Transgender: Hormontherapie verbessert bei Jugendlichen Erscheinungsbild-Kongruenz und psychosoziales Wohlbefinden

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

16. Februar 2023

Stimmen biologisches Geschlecht und empfundene Geschlechtsidentität nicht überein, liegt eine Geschlechtsinkongruenz vor. Mit dem Einsetzen der Pubertät entwickelt sich typischerweise ein deutlicher Leidensdruck. Betroffene weisen – verglichen mit der Gesamtbevölkerung – mit 9 bis 11% eine erhöhte Rate an Suizidversuchen und mit 1,5 bis 2% eine deutlich höhere Rate an vollendeten Suiziden auf.

Die Geschlechtsdysphorie führt bei vielen zum Wunsch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen. Eine geschlechtsangleichende Hormontherapie (GAHT) verbessert bei transgender und nicht-binären Jugendlichen die Erscheinungsbildkongruenz und das psychosoziale Wohlbefinden – das zeigen die Ergebnisse einer unlängst im New England Journal of Medicine erschienenen prospektiven Beobachtungsstudie aus den USA [1].

Psychische Folgen nach Hormontherapie untersucht

Dr. Diane Chen vom Ann & Robert H. Lurie Children's Hospital in Chicago und ihr Team hatten bei 315 transsexuellen und nicht-binären Teilnehmern (Alter: 12 bis 20 Jahre) die Entwicklung der psychosozialen Funktionsfähigkeit über 2 Jahre nach Beginn der GAHT untersucht. 190 Teilnehmer (60,3%) waren transmännlich, 25 (7,9%) hatten zuvor eine Behandlung mit Pubertätsblockern erhalten.

Zu Studienbeginn und nach 6,12, 18 und 24 Monaten füllten die Teilnehmer diverse Fragebögen aus (u.a. Transgender Congruence Scale, Beck-Depressions-Inventar, Revised Children's Manifest Anxiety Scale). Über modellierte Wachstumskurven bestimmten Chen und ihr Team die individuellen Verläufe.

Während des Studienzeitraums stieg bei den Probanden die Erscheinungsbildkongruenz, und die Lebenszufriedenheit nahm zu, während Depressionen und Angstsymptome abnahmen. Das häufigste unerwünschte Ereignis waren Selbstmordgedanken (bei 11 Teilnehmern); bei 2 Teilnehmern kam es zum Suizid.

Das verbesserte psychosoziale Wohlbefinden „unterstützt den Einsatz der GAHT als wirksame Behandlung für transsexuelle und nichtbinäre Jugendliche“, schreiben die Studienautoren und kündigen an, die untersuchte Kohorte weiterzuverfolgen, „um zu sehen, ob die Verbesserungen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden können. Wir hoffen auch, zusätzliche Prädiktoren zu entdecken, um die Jugendlichen zu identifizieren, für die eine GAHT alleine nicht ausreicht, um psychische Probleme zu bewältigen.“

Zu 80% streben Mädchen eine Geschlechtsumwandlung an

„Chen und Team belegen in einer größeren Studie, was man – als behandelnder Arzt – im Einzelbeispiel selbst erlebt hat: dass man über die Hormongabe die Lebensqualität dieser Menschen deutlich verbessern kann. Das ist signifikant. Bislang haben vornehmlich kleine Studien gezeigt, dass sich die Depressivitäts-Scores und die Scores für Lebensqualität deutlich verbessert haben“, kommentiert Prof. Dr. Günter Stalla die Studienergebnisse. Der Internist, Endokrinologe und Androloge mit Praxis in München ist auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE).

 
Die Betroffenen outen sich in immer jüngeren Jahren. Und es sind jetzt deutlich mehr Mädchen und Frauen, die Männer werden wollen. Prof. Dr. Günter Stalla
 

Stalla hat in 30 Jahren Praxis 1.000 Patienten bei ihrer Geschlechtsumwandlung hormonell begleitet. Waren es früher vorwiegend ältere Menschen und vornehmlich Männer, die Frauen werden wollten, hat sich das im Lauf der Jahrzehnte verändert. „Die Betroffenen outen sich in immer jüngeren Jahren. Und es sind jetzt deutlich mehr Mädchen und Frauen, die Männer werden wollen“, berichtet Stalla.

Zu 80% sind es Mädchen, die eine Geschlechtsumwandlung anstreben. Den Altersshift erklärt Stalla damit, dass die Thematik offen diskutiert wird, ein häufiges Thema in den Medien ist und der Gesetzgeber den Weg zur Geschlechtsumwandlung erleichtert hat. „Früher mussten sich manche Betroffene die Hormone illegal verschaffen und sich dann im Ausland operieren lassen“, erinnert Stalla.

Epidemiologie der Transidentität

Zur Epidemiologie der Transidentität existieren keine sicheren Daten. Aus Hochrechnungen der Daten großer spezialisierter Behandlungszentren für transidente Menschen wird die Prävalenz auf 0,02 bis 0,03% geschätzt. Schätzungen hingegen, die auf Befragungen zur Geschlechtsidentität basieren, ergeben eine mehr als 10-mal so hohe Prävalenz von 0,3 bis 0,5%.

Im Kindesalter liegen die Zahlen teils deutlich darüber, nur bei einem kleineren Anteil hält die Transidentität bis in das Erwachsenenalter hinein an.

Verschiedene Möglichkeiten der Behandlung

Bei Störungen der geschlechtlichen Identität sieht der Weg in Deutschland so aus: Der Betroffene nimmt Kontakt zu einem Kinderpsychiater oder Kinderpsychotherapeuten auf, der auch die Indikation für eine hormonelle Pubertätsblockade und/oder eine GAHT stellt. Eine GAHT ist – das Einverständnis der Eltern und die Reife des Jugendlichen vorausgesetzt – ab 16 Jahren möglich und führt schnell zu deutlichen, teilweise irreversiblen Veränderungen.

Bei jüngeren Kindern und Jugendlichen kann ab Einsetzen der Pubertät eine reversible pubertätshemmende Therapie mit GnRH-Analoga infrage kommen. Mit den Pubertätsblockern soll Zeit erkauft und die Transition vorbereitet werden.

Die Evidenz ist allerdings dürftig – und unter Pädiatern und Jugendpsychiatern nehmen die Zweifel an der Pubertätsblockade zu. Auch weil inzwischen Länder, die diese Medikamente liberal angewendet hatten, diese nun nicht mehr bei Kindern zulassen wollen oder die Hürden für den Einsatz deutlich höher legen.

Eine Operation kommt dann ab 18 Jahren infrage, wobei der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Kostenübernahme überprüft.

DGE bildet in Qualitätszirkeln zur Hormontherapie fort

Die DGE hat für diese speziellen Therapien Qualitätszirkel organisiert. „Wir achten darauf, dass diejenigen, die diese Hormontherapien durchführen, sich zumindest in einem dieser Qualitätszirkel schulen. Theoretisch darf jeder Endokrinologe das therapieren, einigen fehlt aber noch die Erfahrung. Und wir wollen natürlich die schützen, die vielleicht eine unsichere Indikation aufweisen und womöglich in 5 oder 10 Jahren wiederkommen und ihre Umwandlung rückgängig machen wollen“, sagt Stalla.

Das Procedere einer Hormontherapie beschreibt er so: Nach der schriftlichen Indikationsstellung durch einen Jugendpsychiater wird zunächst mittels Chromosomenanalyse das biologische Geschlecht dokumentiert. Dann erfolgt eine Hormonanalytik im Hinblick auf Auffälligkeiten und ob Grunderkrankungen vorliegen, die ein Risiko für die Hormontherapie darstellen könnten.

„Wenn dann alles in Ordnung ist und ich den Betroffenen das erste Rezept gebe, stelle ich immer eine gewisse Freude fest. Die Betroffenen sind dann stolz, wenn die Brustentwicklung einsetzt oder der Stimmbruch sich einstellt. Man erhält als behandelnder Arzt immer ein positives Signal des Patienten“, berichtet er.

Führen die neuen Studienergebnisse zu einer schnelleren Hormontherapie?

Ob die aktuellen Studienergebnisse dazu führen werden, dass schneller eine Hormontherapie verschrieben wird? Stalla ist sicher, dass die Studienergebnisse „ein unterstützendes Argument darstellen“ und fügt hinzu: „Ich bin davon überzeugt, dass man die Publikation als Argumentationshilfe gegenüber den Kritikern – die es im Fach ja auch gibt – anführen wird.“

 
Ich bin davon überzeugt, dass man die Publikation als Argumentationshilfe gegenüber den Kritikern – die es im Fach ja auch gibt – anführen wird. Prof. Dr. Günter Stalla
 

„Meine Erfahrung ist, dass die meisten Jugendpsychiater den Betroffenen dabei helfen, den Weg der Transition zu gehen“, sagt Stalla. Der Leidensdruck dieser Kinder und Jugendlichen sei enorm. „Unter diesen Betroffenen sind auch einige dabei, die – getriggert durch die Grundproblematik oder durch ein ganz anderes Ereignis – auch psychisch auffällig sind. Das sind z.B. Kinder mit Borderline-Syndrom, mit Anorexie, auch Kinder, die aus verschiedenen Gründen als Außenseiter geoutet werden, etwa weil sie übergewichtig sind. Da fragt man sich natürlich immer: Was war zuerst da?“, erläutert Stalla.

 
Meine Erfahrung ist, dass die meisten Jugendpsychiater den Betroffenen dabei helfen, den Weg der Transition zu gehen. Prof. Dr. Günter Stalla
 

„Löst die Geschlechtsdysphorie diese Belastungssituation aus oder ist die Geschlechtsdysphorie ein möglicher Kompensationsmechanismus, weil man vielleicht durch die Medien darauf aufmerksam geworden ist? Ich bin da selbst hin- und hergerissen – ein unglaublich schwieriges Thema“, sagt Stalla.

Geschlechtsumwandlung rückgängig machen?

Nur wenige Patienten bereuen ihre Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung. Die Rate derer, die ihre Entscheidung zur Geschlechtsangleichung später bereuen, ist in Europa mit 0,3 bis 0,6% sehr gering. Von den 1.000 Patienten, die Stalla über 30 Jahre betreut hat, haben 3 ihre Entscheidung bereut: 2 ältere Erwachsene, die ihre Transition hormonell wieder rückgängig gemacht haben, und eine 30 Jahre alte Patientin.

Diese hatte sich schon als Kind nicht als Mädchen, sondern als Junge gefühlt, ihre Mutter unterstützte sie in ihrem Wunsch, ein Mann zu werden, der Vater nicht. Die Familie zerbrach. Das junge Mädchen erhielt eine geschlechtsangleichende Hormontherapie. „Dann ließ sie sich operieren. Danach kam sie zu mir und sagte: Das war ein Riesenfehler. Ich bin durch diesen Prozess regelrecht durchgewunken worden, es gab kaum Widerstände; ich habe mich in etwas verrannt.“

Die Patientin, berichtet Stalla, will ihre Transition jetzt wieder rückgängig machen. „Solche Fälle ruinieren ein Leben und müssen vermieden werden“, betont er.

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