Abnehmspritze Semaglutid & Co – „Nachfrage unglaublich groß“: Wie Experten den „Gamechanger in der Adipositas-Therapie“ bewerten

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

16. Februar 2023

Über die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland sind übergewichtig und 19% adipös. Seit Monaten wird nun der GLP-1-Rezeptor-Agonist Semaglutid über soziale Medien als „Spritze zum Abnehmen“ beworben. Aktuell ist das Mittel von der EMA unter dem Handelsnamen Wegovy® zwar schon zur Behandlung von Adipositas zugelassen – aufgrund von Lieferengpässen ist die Markteinführung jedoch bisher nicht erfolgt. 

Die mangelnde Verfügbarkeit kann den Hype um die neuen Therapieoptionen jedoch kaum bremsen. Allein auf TikTok verzeichnen die Hashtags #Ozempic und #Wegovy über 600 Millionen Aufrufe. Unter dem Namen Ozempic® wird Semaglutid niedriger dosiert als Wegovy® (2,4 mg pro Woche) zur Therapie des Typ-2-Diabetes eingesetzt.

Unabhängig vom Hype um das Mittel stufen Prof. Dr. Jens Aberle,  Ärztlicher Leiter des Adipositas-Centrums am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Prof Dr. Anja Hilbert, psychologische Leiterin der Adipositasambulanz am Universitätsklinikum Leipzig und PD Dr. Timo Müller, Leiter der Abteilung für Molekulare Pharmakologie am Institut für Diabetes und Adipositas, Helmholtz Zentrum München den GLP-1-Rezeptor-Agonisten als „Gamechanger in der Adipositas-Therapie“ ein. 

„Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in die Nähe dieser Effektivität kamen und die noch dazu sicher sind, belegt mit guten Endpunktstudien. Das wird zurecht eine zunehmende Rolle spielen“, sagte Aberle, der auch Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft ist, auf dem Press Briefing „Semaglutid & Co – Diabetesspritzen zum Abnehmen“ des SMC[1].

Infrage kommen Medikamente zur Gewichtsreduktion ab einem BMI von 30 oder ab einem BMI 27 - wenn relevante Komorbiditäten vorliegen wie z.B. Diabetes oder Hypertonie. Voraussetzung für eine zulassungskonforme Verschreibung ist, dass konservative Therapiemaßnahmen - Ernährung, Bewegung und Verhaltenstherapie - im Vorfeld durchgeführt wurden und dass diese Elemente eine medikamentöse Therapie weiterhin flankieren. „Die Nachfrage nach diesen Medikamenten ist unglaublich groß. Das liegt natürlich daran, dass Medikamente so effektiv sind und vielen Menschen helfen können“, berichtete Aberle.

 
Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in die Nähe dieser Effektivität kamen und die noch dazu sicher sind, belegt mit guten Endpunktstudien. Prof. Dr. Jens Aberle
 

Nach dem Absetzen des Mittels nahmen Probanden wieder zu

Auch wenn mit Semaglutid ein potentes Mittel zum Abnehmen zur Verfügung steht: Standard in der Adipositas-Therapie sind nach wie vor verhaltenstherapeutische Maßnahmen mit Interventionen zu Ernährung und Bewegung. „Reichen verhaltenstherapeutische Maßnahmen nicht aus, dann kommen Medikamente hinzu. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen spielen auch bei Gewichtserhaltung eine große Rolle“, erklärte Hilbert.

„Semaglutid ist eine langfristige Therapie. Denn durch das Absetzen droht eine Art Jo-Jo-Effekt“, wie Müller bestätigt. „Die aktuelle Datenlage weist daraufhin, dass es sich wohl um eine lebenslange Therapie handelt.“ Bei Nagetieren zeige sich eine relativ rasche Gewichtszunahme nach Absetzen des Medikaments, berichtete Müller „Die klinischen Daten zeigen das auch“, fügte Aberle hinzu und verwies auf die Ergebnisse der STEP-1-Studie. 

Darin hielten Patienten so lange das reduzierte Gewicht, wie sie die Substanz verwendeten. Nach dem Absetzen allerdings nahmen die meisten Probanden wieder an Gewicht zu. Aberle betonte, dass das klar kommuniziert werden muss, denn: „die meisten Patienten sehen diese Medikamente als temporären Support an und nicht als lebenslange Therapie.“ 

 
Semaglutid ist eine langfristige Therapie. Denn durch das Absetzen droht eine Art Jo-Jo-Effekt. PD Dr. Timo Müller
 

Abnehmspritze erhöht gesellschaftlichen Druck Richtung Schlankheit 

Die Nebenwirkungen sind bei Semaglutid verhältnismäßig überschaubar. „Fast alle Patienten weisen zu Therapiebeginn eine gewisse Übelkeit auf“, berichtete Aberle. Die Dosis werde deshalb langsam auftitriert. Aufgrund der raschen Gewichtsreduktion besteht ein Risiko für die Bildung von Gallensteinen, substanzielle treten aber selten auf, so Aberle.

Pankreatitis ist eine potenzielle Nebenwirkung, das erhöhte Risiko ist minimal, die meisten Fälle – in Studien 8 von 10 – sind durch Gallensteine bedingt. „Ein kleines Signal, aber klinisch nicht relevant. In der Risiko-Nutzen-Abwägung schlägt das Pendel eindeutig zugunsten des Nutzens aus“, betonte Aberle. 

 
In der Risiko-Nutzen-Abwägung schlägt das Pendel eindeutig zugunsten des Nutzens aus. Prof. Dr. Jens Aberle
 

Nach Einschätzung Hilberts wird die Einführung des Medikaments den gesellschaftlichen Druck Richtung Schlankheit erhöhen. „Auf der einen Seite sind dann die, die mithilfe dieser Medikamente gut abnehmen, für diese Patienten wird sich die Stigmatisierung reduzieren. Es wird aber auch Personen geben, die dieses Medikament nicht einnehmen können oder wollen, die es nicht bekommen können oder es sich nicht leisten können - und die geraten unter einen erhöhten gesellschaftlichen Druck und werden wohl mehr Stigmatisierung erleben“, erläuterte Hilbert.

Semaglutid kann auch bei Heranwachsenden in Verbindung mit Verhaltenstherapie das Körpergewicht um 20% senken, wie eine unlängst im New England Journal of Medicine erschienene Studie mit 12 bis 18-Jährigen gezeigt hat. In den USA ist Wegovy für die Behandlung von Adipositas bei Heranwachsenden – mit BMI über der 95. Perzentile für Alter und Geschlecht – seit Dezember 2022 von der FDA zugelassen

Semaglutid war bislang erst ab 18 zugelassen, „im Moment spielt es bei unter 18-Jährigen noch keine Rolle“, berichte Aberle. Liraglutid hingegen ist bereits ab 12 Jahre zugelassen und wird vereinzelt auch bei adipösen Jugendlichen (über der 97. Perzentile) eingesetzt, die mit konservativen Maßnahmen keinen Erfolg haben. 

Hilbert rechnet damit, dass sich die Verfügbarkeit einer Abnehmspritze für Heranwachsende auf Jugendliche unterschiedlich auswirkt: „Wenn so ein Medikament verfügbar ist, wird der gesellschaftliche Druck steigen. Bei Denjenigen, die das Medikament haben wird sich das Wohlbefinden steigern. Bei Denjenigen hingegen, die das Mittel nicht haben, wird eher die Stigmatisierung zunehmen“, vermutet Hilbert und fügt hinzu: „Das ist spekulativ, dazu gibt es keine Forschung.“

 
Wenn so ein Medikament verfügbar ist, wird der gesellschaftliche Druck steigen. Prof Dr. Anja Hilbert
 

Alternative zur Operation?

Unter Einnahme der Medikamente wird eine Gewichtsreduktion von bis zu 20% erreicht. „Das kommt schon sehr nahe an die Effektivität von OPs heran“, erklärte Aberle. Und werde eine Reihe von Patienten zunächst mal von den OPs abhalten – sofern die Medikamente irgendwann erstattungsfähig würden. Dennoch gebe es substanzielle Unterschiede. 

Die OPs sind gewünschte „dauerhafte Lösungen“, die ohne Medikamente zur Gewichtsreduktion führen und mit 30 bis 35% Gewichtsreduktion noch ein bisschen effektiver als Medikamente sind. Aberles Einschätzung nach wird ein Teil der Patienten nicht mehr operiert werden müssen. Semaglutid ist auch bei Prädiabetes geeignet, „denn jede Form der Gewichtsreduktion verringert das Transmissionsrisiko vom Prädiabetes zum Diabetes“, betonte Aberle.

Noch steht die Entscheidung aus, ob und wenn ja für welche Patientengruppen die Krankenkassen eine solche Adipositas-Therapie erstatten würden. Paragraf 34 des SGB 5 schließt Medikamente zur Gewichtsreduktion von der Erstattung aus. „Die Kassen dürfen das derzeit nicht übernehmen. Das steht im Widerspruch zur Anerkennung der Adipositas als Erkrankung“, so Aberle.

 
Die Kassen dürfen das derzeit nicht übernehmen. Das steht im Widerspruch zur Anerkennung der Adipositas als Erkrankung. Prof. Dr. Jens Aberle
 

2020 hatte der BT den G-BA beauftragt, ein Disease Management Programm für Adipositas zu entwickeln; das wird gerade erarbeitet.  „Einerseits wird Adipositas als Erkrankung anerkannt und eine riesige Menge von Patienten leidet an Adipositas - andererseits werden aber Therapien zur Adipositas von den Kassen nicht erstattet. Und das betrifft nicht nur die Medikamente, sondern auch Ernährungsberatung oder Basistherapie“, beschreibt Aberle die derzeitige Situation.  

Wegovyâ ist erst der Anfang: Weitere Kandidaten werden in klinischen Studien erprobt und finden ihren Weg in Adipositas-Kliniken. So zum Beispiel Tirzepatid. Es wirkt dual, indem es zusätzlich zu GLP-1 die Rezeptoren für ein weiteres im Darm gebildetes Inkretin-Hormon, das Glukose-abhängige insulinotropische Polypeptid (GIP), aktiviert. 

„Der Gewichtsverlust ist nochmal deutlich stärker verglichen mit GLP1 alleine. Tirzepatid ist in den USA für die Therapie des Typ-2-Diabetes zugelassen, für die Adipositas-Behandlung steht die Zulassung noch aus. Das wird zeitnah auch in Deutschland zugelassen werden. Die Wirkung auf das Gewicht ist deutlich stärker als bei Semaglutid, wir reden von 23%, viele dieser Patienten verlieren mehr als 25% Gewicht“, berichtete Müller.

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