Ängste, Schizophrenie, Depression, Sucht – Hirnkartierung zeigt, dass einige psychiatrische Leiden über Netzwerke verwandt sind

Batya Swift Yasgur

Interessenkonflikte

20. Februar 2023

Ein bestimmtes Netzwerk neuronaler Verbindungen steht mit 6 verschiedenen psychiatrischen Störungen in Zusammenhang: Schizophrenie, bipolare Störung (BD), Depression, Sucht, Zwangsstörungen und Angstzustände.

Das ist das Ergebnis einer neuen Studie, bei der mithilfe von Hirnkoordinaten und Läsions-Symptom-Kartierung untersucht wurde, ob es Hirnnetzstrukturen gibt, die mehrere psychiatrische Störungen gemeinsam haben. Die Ergebnisse wurden am 12. Januar in Nature Human Behaviour online publiziert [1].

Die Metaanalyse aus fast 200 Studien mit insgesamt über 15.000 Personen ergab, dass die Atrophiekoordinaten dieser 6 psychiatrischen Erkrankungen sich alle einem gemeinsamen Gehirnnetzwerk zuordnen ließen. Außerdem korrelierte die Schädigung dieses Netzwerks bei Menschen mit penetrierendem Kopftrauma mit der Anzahl der psychiatrischen Erkrankungen, die bei den Patienten nach dem Trauma diagnostiziert wurden.

 
Die Untersuchung von Gehirnnetzwerken könnte uns helfen, Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen effektiver zu diagnostizieren und zu behandeln (...). Dr. Joseph Taylor
 

Die Ergebnisse „könnten weitreichende Folgen“ haben, sagte der Hauptautor Dr. Joseph Taylor, medizinischer Leiter der Abteilung für transkranielle Magnetstimulation am Zentrum für Hirnkreislauftherapien des Brigham and Women's Hospital in Boston gegenüber Medscape.

„In der Psychiatrie sprechen wir über Symptome und definieren die Erkrankungen mithilfe von Symptom-Checklisten. Diese sind zwar ziemlich zuverlässig, haben jedoch keine neurobiologische Grundlage“, sagte Taylor, der auch Psychiater am Brigham Hospital ist.

„In der Neurologie fragen wir aber: „Wo ist die Läsion?“ Die Untersuchung von Gehirnnetzwerken könnte uns helfen, Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen effektiver zu diagnostizieren und zu behandeln, genauso wie wir neurologische Störungen behandeln“, fügte er hinzu.

Mehr als Symptom-Checklisten

„In der Psychiatrie untersuchen wir Störungen oft isoliert“, wie etwa die generalisierte Angststörung und die depressive Episode, so Taylor weiter.

„Klinisch zeigt sich jedoch, dass die Hälfte der Patienten auch die Kriterien für weitere psychiatrische Störung erfüllt“, sagte er. „Diese Patienten zu diagnostizieren und zu behandeln, kann problematisch sein und das Outcome ist wenig befriedigend.“

Es bestehe zudem eine Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie diese Störungen untersucht (eine nach der anderen) und die Erkrankten in der Klinik behandelt würden, stellte er weiter fest. Dabei gebe es immer mehr Hinweise darauf, dass psychiatrische Störungen eine gemeinsame Neurobiologie teilten.

Dies „eröffnet vielleicht auch die Möglichkeit zur Entwicklung einer transdiagnostischen Behandlung, die auf einer gemeinsamen Neurobiologie und nicht nur auf Symptom-Checklisten basiert“, so Taylor.

In früheren Studien sei versucht worden, „Anomalien in gemeinsamen Hirnregionen und nicht in einem gemeinsamen Hirnnetzwerk zu verorten“, schreiben die Forschenden. Außerdem sei in derartigen Arbeiten nur selten die Spezifität durch den Vergleich psychiatrischer Störungen mit anderen Hirnstörungen getestet worden.

Für die aktuelle Studie nutzten die Forschenden „morphometrische Datensätze von Hirnläsionen in Verbindung mit einem Schaltplan des menschlichen Gehirns, um daraus ein konvergentes Hirnnetzwerk für psychiatrische Erkrankungen abzuleiten“.

Analyse 4 großer Datensätze

Sie analysierten 4 große veröffentlichte Datensätze. Der erste stammte aus der Metaanalyse zur Schätzung der Aktivierungswahrscheinlichkeit (activation likelihood estimation) von voxel-basierten Morphometriestudien am Gehirn, in denen Personen mit psychiatrischen Störungen wie Schizophrenie, bipolaren Störungen, Depression, Sucht, Zwangsstörung und Angst mit gesunden Kontrollpersonen verglichen wurden (n = 193 Studien; insgesamt 15.892 Personen).

Der 2. Datensatz stammte aus 72 Studien mit Hirnaufnahmen von Personen mit Alzheimer-Krankheit und anderen neurodegenerativen Erkrankungen. Dabei ermittelten sie bei Personen mit diesen Erkrankungen die Gebiete, in denen die Atrophien im Vergleich zur Kontrollgruppe stärker ausgeprägt waren.

Datensatz 3 stammte aus der Vietnam Head Injury Study, in der 194 Kriegsveteranen mit und ohne penetrierende Kopfverletzungen untersucht worden waren. Datensatz 4 schließlich wurde aus den publizierten Daten über die neurochirurgische Ablation bestimmter Regionen bei Depressionen entnommen.

Gemeinsame Neurobiologie

Bei der Analyse von Datensatz 1 fanden die Forschenden einen Rückgang bei der grauen Substanz in folgenden Regionen: bilaterale vordere Insula, dorsaler anteriorer zingulärer Kortex, dorsomedialer präfrontaler Kortex, Thalamus, Amygdala, Hippocampus und parietales Operkulum. Diese Ergebnisse „stimmten mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen überein“.

Allerdings trugen weniger als 35% der Studien zu einem einzigen Cluster bei, und zugleich war kein Cluster spezifisch für bestimmte psychiatrische oder neurodegenerative Hirnkoordinaten (aus Datensatz 2).

Das auf Koordinaten basierte Netzwerk-Mapping lieferte aber „statistisch robustere“ Resultate (p < 0,001), die für 85% der Studien galten. „Die Koordinaten der psychiatrischen Atrophie waren funktionell mit demselben Netzwerk von Hirnregionen verbunden“, so das Team weiter.

Dieses Netzwerk wurde durch 2 Verbindungsformen definiert (s. Tab.).

 

Verbindungsform

Hirnregion

positiv

  • bilaterale vordere Insula

  • anteriorer zingulärer Kortex

  • posteriorer zingulärer Kortex

  • Frontalpol links

negativ

  • rechts inferiorer Gyrus temporalis

  • posteriorer parietaler Kortex

  • beidseitig der laterale okzipitale Kortex (superiorer Abschnitt)

  • Hirnstamm

  • Kleinhirn

 

„Die Topographie dieses transdiagnostischen Netzwerks war unabhängig vom statistischen Schwellenwert und spezifisch für psychiatrische (bzw. neurodegenerative) Störungen, wobei der stärkste Peak im posterioren parietalen Kortex (Brodmann-Areal 7) in der Nähe des Sulcus intraparietalis festgestellt wurde“, schreiben die Forschenden.

 
Die Topographie dieses transdiagnostischen Netzwerks war unabhängig vom statistischen Schwellenwert und spezifisch für psychiatrische (bzw. neurodegenerative) Störungen. Dr. Joseph Taylor
 

Mit dem Überlagern der Läsionen aus Datensatz 3 mit der ALE-Karte und dem transdiagnostischen Netzwerk sollte geprüft werden, ob die Schädigung einer der beiden Karten mit der Anzahl der psychiatrischen Diagnosen nach der Läsion korrelierte. Hier zeigten die Ergebnisse keine Korrelation zwischen psychiatrischer Komorbidität und Schädigungen auf der ALE-Karte (Pearson-Korrelationskoeffizient r = 0,02; p = 0,766).

Als dasselbe jedoch mit dem transdiagnostischen Netzwerk versucht wurde, konnte eine statistisch signifikante Korrelation zwischen der psychiatrischen Komorbidität und dem Ort der Läsion gesehen werden (Pearson r = -0,21; p = 0,01). Nach multipler linearer Regression sah man, dass das transdiagnostische Netzwerk, nicht aber das ALE-Netzwerk „die Anzahl der psychiatrischen Diagnosen nach einer Läsion vorhersagte“ (p = 0,003 vs. p = 0,1), so das Team weiter.

Alle 4 neurochirurgischen Ablationsziele für psychiatrische Störungen, die bei der Analyse des Datensatzes 4 gefunden wurden, „überschnitten“ sich mit dem transdiagnostischen Netzwerk.

 
Es wäre hilfreich sich klar zu machen, dass psychiatrische Störungen häufig gemeinsam auftreten und eine gemeinsame Neurobiologie und ein konvergentes Gehirnnetzwerk haben können. Dr. Joseph Taylor
 

„Diese Ergebnisse haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf die klinische Praxis, doch es wäre hilfreich sich klar zu machen, dass psychiatrische Störungen häufig gemeinsam auftreten und eine gemeinsame Neurobiologie und ein konvergentes Gehirnnetzwerk haben können“, sagte Taylor.

„Eine zukünftige Fortführung unserer Arbeit könnte aber womöglich doch einen Einfluss auf klinische Studien und auch die klinische Praxis haben, was vor allem den Bereich der Hirnstimulation betreffen dürfte“, fügte er hinzu.

„Spannende neue Ziele“

Dr. Desmond Oathes, stellvertretender Leiter des Zentrums für Neuromodulation und Stress an der Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania in Philadelphia sagte in einem Kommentar für Medscape, der nächste Schritt in der Wissenschaft bestehe darin, die individuelle Hirnbildgebung („individualisierte Konnektome“, d.h. die Gesamtheit aller Nervenverbindungen), mit diesen Karten zu kombinieren, um auf der individuellen Ebene zu nützlichen Ergebnissen zu kommen.“

Oathes, der auch als Dozent am Center for the Treatment and Study of Anxiety arbeitet und nicht an der Studie beteiligt war, bemerkte zudem, dass es noch eine offene Frage sei, ob und in welche Richtung Anomalien oder Atrophien des Gehirns „therapeutisch beeinflussbar sind“.

Eine wichtige Erkenntnis dieser Untersuchung sei es, dass „die Messung des Hirnvolumens mithilfe einzelner Koordinaten so unscharf wie die Messung psychischer Anomalien ist, während Netzwerkeffekte derartige Störungen scheinbar mit größerer Sensitivität abzubilden vermögen“, so Oathes.

 
Abnorme Netzwerke bei diesen Störungen entsprechen nicht eins zu eins den von Gesunden bekannten Strukturen. Allerdings fügen sie sich gut in andere Datensätze ein. Dr. Desmond Oathes
 

Die „abnormen Netzwerke bei diesen Störungen entsprechen nicht eins zu eins den von Gesunden bekannten Strukturen. Allerdings fügen sie sich gut in andere Datensätze ein, in denen es um psychiatrische Störungen geht, und bieten interessante neue potenzielle Ziele für prospektive Behandlungsstudien“, fügte er hinzu.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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Kommentar

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