Konflikte auf der Intensivstation treten meist auf, wenn Entscheidungen am Lebensende unter erheblichem Zeitdruck getroffen werden müssen. Wie Konflikte zwischen Angehörigen und dem Behandlungsteam vermieden werden können, erläuterte Prof. Dr. Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, auf der DIVI2022.
Laut Janssens, , passieren weitaus mehr Konflikte auf der Intensivstation zwischen dem Behandlungsteam und den Angehörigen, als mit dem Patienten oder der Patientin selbst. Dass diese Konflikte v.a. bei Patientinnen und Patienten mit längerer Behandlungsdauer (18 ± 15 Tage) auf der Intensivstation ein großes Thema sind, ist durch Studien belegt.
Eine Therapiezieländerung erfolgt laut Janssens grob umrissen, wenn…
ein sinnvolles, patientenzentriertes Therapieziel nicht mehr zu erreichen ist,
keine ärztliche Indikation (mehr) gegeben ist oder
der Patientenwille die Weiterbehandlung nicht (mehr) deckt.
Angehörige in ganzen Entscheidungsprozess einbeziehen
Laut Janssens sind die Angehörigen sowohl bei einwilligungsfähigen als auch bei nicht einwilligungsfähigen Patientinnen und Patienten an jedem Punkt im Entscheidungsprozess zur Durchführung ärztlicher Maßnahmen wichtig.
Janssens' Meinung: Eine Patientenverfügung helfe zwar nicht in jedem Einzelfall weiter, sie sei aber ein starkes Signal, das „irgendwann einmal gesetzt worden ist“ und könne die Diskussion mit Angehörigen deutlich erleichtern.
Problematisch sei es, wenn die Patientenverfügung von den entscheidenden Ebenen (Oberärztinnen, Oberärzte, Angehörige) unterschiedlich interpretiert würde: Während Angehörige die Patientenverfügung oft eher wortwörtlich anwenden, würden Ärztinnen und Ärzte der Intensivmedizin die PV mehr sinngemäß interpretieren, erklärt Janssens. Die Patientenverfügung ist also nicht immer konkret anwendbar, da sie z. B. sehr breit gefasst ist.
Unsicherheit bei Angehörigen vermeiden: Behandlungsplan im Vorfeld klären
Seitens des Behandlungsteams sei in Gesprächen immer zu berücksichtigen, dass stellvertretende Angehörige verunsichert sein können, beispielsweise durch mangelhafte Kommunikation mit ihnen oder fehlende Erfahrung als stellvertretende Person. Gab es kein vorangegangenes Gespräch mit dem Patienten oder der Patientin, erhöhte sich das Risiko für Unsicherheit bei den Angehörigen in einer älteren Studie am meisten (Odds Ratio: 3,68).
Janssens plädiert dafür, im Vorfeld wichtige Dinge in Gesprächen für den Behandlungsplan abzuklären: Was soll gemacht werden, was nicht? Denn nicht selten liegen dazu nur geringfügig Übereinstimmungen zwischen Patientin oder Patient und stellvertretender Person vor.
Bei Gesprächen zu Entscheidungsprozessen sei zudem zu berücksichtigen, dass ein nicht unerheblicher Teil der entscheidenden Angehörigen negative emotionale Effekte (Angst, Depression, komplexe Trauer) für Monate oder Jahre erfährt. Mögliche Gründe: Unsicherheiten über Präferenzen des Patienten oder der Patientin, unsichere Prognose, schlechte Kommunikation und Konflikte mit den Ärztinnen und Ärzten, unzureichende Zeit für eine Entscheidung und Schuldgefühle.
Daher gehöre definitiv zu den ärztlichen Aufgaben, im Rahmen der Angehörigenbesprechung, die Patientenwünsche und -präferenzen und Werte z.B. bezüglich Autonomie und Unabhängigkeit, emotionalem Wohlbefinden, Körper- und kognitiven Funktionen und Spiritualität rechtzeitig anzusprechen.
Janssens rät dazu, die Erwartung der Angehörigen zu ergründen, genauso wie deren Haltung zum Leben und Sterben, soziale und kulturelle Hintergründe und finanzielle Ressourcen. Ähnliches gilt es zu dem Patienten oder der Patientin in Erfahrung zu bringen: Gibt es chronische oder akute Krankheiten, wie sind der kulturelle und religiöse Hintergrund, gibt es eine Vorausverfügung, wie ist der sozioökonomische Status?
Janssens' Tipp: Den Hausarzt kontaktieren. „Dieser kann unheimlich viele Dinge von den Patienten erzählen, die Sie sonst nie herausfinden.“ Elementar wichtig sind Besprechungsräume, um diese essenziellen Gespräche führen zu können.
10 Strategien in der Kommunikation mit Zu-/Angehörigen
zuhören
Vertrauen zählt
keine Überraschungen (Angehörige über Vorgänge am Patienten informieren)
keine Alleingänge (einheitliche Kommunikation der zentralen Inhalte)
Zeit nehmen
einfache Sprache
keine Zahlenspiele mit Überlebenswahrscheinlichkeiten
auch selbst Emotionen/Betroffenheit zeigen
aktiv zuhören: Angehörige sprechen lassen
weiteres Vorgehen zusammen planen
Einfach zu merken ist die VALUE-Regel für die Gesprächsführung:
Value: Wertschätzung und Anerkennung der Fragen von Familienangehörigen
acknowledgement: Emotionen der Angehörigen anerkennen
listen: zuhören
understand: Fragen zur Person und Persönlichkeit des Patienten oder der Patientin stellen, um sich ein besseres Bild machen zu können
elicit: Zu-/Angehörige zu Fragen ermutigen
Dass mit derartigen Konzepten tatsächlich Angst, Depression und die Einnahme psychotroper Medikamente bei den Angehörigen verringert werden können, zeigt eine „Landmark“-Studie – allein durch gute Kommunikation und das Bekunden von Interesse seitens des Behandlungsteams.
Dass eine vorausschauende Kommunikation auch mit den Patientinnen und Patienten selbst wichtig ist, verdeutlichen Studienergebnisse zu Entscheidungen am Lebensende: Wurden stellvertretende Personen eingesetzt, ohne vorher miteinander gesprochen zu haben, wurde signifikant häufiger beatmet (56,6 vs. 23,2%), künstlich ernährt (45,7 vs. 25%), chemotherapiert (39,1 vs. 5,4%) und intensiv behandelt (56,6 vs. 23,2%), im Vergleich zu selbst entscheidenden Patientinnen und Patienten. Ärztinnen und Ärzte sollten also auf klare Gespräche über den Willen des Patienten oder der Patientin drängen, folgert Janssens.
Zeitlich begrenzter Therapieversuch: Kompetenzen zu Gesprächen schulen
Ein zeitlich begrenzter Therapieversuch beschreibt eine Vereinbarung zwischen dem Behandlungsteam und den Patientinnen und Patienten bzw. den Angehörigen zum Einsatz einer genau festgelegten Therapie über einen bestimmten Zeitraum. Tritt innerhalb dieses Zeitraums eine Verschlechterung ein oder bleibt der Zustand unverändert schlecht, wird eine Therapiezieländerung vorgenommen und die Behandlung palliativ ausgerichtet.
Werden die Behandlungsteams zu Schlüsselkompetenzen der Angehörigenbesprechung gezielt geschult, können viele wichtige Kernelemente der Gesprächsführung deutlich verbessert werden. Das zeigen Daten einer Studie von 2021.
Dazu zählte z.B. Krankheitszustand (97,7 auf 100%), Prognose (79,1 auf 100%) und Risiko/Nutzen zu erläutern (34,9 auf 94,9%), auf ethische Werte und Präferenzen einzugehen (46,5 auf 98,3%), und Empfehlung für nächste Schritte zu geben (41,9 auf 96,6%). Die Folge waren mehr DNR-Order (Do-not-resuscitate, keine Wiederbelebungsmaßnahmen), bei gleichbleibender Krankenhaus-Sterblichkeit.
Kommunikationsmoderation einsetzen
Janssens empfiehlt zudem den Einsatz von Kommunikationsmoderatoren, die die Angehörigen sinnvoll begleiten. In einer Studie kam es durch sie zu einer verkürzten Liegedauer auf der Intensivstation der verstorbenen Patienten von im Schnitt 28,5 Tagen auf 7,7 Tage. Auch die generelle Krankenhausliegedauer verkürzte sich von 31,8 auf durchschnittlich 8 Tage.
Umgang mit Forderungen nach ungeeigneten Behandlungen
Hier empfiehlt Janssens folgendes:
Der Betriff „potenziell ungeeignet“ sollte anstelle von „nutzlos“ verwendet werden.
Klinikerinnen und Kliniker sollten den Behandlungsplan, den sie für angemessen halten, kommunizieren und dafür einstehen.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
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Diesen Artikel so zitieren: Eine Frage der Kommunikation: So vermeiden Sie als Arzt Konflikte mit Angehörigen - Medscape - 1. Mär 2023.
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