Die Zahl der Notfallpatienten ist deutlich gestiegen: 2019 wurden 27,8 Millionen Notfälle versorgt – 3 Millionen mehr als noch 2009. Allein bei Krankenhäusern ging es innerhalb von 10 Jahren um knapp 30% nach oben. Klar ist, dass der Trend gestoppt werden muss.
Umstrittene Reform der Notfallversorgung
Eine Expertenkommission hat nun Reformvorschläge vorgelegt . Im Zentrum stehen ein neues Leitsystem für Notrufe, die integrierte Leitstelle (ILS), und integrierte Notfallzentren (INZ) an mehr als 400 Krankenhäusern.
Die ILS sollen Anrufer an die für sie am besten geeignete Notfallstruktur vermitteln. Und an den Kliniken sollen die INZ – bestehend aus der Notaufnahme vor Ort, einer kassenärztlichen Praxis und einer zentralen Entscheidungsstelle – Patienten steuern.
Niedergelassene nicht einbezogen
Während die DKG die Pläne begrüßt, äußert der Hartmannbund Kritik. Dr. Andreas Gassen, Vorsitzender der KBV, sieht in den Vorschlägen „mehr Schatten als Licht“. Auch Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes, ist im Gespräch mit Medscape skeptisch und kritisiert, dass die Sicht der Niedergelassenen im Entwurf außen vor bleibe.

Dr. Dirk Heinrich
© Virchowbund / Lopata
Medscape: Eine Expertenkommission hat jetzt Vorschläge zur Reform der Notfallversorgung vorgelegt. Was halten Sie davon?
Heinrich: Grundsätzlich muss man sagen: Diese Expertenkommission besteht ja leider nur aus Krankenhausärzten und Wissenschaftlern. Niedergelassene Ärzte waren und sind nicht Teil der Kommission. Es wundert mich deshalb wenig, dass die Vorschläge eine sehr einseitige Sicht der Dinge spiegeln.
Medscape: Inwieweit wurden denn die Niedergelassenen in Entstehung des Entwurfs einbezogen?
Heinrich: Wir als niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wurden nicht befragt. Anfangs wurde Ärztekammerpräsident Reinhardt in die Kommission eingeladen. Weder der Virchowbund noch der Spitzenverband Fachärzte wurde gefragt; auch nicht die KV Hamburg, obwohl sie die einzige KV ist, die ein INZ betreibt. Leider war die Kommission auch nicht in Hamburg, um sich anzuschauen, wie das vor Ort funktioniert. Ich würde schon erwarten, dass sich eine Expertenkommission entsprechend informiert. Was an Vorschlägen vorgelegt wird, geht deshalb an der Realität vorbei.
Theorie trifft Praxis
Medscape: Stichwort „an der Realität vorbei“. Hätten Sie dazu ein paar Beispiele?
Heinrich: 1. Beispiel: An jeder Klinik der Stufe 2 und 3 soll ein INZ mit einer KV-Notfallpraxis eingerichtet werden. Das würde allerdings in Ballungsräumen wie etwa Hamburg dazu führen, dass wir an allen großen Kliniken eine Notfallpraxis einrichten müssten. Das wären allein in Hamburg 9 Stück. Das ist deutlich zu viel. Die 5 Notfallpraxen, die wir aktuell haben, reichen völlig aus – eigentlich sind es sogar schon zu viel. Hinzu kommt: Wir haben gar nicht die Ärzte, um weitere Notfallpraxen zu besetzen.
2. Beispiel: Die KV-Notfallpraxen sollen von 14 bis 22 Uhr durch niedergelassene Ärzte besetzt werden. Ich selbst bin aber beispielsweise um 14 Uhr noch in meiner Praxis, und zwar meist bis 19 Uhr. Es gibt also deutliche zeitliche Überschneidungen. Solange die Praxen der Niedergelassenen noch geöffnet sind, besteht eigentlich überhaupt kein Grund eine Notfalleinrichtung aufzusuchen. Es besteht damit auch kein Grund für die KV-Praxis in diesen Zeiten zu öffnen. Da entsteht auch ein Konkurrenzsituation, z. B. für eine Hausarztpraxis direkt neben einem Krankenhaus, das jeden Tag um 14 Uhr seine KV-Notfallpraxis öffnet. Kurz: Das ergibt keinen Sinn. Und es ist personell nicht darstellbar.
3. Beispiel: Angenommen, der Reformvorschlag würde so umgesetzt, dann fehlt mir ein wichtiger Satz: nämlich der, der regelt, dass in Krankenhäusern, die keine INZ und keine KV-Notfallpraxis haben, auch keine Notfallaufnahmen mehr existieren dürfen. Blicken wir noch einmal nach Hamburg: Wir haben 21 Krankenhäuser, die zur Notfallbehandlung zugelassen sind. Nach Umsetzung des Reformvorschlags gäbe es 9 INZ. Was aber passiert an den anderen 12 Krankenhäusern? Wenn alles so weiterläuft wie jetzt – dass man als Patient ohne Steuerung eine Klinik aufsuchen kann und dort behandelt wird – dann kommt das einer Ausweitung des Angebots gleich. Man muss schon sagen: Wenn wir solche INZ einrichten, dann müssen auch alle Patienten dorthin, werden dort triagiert und der entsprechenden Versorgungsstufe zugewiesen. Wenn ich dann aber – um beim Beispiel Hamburg zu bleiben – als Patient 12 Optionen habe, dieses Steuerungssystem zu umgehen, dann ergibt die Reform keinen Sinn.
Fehler im Entwurf
Medscape: Sie sprechen von einem grundsätzlichen Fehler im Entwurf. Was meinen Sie damit?
Heinrich: Der grundsätzliche Fehler liegt meines Erachtens darin, dass man erst gar nicht den Versuch unternommen hat, die Inanspruchnahme durch die Patienten effektiv zu begrenzen. Im Grunde genommen ist der Entwurf eine erneute Ausweitung des Notfallangebotes. Das würde zwangsläufig dazu führen, dass auch die Inanspruchnahme weiter zunimmt. Insofern bin ich schon enttäuscht von diesen Vorschlägen. Die Inanspruchnahme zu regulieren wäre dringend notwendig, denn wir erleben in den Notaufnahmen eine Über-Inanspruchnahme des Systems.
Medscape: Sie kritisieren auch die Finanzierung…
Heinrich: Geplant ist: Sollten die KVen die Einrichtung und Besetzung der Notfallpraxen nicht erfüllen können, sollen sie Ausgleichszahlungen leisten. Aus meiner Sicht ist das der nächste Konstruktionsfehler. Zunächst einmal müsste der gesamte Notdienst von den Krankenkassen solide finanziert werden. Die Situation sieht jetzt schon so aus, dass die KVen die KV-Notfallpraxen und den fahrenden Dienst aus dem Verwaltungskostenhaushalt der jeweiligen KV – also aus den Honoraren der niedergelassenen Ärzte – finanzieren. Die Vorhaltekosten machen die Notfallversorgung schon jetzt zu einem defizitären Angebot. Es ist den niedergelassenen Ärzten nicht zuzumuten, dass sie das aus ihren Honoraren bezahlen – und schon gar nicht, wenn das Angebot jetzt auch noch ausgeweitet werden sollte.
Medscape: Stichwort Inanspruchnahme. Wie ließe sich diese denn vernünftig steuern?
Heinrich: Es muss ein ausreichendes telefonisches und telemedizinisches Angebot geben. Der Patient, der noch zuhause ist und überlegt, ob er sich jetzt behandeln lassen muss, muss die Möglichkeit haben sich zu informieren und eine konkrete Auskunft zu bekommen. Die Auskunft muss auch mit einem Terminangebot verbunden sein. In Hamburg z.B. ruft man am Wochenende die 116 117 an, wird beraten, kann mit einem Arzt sprechen und bekommt auch direkt einen Termin beim Haus- oder Facharzt für Montagmorgen vermittelt. Es gibt natürlich auch einen aufsuchenden Dienst, der in entsprechend schweren Fällen einen Hausbesuch macht.
Patienten, die sich trotzdem in einer Klinik vorstellen wollten, müssten in ein INZ samt KV-Notfallpraxis geleitet werden. Dort würde dann entschieden: Wer ist ein Fall für die Notaufnahme, und wer kommt in die KV-Notfallpraxis? Es gäbe auch Patienten, die wieder nach Hause geschickt würden. Wer etwa nur eine leichte Erkältung hat, erhält besser einen Arzttermin. Das Entscheidende ist, dass die tatsächlich über diesen Tresen einer Versorgungsebene zugeteilt werden müssen. Solange es aber Bypass-Möglichkeiten gibt, ist die Reform zum Scheitern verurteilt.
Fatale Folgen der Reform
Medscape: Was denken Sie – wie würde sich der Entwurf auswirken?
Heinrich: Ich glaube, diese Pläne würden grandios scheitern. Aus den genannten Gründen und weil wir nicht das Personal dafür haben – weder die MFAs noch die Ärztinnen und Ärzte.
Nun könnten die KVen zwar zum Notdienst zwangsverpflichten, aber das würde massiven Ärger nach sich ziehen und die Probleme der Niederlassung – Stichwort Hausarztmangel – noch weiter verschärfen. Wer möchte sich denn noch irgendwo niederlassen, wenn solche Zwangsmaßnahmen die Niederlassung noch unattraktiver machen? Gesetzt den Fall, die Pläne würden so umgesetzt, dann käme das einer Ausweitung der Inanspruchnahme gleich, mit dem Effekt, dass wir am Ende noch mehr Notfallpatienten als heute haben.
Medscape: Wie geht es jetzt weiter, wie wird sich der Virchowbund einbringen?
Heinrich: Wir warten vorerst ab, wie sich diese Diskussion entwickelt. Bislang handelt es sich ja nur um einen Reformentwurf der Expertenkommission. Wenn das Bundesgesundheitsministerium dann einen Referentenentwurf vorlegt, wird es von uns eine deutliche Stellungnahme dazu geben. Meine Hoffnung ist, dass bereits in der Diskussion auch die Schwächen des Entwurfs deutlich werden und noch entsprechend nachgebessert wird.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Diesen Artikel so zitieren: Wird die Reform der Notfallversorgung „grandios scheitern“? Niedergelassene kritisieren zahlreiche Schwächen im Konzept - Medscape - 22. Feb 2023.
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