Hochpathogene aviäre Influenzaviren (HPAI) verursachen seit Jahrzehnten zeitlich und räumlich begrenzte Ausbrüche bei Wildvögeln sowie bei Nutzgeflügel. Doch die Lage hat sich grundlegend geändert, da plötzlich Säugetiere infiziert werden – und es Hinweise auf die Übertragung zwischen Säugetieren gibt. Wie schätzen Experten die aktuelle Situation ein? Droht die nächste Pandemie? Sind Menschen ebenfalls gefährdet?
Aviäre Influenzaviren breiten sich aus
Zum Hintergrund: Die Aviäre Influenza oder Vogelgrippe wird durch Influenza-A-Viren ausgelöst, u.a. durch A(H5N1), A(H7N9), A(H5N6) und A(H9N2). Forscher konnten solche Viren in Mitteleuropa lange Zeit nur während der Wintermonate nachweisen.
Zwischen Oktober 2021 und September 2022 hat Europa aber die bislang verheerendste Epidemie erlebt. Vor allem Seevogelkolonien waren betroffen. Und in Geflügelfarmen starben 50 Millionen Vögel oder mussten gekeult werden. „Wir sehen: Das Vogelgrippevirus H5N1 hat sich besser an Wildvögel und besser an die Saisonalität in Europa angepasst“, sagt Prof. Dr. Martin Beer vom Friedrich-Loeffler-Institut, Greifswald-Insel Riems. Es gebe aber durchaus das Risiko von Übertragungen auf Säugetiere.
Die Vogelgrippe infiziert auch Säugetiere
Da bestimmte Sialinsäure-Rezeptoren in den oberen Atemwegen von Vögeln häufiger zu finden sind als in den oberen Atemwegen von Säugetieren, haben aviäre Influenzaviren Säugetiere bislang weitgehend verschont. Doch die Lage scheint sich grundlegend zu verändern.
Im Oktober 2022 erregte ein Ausbruch in einer Nerzfarm im Nordwesten Spaniens großes Interesse. Arbeiter mussten beobachten, dass die Sterblichkeitsrate der Nerze von 0,25% pro Woche auf 0,77% pro Woche angestiegen war. Sie veranlassten Untersuchungen auf das H5N1- und das SARS-CoV-2-Virus. Dabei fanden Labore nur H5N1. In den folgenden Wochen erkrankten immer mehr Tiere. Schließlich wurden alle 51.986 Nerze gekeult.
Das Virus sei wahrscheinlich durch Wildvögel in die Farm gelangt, berichtet Prof. Dr. Ursula Höfle von der University of Castilla-La Mancha, Spanien. Da die Variante genetisches Material eines aviären Virus, das Möwen befällt, aufweist, zirkuliert das Virus wahrscheinlich noch in Vogelpopulationen. Bei detaillierten Untersuchungen fanden Wissenschaftler eine Mutation im PB2-Gen. Diese erleichtere eine Übertragung zwischen Nerzen, weiß Höfle. „Das muss aber noch experimentell überprüft werden. Wir haben derzeit keine harten Fakten, aber dennoch einige Indizien.“
Anfang Februar 2022 folgten Berichte aus Peru. Dort sollen neben Zehntausenden Wildvögeln auch fast 600 Seelöwen am Virus verendet sein. Labore hätten laut der peruanischen Forst- und Wildtierbehörde ebenfalls H5N1 nachgewiesen.
Und im US-Bundesstaat Montana wurden 3 Grizzlybären getötet, nachdem sie sich mit diesem Virus infiziert hatten. Sie hatten Kontakt zu Wildvögeln. „Wir sollten vorsichtig sein und daraus nicht zu viele Schlussfolgerungen ziehen“, warnt Beer.
Naht der Sprung auf den Menschen?
Wie leicht das in Spanien gefundene Virus Menschen infizieren oder sich sogar zwischen Menschen verbreiten könnte, ist unbekannt. Sequenzierte Virusproben zeigen mehrere Veränderungen im Vergleich zum Wildtyp.
Die Viren haben Mutationen in den Genen PB2, PB1, PA, NA, NS2, M2 und PB1-F2, verglichen mit den am engsten verwandten H5N1-Viren. Speziell weisen alle Nerzviren ein Alanin (A) an Position 271 von PB2 (T271A) auf, das die Polymeraseaktivität von Influenza-A-Viren in Säugetierwirtszellen und Mäusen erhöht. Diese Veränderung könnte dazu beitragen, dass sich H5N1 besser in Säugetiergewebe repliziert.
Das Gen für Hämagglutinin, ein Protein auf der Virusoberfläche, das sich an den Wirtsrezeptor heftet, ist in bislang sequenzierten Viren unverändert. Eine weitere Mutation namens E627K, die dem Erreger dazu verhilft, schneller in gesunde Zellen einzudringen, sei allerdings nicht aufgetaucht, sagt Tom Peacock, Virologe am Imperial College London. „Vielleicht haben wir noch Glück gehabt.“ Dennoch sieht er in der Dynamik „einen klaren Mechanismus für den Beginn einer H5-Pandemie“.
Beer ergänzt: „Das H5N1-Virus hat den effizienten Sprung in die Säugetiere glücklicherweise noch gar nicht vollzogen. Die Übertragung zwischen den Nerzen ist aber eine Warnung.“
„Grundsätzlich haben aviäre Influenzaviren pandemisches Potenzial“, erklärt auch Elke Reinking, Sprecherin des Friedrich-Löffler-Instituts. „Die sogenannte Spanische Grippe von 1918 geht vermutlich auf ein aviäres Influenzavirus (H1N1) zurück.“ Doch sie relativiert: „Bisher hat kein Erreger durch hochpathogene Formen der von den Virus-Subtypen H5 und H7 hervorgerufenen Geflügelpest eine Pandemie induziert. Es ist daher unklar, unter welchen Umständen das möglich wäre und ob es überhaupt für diese Subtypen möglich ist.“
Welche Maßnahmen sollten Länder jetzt treffen?
Prof. Dr. Ian H. Brown von der Virology at the Animal and Plant Health Agency (APHA) im britischen Weybridge rät, vor allem auf ein umfassendes Screening und Monitoring zu setzen. „Dann können wir Maßnahmen in einer überschaubaren Population von Tieren ergreifen“, sagt er. Meist würden die Tiere gekeult, um ein Überspringen des Virus auf andere Betriebe zu verhindern. Außerdem sollten genomische Daten weltweit geteilt werden, sagt Brown. Hier bräuchten manche Länder Unterstützung.
Beer bestätigt, dass europäische Staaten bislang auf das Keulen infizierter Tiere in Farmen gesetzt hätten. Doch es gebe Alternativen. „In China werden Hühner geimpft, um indirekt den Menschen vor einem anderen Vogelgrippevirus zu schützen“, sagt er. In Europa macht sich ein Umdenken bemerkbar; das Thema soll auf höchster Ebene diskutiert werden. Bislang hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) kein Vakzin dafür zugelassen. Und viele Nationen weltweit lehnen es ab, Geflügel aus Ländern zu importieren, in denen gegen die Vogelgrippe geimpft wird.
Der Ausbruch wirft auch ein negatives Licht auf die Nerzzucht. Beer rät, die Haltung solcher Tiere „so stark wie möglich zu kontrollieren und zu verringern“. Die Niederlande, die bereits vor der Corona-Pandemie erklärt hatten, die Nerzzucht bis 2024 aus ethischen Gründen einzustellen, schlossen 2021 alle verbleibenden Betriebe.
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Photographer: © Michael Meijer
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Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Vogelgrippe: Erst Nerze, dann Seelöwen, Bären – und bald der Mensch? Noch mal „Glück gehabt“, aber „eine Warnung“ - Medscape - 17. Feb 2023.
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