Multiple Sklerose: Neurologe erklärt, wie man Fehldiagnosen vermeiden kann

Dr. Christoph Stenzel

Interessenkonflikte

22. Februar 2023

Multiple Sklerose (MS) und funktionelle neurologische Störungen (functional neurologic disorder, FND) sind weit verbreitete Erkrankungen, die nicht selten miteinander verwechselt werden, da sie mitunter mit ähnlichen behindernden, paroxysmalen, fluktuierenden und multifokalen Symptomen einhergehen. Sie weisen eine ähnliche Epidemiologie auf, mit mehr weiblichen als männlichen Betroffenen, und beide sind häufige Erkrankungen in der neurologischen Praxis.

Sie klinisch besser zu identifizieren und umfassender bezüglich Überschneidungen zu erforschen, könnte sich positiv sowohl auf die Versorgung von Patienten mit MS und FND als auch auf Behandlungsstudien für beide Erkrankungen auswirken.

Spätere Diagnose verzögert angemessene Behandlung

Eine Fehldiagnose von MS oder FND schadet den Patienten meist in Form einer verzögerten Diagnose und späterem Beginn einer angemessenen Behandlung. Die Fehldiagnose von FND bei Patienten mit MS kann beispielsweise zu irreversiblen Behinderungen führen, da sich der Beginn einer krankheitsmodifizierenden Therapie (disease modifying therapy, DMT) verzögert. DMT bergen wiederum unnötige Nebenwirkungen und Risiken für Patienten mit FND, bei denen MS falsch diagnostiziert wurde.

2 Reviews zu möglichen Fehlerquellen

In 2 Übersichtsarbeiten fassen Dennis Walzl, Centre for Clinical Brain Sciences, University of Edinburgh, UK, und seine Kollegen [1] sowie Dr. Andrew J. Solomon, Department of Neurological Sciences, Washington Universitiy in St. Louis, Missouri/USA, und seine Kollegen [2] Zahlen zur Häufigkeit von Fehldiagnosen in beide Richtungen zusammen und erörtern sowohl Fehlerquellen bei der Diagnose beider Erkrankungen als auch Auswirkungen auf die klinische Versorgung.

Warum die Diagnose Multiple Sklerose bis heute für Ärzte so herausfordernd ist und wie es zu Fehldiagnosen kommen kann, falsch-positiv oder falsch-negativ, beschreibt Dr. Christoph Stenzel, Facharzt für Neurologie.

Expertenstatement: Fehldiagnose Multiple Sklerose – gar nicht so selten

Die Multiple Sklerose (Encephalomyelitis disseminata) ist mit ca. 250.000 Patienten in Deutschland die häufigste autoimmunologisch-entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS). Wie bei kaum einer anderen neurologischen Erkrankung sind die diagnostischen (Magnetresonanztomografie [MRT], Liquor) und therapeutischen Möglichkeiten (immunmodulierende Prophylaxen) in den letzten Jahren immens vorangeschritten.

Trotzdem bleibt die Diagnose MS eine Herausforderung, was sich u.a. an den immer wieder aktualisierten und zum Teil in den in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich bewerteten Kriterien (z.B. Stellenwert der Liquordiagnostik) zeigt. Umso schwieriger wird es zudem, je weniger die verschiedenen Befunde (Anamnese, neurologischer Untersuchungsbefund, evozierte Potenziale, MRT, Liquor, Komorbiditäten) ein passendes Bild ergeben.

 
Auch nach erfolgter Diagnose wissen wir alle, wie problematisch bisweilen die Abgrenzung echter MS-Schübe von Pseudoschüben (Uhthoff-Phänomen, funktionelle Störungen, Migräne-Auren) sein kann. Dr. Christoph Stenzel
 

Auch nach erfolgter Diagnose wissen wir alle, wie problematisch bisweilen die Abgrenzung echter MS-Schübe von Pseudoschüben (Uhthoff-Phänomen, funktionelle Störungen, Migräne-Auren) sein kann. Zu dieser Problematik sind in den letzten Jahren einige sehr interessante Artikel publiziert worden, die sowohl für die funktionellen-psychiatrischen Störungen [1] als auch für die organisch-somatischen Differenzialdiagnosen [2] wissenswerte Daten publiziert haben.

 
Fehldiagnosen gibt es dabei in beide Richtungen. Dr. Christoph Stenzel
 

Fehldiagnosen gibt es dabei in beide Richtungen, sowohl dass fälschlicherweise angenommen wird, eine andere Erkrankung sei MS, als auch, es sei MS, ist es aber nicht. Zusätzlich gibt es noch das Vorhandensein von Symptom-gleichen oder -ähnlichen Komorbiditäten (knapp 50%).

Häufigkeit von Fehldiagnosen

Der Begriff „Functional Neurological Disorder (FND)“ wird im deutschen Sprachraum selten benutzt, eher wird von somatoformen oder dissoziativen Störungen gesprochen. Dabei wird oft schon eine primäre oder sekundäre psychiatrische Ursache vermutet. In Befragungen von MS-Patienten nach der ersten Verdachtsdiagnose waren diese zu 60% falsch, davon zu 30% als mögliche psychiatrische Ursache fehlgedeutet. Mit dem breiten Zugang zur MRT-Diagnostik liegt der Prozentsatz einer letztlichen Fehldiagnose (vermutete FND, es ist aber MS) bei erfreulichen ca. 0,4%.

Umgekehrt wird viel häufiger initial vermutet, es könnte MS sein (je nach Studie 4 bis 66%), was sich im Laufe der nachfolgenden Kontrollen dann aber nicht bestätigt, allerdings mit einer langen Latenz: bei 50% nach 3 Jahren und bei 5% erst nach 20 Jahren. Auch wenn ca. 16% der Männer und ca. 23% der Frauen eine psychiatrische Komorbidität haben, sind FND eher selten. Am häufigsten bestehen gleichzeitig Depressionen und Angststörungen.

Läsionen im Gehirn auch bei Migräne

Schwieriger wird die Diagnostik, wenn sich „MS-typische“ Läsionen in der MRT des Gehirns finden, die aber letztlich nicht einmal auf ein autoimmunologisch-entzündliches Geschehen zurückzuführen sind – wie Neuromyelitis-Optica-Sektrumerkrankung, M. Behçet, Neuro-Sarkoidose oder Neuro-Lupus.

 
Schwieriger wird die Diagnostik, wenn sich „MS-typische“ Läsionen in der MRT des Gehirns finden, die aber letztlich nicht einmal auf ein autoimmunologisch-entzündliches Geschehen zurückzuführen sind. Dr. Christoph Stenzel
 

Bei jüngeren Patienten ist die Migräne mit ca. 20% die häufigste Fehldiagnose. Auffällige MRT-Befunde bei Migräne-Patienten sind keine Seltenheit, und die Anzahl der Marklagerläsionen nimmt mit der Zeit zu. Untypisch dabei sind Balkenläsionen, spinale Herde und kontrastmittelaufnehmende Läsionen. Umgekehrt sprechen häufige Kopfschmerzepisoden, funktionelle Defizite, die Minuten bis Stunden dauern, bunte Pixel und flimmernde Sehstörungen, die durch das Gesichtsfeld wandern, nicht für MS oder einen MS-Schub.

 
Bei jüngeren Patienten ist die Migräne mit ca. 20% die häufigste Fehldiagnose. Dr. Christoph Stenzel
 

Bei älteren Patienten ist das Risiko für zerebrale mikroangiopathische Läsionen, insbesondere bei gleichzeitigem arteriellen Hypertonus und Diabetes mellitus, erhöht. Bei ca. 5% alle MS-Patienten wird die Erstdiagnose in einem Alter über 50 Jahren gestellt, davon haben ca. 50% gleichzeitig zerebrovaskuläre Risikofaktoren.

Liquordiagnostik auch nicht zu 100% sicher

Auch die Liquordiagnostik allein bietet leider keine hundertprozentige Sicherheit. Die typischen oligoklonalen Banden (OKB) sind nur dann typisch, wenn es sich um Banden Typ 2 handelt, d.h. nur im Liquor und nicht im Serum nachweisbar. Zudem kann es sein, dass es in der Frühphase der MS noch keine oligoklonale IgG-Produktion im ZNS gibt. OKBs sind zudem unspezifisch, d.h. sie können auch als Folge anderer ZNS-Schädigungen auftreten. Typischerweise finden sich erhöhte IgG-Antikörpertiter für Masern-, Röteln- und/oder Varizella Zoster-Viren im Liquor (positive MRZ-Reaktion).

 
Auch die Liquordiagnostik allein bietet leider keine hundertprozentige Sicherheit. Dr. Christoph Stenzel
 

Die Diagnose MS bleibt also weiterhin eine Herausforderung, insbesondere um wirklich sicher zu sein, dass man mit dem frühen Start einer hochwirksamen immunmodulierenden Therapie den Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen lässt.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf  Coliquio.de .
 

Kommentar

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