Wissenschaftler finden heraus, warum sich manche Patienten unter Antidepressiva emotional abgestumpft fühlen 

Dr. Rob Hicks

Interessenkonflikte

23. Februar 2023

Wissenschaftler haben herausgefunden, warum gängige Antidepressiva dazu führen, dass sich nahezu jeder 2. Anwender emotional abgestumpft fühlt. Patienten scheinen im Vergleich zu Personen ohne Psychopharmakotherapie weniger empfindlich auf Belohnungen zu reagieren, wie eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie zeigt. Die Ergebnisse wurden jetzt in Neuropsychopharmacology veröffentlicht [1]

Depression – eine häufige Diagnose

Zum Hintergrund: Rund 17% aller Erwachsenen ab 16 Jahren in Großbritannien litten im Sommer 2021 an einer Form von Depression, wobei die Rate höher ist als vor der Pandemie (10%). Entsprechende Zahlen hat das britische Office for National Statistics (ONS) veröffentlicht. 

Laut National Health Service (NHS) haben mehr als 8,3 Millionen Patienten in England im Jahr 2021/22 ein Antidepressivum erhalten. Daten der NHS Business Services Authority zeigen außerdem, dass zwischen Juli und September 2022 schätzungsweise 21,4 Millionen Antidepressiva verschrieben worden sind.

Patienten mit Depression erhalten oft selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). „Manche von ihnen berichten, dass sie sich emotional abgestumpft fühlen und Dinge nicht mehr so angenehm finden wie früher“, erklären die Autoren. „Man geht davon aus, dass zwischen 40% und 60% der Patienten, die SSRI einnehmen, an der Nebenwirkung leiden.“

Prof. Dr. Barbara Sahakian von der Abteilung für Psychiatrie der Universität Cambridge und Hauptautorin der Studie, sagte: „Emotionale Abstumpfung ist eine häufige Nebenwirkung von SSRI. In gewisser Weise ist das vielleicht ein Teil ihres Effekts – sie nehmen Menschen, die unter Depressionen leiden, einen Teil des emotionalen Schmerzes, aber leider scheinen sie ihnen auch einen Teil der Freude zu nehmen.“

 
Emotionale Abstumpfung ist eine häufige Nebenwirkung von SSRI. In gewisser Weise ist das vielleicht ein Teil ihres Effekts. Prof. Dr. Barbara Sahakian
 

„Heiße“ und „kalte“ Kognition

Um Details des Phänomens zu erforschen, untersuchten die britischen Forscher die Wirkung von Escitalopram auf 2 Bereiche:

  • die „kalte“ Kognition (Handlungsüberwachung, Zielverfolgung, kognitive Selbstregulation)

  • die „heiße“ Kognition (Belohnungsaufschub, emotionale Selbstregulation, Entscheidungsfindung, Verstärkungslernen)

An der doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie, die zwischen Mai 2020 und Oktober 2021 an der Universität Kopenhagen durchgeführt wurde, nahmen 66 gesunde Freiwillige im Alter zwischen 18 und 45 Jahren teil. Sie wurden anhand einer Datenbank der Neurobiologie-Forschungsabteilung der Universität Kopenhagen rekrutiert.

Die Teilnehmer wurden nach Alter, Geschlecht und Intelligenzquotient (IQ) gematcht und in 2 Gruppen eingeteilt. 32 Teilnehmer bekamen Escitalopram 20 mg täglich, während 34 Teilnehmer ein Placebo bekamen – jeweils für mindestens 21 Tage. 

Alle Teilnehmer füllten Fragebögen aus. Ziel war, depressive Symptome, Angst, Impulsivität, Zwanghaftigkeit und Persönlichkeitsmerkmale zu erfassen. Diese Fragebögen wurden zu Beginn der Studie, also vor der Verabreichung der Medikamente bzw. der Placebos, und im Anschluss ausgefüllt. Die Forscher bewerteten auch kognitive Funktionen wie Lernen, Hemmung, Exekutivfunktion, Verstärkungsverhalten und Entscheidungsfindung. 

Auch der Cambridge Neuropsychological Test Battery (CANTAB) zur Ermittlung der Reaktionszeit (RTI) und die Reynolds Intellectual Assessment Scales (RIAS) zur Bewertung des IQ wurden bei der Studie herangezogen. 

Verminderte Empfindlichkeit gegenüber Verstärkung

„Es gab keine signifikanten Gruppenunterschiede zwischen der Placebo- und der Escitalopram-Gruppe bei den Fragebögen zu Studienbeginn“, schreiben die Autoren. Auch bei der Reaktionszeit im CANTAB RTI fanden sie keine Unterschiede. 

Der wichtigste neue Befund sei, dass die Escitalopram-Gruppe im Vergleich zu der Placebo-Gruppe bei 2 Aufgaben eine geringere positive Verstärkung gezeigt habe, heißt es weiter. „Verstärkungslernen ist die Art und Weise, wie wir aus dem Feedback unserer Handlungen und unserer Umgebung lernen“, erklärten die Forscher. 

 
Verstärkungslernen ist die Art und Weise, wie wir aus dem Feedback unserer Handlungen und unserer Umgebung lernen. Dr. Christelle Langley und Kollegen
 

Zur Bewertung der positiven Verstärkung hatten die Forscher vorab einen speziellen Test entwickelt. Den Teilnehmern wurden 2 Reize, nämlich A und B, gezeigt. Wenn sie A wählten, erhielten sie in 4 von 5 Fällen eine Belohnung; wenn sie B wählten, traf das nur in 1 von 5 Fällen zu. Diese Regel wurde den Probanden nicht mitgeteilt, sondern sie mussten sie selbst lernen. Irgendwann im Verlauf des Experiments änderten sich die Wahrscheinlichkeiten – und die Teilnehmer mussten umdenken.

Die Autoren hoben hervor, dass Teilnehmer, die Escitalopram einnahmen, im Vergleich zu Teilnehmern, die Placebo erhielten, „weniger wahrscheinlich das positive und negative Feedback nutzten, um diese Aufgabe zu lernen“. Dies deute darauf hin, dass das Medikament ihre Empfänglichkeit für Belohnungen und ihre Fähigkeit, entsprechend zu reagieren, beeinträchtige.

„Eine geringere Empfindlichkeit gegenüber Belohnungen als Reaktion auf SSRI könnte die abstumpfende Wirkung erklären, an der Patienten mit schweren depressiven Störungen leiden, die mit SSRI behandelt werden“, so ihre Hypothese.

Sahakian schlug vor, dass die Wirkung von SSRI, die einen Teil der Freude nehmen, eine Folge davon sein könnte, dass eine Person „weniger empfindlich auf Belohnungen reagiert, die ein wichtiges Feedback liefern“. 

Den Effekt längerfristig untersuchen

Die Autoren betonten, weitere, länger angelegte Studien seien erforderlich, um Effekte von Pharmakotherapien unter Alltagsbedingungen zu analysieren. Dabei sollten unterschiedliche Aspekte der heißen und kalten Kognition im Fokus sein, insbesondere das Verstärkungsverhalten bei Patienten mit neuropsychiatrischen Störungen.

„Unsere Ergebnisse liefern wichtige Beweise für die Rolle von Serotonin beim Verstärkungslernen“, erklärte Dr. Christelle Langley von der Abteilung für Psychiatrie der Universität Cambridge und Erstautorin der Studie. 

 
Unsere Ergebnisse liefern wichtige Beweise für die Rolle von Serotonin beim Verstärkungslernen. Dr. Christelle Langley
 

Der Beitrag wurde von Michael van den Heuvel aus  Medscape UK  übersetzt und adaptiert. 

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Kommentar

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