abrechnungssystem.
Medscape: Was wäre denn besser als dieser „Konkurrenzkampf“ der Abteilungen?
Rittig: Man müsste die Grenzen zwischen den Abteilungen abbauen, indem man bestimmte Organzentren bildet wie beispielsweise ein Gefäßzentrum, ein Kopfzentrum oder ein Bauchzentrum. Und diese Zentren werden dann – ob nun internistisch oder chirurgisch – gemeinsam wirtschaftlich veranlagt. Dann spielt es keine Rolle, wer den Patienten bringt und wer ihn entlässt.
Ich glaube aber nicht, dass man das Problem löst, indem man das DRG-System abschafft und durch ein anderes Abrechnungssystem ersetzt. Jedes System, das so ähnlich funktioniert, liefert falsche Anreize. Und wenn ich als Chefarzt oder Geschäftsführer eines Klinikums gezwungen bin, mit Gesundheit Geld zu verdienen, werde ich das möglichst auch machen.
Gegen Wirtschaftlichkeit in der Medizin ist auch nichts einzuwenden, gegen Merkantilismus hingegen schon.Das ist ein dramatischer Aspekt der Privatisierung des Gesundheitssektors: Jeder private Träger wird versuchen, aus seinem Krankenhaus möglichst viel Profit zu generieren. Meines Erachtens ist das die Wurzel des Übels und gar nicht unbedingt, nach welchem Schlüssel wir abrechnen.
Allerdings wäre das skizzierte Konstrukt mit den Zentren, in dem die Patienten gemeinschaftlich interdisziplinär behandelt werden und die Einnahmen dem gesamten Zentrum angerechnet würden, schon mal ein Anfang. Das erfordert aber, dass sich die Geschäftsführer der Kliniken darauf einlassen und es setzt auch voraus, dass die Mitarbeiter in diesen Zentren sich untereinander verstehen.
Schwierigkeiten an der Sektorengrenze
Medscape: Manchmal gibt es bei der Versorgung durch die Sektorengrenzen große Hürden…
Rittig: Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Patient mit diabetischem Fußsyndrom erhält teure, aufwändige Interventionen oder wird operiert. In der DRG ist aber nicht vorgesehen, dass man dem Patienten, der in keinem guten Pflegezustand ist, eine Fußpflege zukommen lässt. Die mangelhafte Fußpflege wiederum ist aber mit ein Grund für seine Verletzungen an den Füßen.
Das mag sich banal anhören, aber wir haben dieses Problem sehr häufig. Wir geben Tausende von Euro für Interventionen und Operationen aus. Es ist aber niemand da, der sich um die Fußpflege kümmert. Also wird der Patient mit denselben Krallenzehennägeln entlassen, mit denen er schon in die Klinik gekommen ist. Abgesehen von den Problemen für den Patienten wirft das auch ein schlechtes Licht auf die Klinik und schafft kein Vertrauen in die Versorgungsqualität, aber oft ist es anders gar nicht möglich. Stellt die Klinik hingegen eine Podologin oder einen Podologen an, ist das zwar löblich, bringt dem Krankenhaus aber keinen Cent, sondern erhöht nur die Personalkosten.
Einen niedergelassenen Podologen kann sich die Klinik aber nicht dazu holen; dieser darf nicht ambulant tätig werden, solange der Patient unter einer stationären DRG läuft. Es bliebe nur, dass der Patient selbst 20 bis 30 Euro für eine solche Behandlung zahlt. Aber es geht hier um Menschen, die sich genau das häufig nicht leisten können. Es ist absurd, dass man Patienten teure Untersuchungen und Interventionen zukommen lässt, dass aber solche Basics nicht abgerechnet werden können und dann auch nicht gemacht werden.
Datenschutz – nicht immer förderlich für Therapien
Medscape: Sektorengrenzen, DRG – was erschwert noch die interdisziplinäre Diabetes-Versorgung?
Rittig: Stichwort Datenschutz: Für den Informationsaustausch bestehen unglaublich hohe Hürden. Auch das führt dazu, dass der Informationsaustausch sehr umständlich ist. Dieser dauert oft lange, ist häufig inkomplett. Das führt dazu, dass Untersuchungen wiederholt werden müssen, weil bestimmte Ergebnisse nicht – oder nicht rechtzeitig – da sind. Die Hürden für den digitalen Datenaustausch müssen deutlich geringer werden.Und die Digitalisierung muss deutlich schneller werden.
Medscape: Theoretisch könnte ja die elektronische Patientenakte (ePA) einen Beitrag dazu liefern, allerdings haben bislang nur 0,7% der Patienten eine ePA beantragt. Ihre Einschätzung dazu?
Rittig: Die ePA, speziell die elektronische Diabetesakte, wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Aber eine ePA ist auch nur so gut, wie sie gepflegt wird. Viele Krankenhaussysteme und auch Praxissysteme bieten diesen Service noch gar nicht an. Hinzu kommt, dass jeder Patient sagen kann: Das will ich nicht.
Dennoch ist die ePA ein guter Ansatz. Wenn sie eines Tages flächendeckend funktioniert, werden wir sehen, wie das die Situation verbessern wird. Das erleichtert dann den Datenaustausch, ändert aber nichts an der Problematik der rechtzeitigen Information der Therapieplanung für die niedergelassenen Kollegen und nichts an der Problematik der Vergütung und der fehlenden Verschränkung der Bereiche ambulant und stationär.
Auf politischer Ebene ist wenig passiert
Medscape: Dass die Behandlung von Gefäßkomplikationen bei Diabetes die Zusammenarbeit vieler Disziplinen erfordert – ist das den Gesundheitspolitikern in dieser Deutlichkeit klar?
Rittig: Wir versuchen immer wieder, Politikern das klarzumachen. Es gibt einen sehr engen Austausch zwischen der Deutschen Diabetes Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Angiologie und der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie.
Wir arbeiten auch eng mit der Politik zusammen, dabei findet schon ein guter Austausch statt. Allerdings haben wir die letzten 3 Jahre durch die Corona-Pandemie komplett verloren, da waren andere Dinge wichtiger. Noch dazu denken Politiker innerhalb einer Legislaturperiode. Auch das dürfte ein Grund dafür sein, weshalb bislang so wenig passiert ist, zumal der Gegenwind extrem stark ist.
Wenn man die Probleme der Sektorengrenzen und der Privatisierung im Gesundheitssektor anpacken will, muss man sich mit Lobbyverbänden anlegen. Beispiel Sektorengrenzen: Wir haben ja auch unterschiedliche Anreize in unterschiedlichen Abrechnungssystemen. Das bedeutet, es wird für jede Änderung im System immer Leute auf beiden Seiten geben, die nicht einverstanden sind. Ich denke, das ist auch ein Grund dafür, weshalb wir jetzt seit über 10 Jahren zwar versuchen, die Sektorengrenzen aufzuweichen, aber noch nicht wirklich weitergekommen sind.
Hinzu kommt die immer geringer werdende Dichte von Diabetologen. Die Schere zwischen Diabetespatienten und Diabetologen geht diametral auseinander, immer weniger Ärzte müssen immer mehr Patienten versorgen. Irgendwann ist das zeitlich nicht mehr zu leisten. Darunter leidet irgendwann die Versorgung.
Zusammenarbeit in den Fußnetzen, eine Erfolgsgeschichte
Medscape: Wo funktioniert die interdisziplinäre Versorgung bei Diabetespatienten gut?
Rittig: Die Fußnetze sind eine rühmliche Ausnahme, wobei sie überwiegend ambulant organisiert sind. Hier werden Sektorengrenzen nicht konsequent überschritten. Aber ja: Ein Patient darf sich glücklich schätzen, wenn er aus der Klinik in ein funktionierendes Fußnetz entlassen wird.
Medscape: Wie schwierig ist die Versorgung ohne solche Netze?
Rittig: In der Regel ist es so: Ein Patient verlässt das Krankenhaus und geht zu seinem Hausarzt. Der ist sehr bemüht und kompetent, hat aber aufgrund seiner vielen Patienten schlicht nicht die Zeit, sich diesem Patienten adäquat zu widmen.
Erschwerend kommt hinzu: Die Liegezeiten in Kliniken müssen immer kürzer werden, so dass die Patienten auch mit großen chronischen Wunden immer früher entlassen werden. Die noch zu heilende Restwunde ist immer größer und bedarf einer intensiven, auch kostenintensiven Pflege. Das ist ambulant aus Zeit- und auch aus Kostengründen in aller Regel nicht abdeckbar. Sowohl für den einzelnen Hausarzt als auch den einzelnen Facharzt, der den Patienten im ambulanten Bereich sieht, ist das nicht kostendeckend möglich. Für schwierige Verbände braucht man 2 Leute. Einer macht den Verband, der andere assistiert, das geht schon aus Hygienegründen nicht anders und bindet 2 Mitarbeiter.
Bei großen Wunden kann so ein Verband inklusive Wundtoilette eine halbe Stunde dauern. Das entsprechende Verbandsmaterial kostet zwischen 20 und 30 Euro. Vergütet wird diese Leistung aber mit 8,50 Euro. Das ist nicht finanzierbar, da geht jede Praxis pleite. Wenn man politisch die Ambulantisierung der Medizin wirklich will und ernst meint, muss im Hinblick auf die Vergütung deutlich mehr passieren. Zumindest so viel, dass ein Arzt, der das ambulant leistet, keinen Verlust macht. Die Fußnetze sind besser aufgestellt: Es gibt Strukturverträge mit Krankenkassen, um das besser zu vergüten. Aber der Einzelkämpfer kann dies nicht leisten.
Wir sehen auch häufig, dass Patienten, die ambulant nicht gut versorgt werden, mit noch schlimmeren Wunden wieder ins Krankenhaus kommen. Das liegt nicht daran, dass die niedergelassenen Kollegen nicht fähig wären. Vielmehr ist das nicht zu leisten unter den Bedingungen, die momentan herrschen. Da muss unbedingt gegengesteuert werden.
Das Wissen wäre da, der Wille auch…
Medscape: Von den Fußnetzen als rühmliche Ausnahme mal abgesehen – stimmt Sie im Hinblick auf die Versorgungssituation noch etwas positiv?
Rittig: Ja, durchaus. Das Wissen ist da, der Wille ist da, die Module sind da. Es ist alles da. Man muss es „nur“ zusammenbringen. Das erfordert eben den politischen Willen. Und das muss schleunigst passieren, denn uns rennt die Zeit davon.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Credits:
Photographer: © Maska82
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Diesen Artikel so zitieren: „Probleme an der Sektorengrenze“: Woran die Versorgung von Diabetes-Patienten scheitert – und was sich ändern muss - Medscape - 1. Mär 2023.
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