In einer Umfrage aus den USA zeigt sich eine überraschend hohe moralische Akzeptanz sowie Bereitschaft, bei der Auswahl von Embryonen für eine In-vitro-Fertilisation polygenetische Tests in Anspruch zu nehmen, wenn sich dadurch ein höheres Bildungsniveau des künftigen Kindes erreichen ließe. Die Ergebnisse wurde in Science publiziert [1].
Seit Jahrzehnten werden Befragungen zu Einstellungen gegenüber (künftigen) Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin durchgeführt. Die aktuellen Umfrageergebnisse deuten auf einen Wandel hin, der sich in einer wachsenden Bereitschaft zur genetischen Optimierung von Nachkommen äußert.
Bisher bestand zumeist eine wesentliche Gemeinsamkeit: „Wenn es um die Herstellung oder Erhaltung der Gesundheit von Nachkommen geht, sind die Zustimmungswerte hoch. Eingriffe zur Förderung oder Steigerung bestimmter Fähigkeiten werden dagegen meist kritischer gesehen“, berichtet Prof. Dr. Robert Ranisch, Leiter der Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen.
Akzeptanz von 3 Methoden zur hypothetischen Steigerung des Bildungsniveaus
Im Rahmen der Umfrage befragten Erstautorin Dr. Michelle N. Meyer vom Department of Bioethics and Decision Sciences, Geisinger Health System, Danville, USA, und ihre Kollegen im Januar 2022 insgesamt 6.823 Personen. Sie sollten angeben, wie moralisch akzeptabel sie in einem bestimmten hypothetischen Szenario 3 verschiedene Methoden zur Steigerung des Bildungsniveaus ihres künftigen Kindes finden.
Eine dieser Methoden war das „Preimplantation Genetic Testing for Polygenetic risk“ (PGT-P). Die anderen beiden Methoden waren Genome Editing und – als nicht-genetische Kontrolle – Nachhilfekurse zur Vorbereitung auf den SAT-Test (Studierfähigkeitstest, den Colleges in den USA verlangen).
Der Vergleich zweier „grundverschiedener [genetischer] Maßnahmen“ erntet in Fachkreisen allerdings Kritik: „PGP-T ist eine Form des genetischen Screenings, während Genome Editing einen Überbegriff für verschiedene Techniken der Intervention in das Genom darstellt. Beides in einer Umfragestudie zu vermengen, suggeriert eine Gleichwertigkeit auch in ethischer Hinsicht, die keinesfalls gegeben ist“, sagt Prof. Dr. Giovanni Rubeis, Leiter des Fachbereichs Biomedizinische Ethik und Ethik des Gesundheitswesens an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems, Österreich.
PGT-P und Genome Editing sind grundverschieden
Genetische Präimplantationsdiagnostik wird schon heute zigfach verwendet, um bei der In-vitro-Fertilisation den Embryo auf ausgewählte chromosomale und monogenetische Erkrankungen zu untersuchen. Doch die meisten menschlichen Eigenschaften sind hochgradig polygenetisch.
Bei der Präimplantationstestung des polygenetischen Risikos (PGT-P) wird deshalb das gesamte Genom des Embryos gescreent, um mit polygenetischen Risikoscores vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmter polygenetischer Phänotyp auftreten wird. Die dabei im Fokus stehenden Outcomes reichen vom Risiko für Krebs und andere Erkrankungen bis hin zum potenziellen Bildungsstand, den das Kind erreichen wird.
Anders als PGP-T – das von einigen Unternehmen im Ausland bereits angeboten wird – kommt Genome Editing in der Reproduktionsmedizin heute noch nicht zum Einsatz und ist in vielen Ländern – auch den USA und Deutschland – sogar verboten.
Ein Szenario, das mit der Realität nichts zu tun hat?
Für die Umfrage mussten die Befragten ihre Fantasie spielen lassen. Sie sollten sich nämlich nicht nur vorstellen, dass die Erzeugung ihres potenziellen Kindes ohnehin mit In-vitro-Fertilisation erfolge und dass durch das Verfahren die Wahrscheinlichkeit um 2% steigt, dass das Kind auf einem der Top-100 Colleges angenommen werde. Sie sollten auch davon ausgehen, dass das PGT-P -Verfahren kostenlos und sicher ist. „Mit den gegenwärtigen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin hat dieses hypothetische Szenario nichts mit zu tun“, kritisiert Ranisch.
Das Ergebnis der Befragung war, dass in diesem Szenario 58% der Personen keine moralischen Bedenken angaben, PGT-P zu verwenden. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dieses Verfahren zu benutzen, lag bei 43%. Vor allem wenn zusätzlich die Information gegeben wurde, dass 9 von 10 der anderen Befragten das Verfahren anwenden würden, stieg die moralische Akzeptanz und die Bereitschaft, es anzuwenden.
Potenzial zur Verschärfung von Ungleichheiten
Bei unter 35-Jährigen gab es eine größere Bereitschaft, das Verfahren durchführen zu lassen, im Vergleich zur Gesamtgruppe. Befragte mit einem höheren Bildungsniveau (mindestens Bachelorabschluss) zeigten sich ebenfalls eher bereit, PGT-P in Anspruch zu nehmen und berichteten weniger moralische Bedenken.
„Unsere Daten zeigen, dass es unklug wäre, anzunehmen, dass PGT-P sich – selbst für kontroverse Eigenschaften – nur auf exzentrische Individuen beschränken wird oder dass das Verfahren nur ein geringes Potenzial hat, gesellschaftsweite Veränderungen und Ungleichheiten zu verursachen“, so Meyer und ihre Kollegen.
Dass diejenigen mit höherem Bildungsabschluss größeres Interesse an der Nutzung von PGP-T für eben diesen Phänotyp haben, könnte zur Verschärfung bestehender Ungleichheiten führen. „Über mehrere Generationen könnten sich die durch PGT-P erlangten Vorteile akkumulieren, was zur familiären Weitergabe sozial präferierter Phänotypen beitragen könnte. Dies würde einen ungerechten familiären Wohlstandstransfer reflektieren“, schreiben sie.
„Interessanterweise stellen die Autoren die Frage nach sozialen Ungleichheiten, die hier erzeugt oder verstärkt werden könnten“, sagt Rubeis. Allerdings sind diese Fragen nicht Teil der Studie, sondern sollen von zukünftiger Forschung geklärt werden. „Genau diese Kontextualität fehlt aber der Studie und macht sie daher wenig aussagekräftig, da den Befragten eben jene zentralen Fragen nicht vorgelegt oder der entsprechende Kontext erläutert wurden.“
Informationelles Selbstbestimmungsrecht der Kinder wird verletzt
„Ein weiterer, meist vernachlässigter Aspekt ist der Respekt vor der informationellen Selbstbestimmung der zukünftigen Kinder“, sagt Prof. Dr. Guido de Wert, Professor für Ethik in der Reproduktionsmedizin und Genforschung, Maastricht University, Niederlande. Da viele PGT-P-Embryonen, die als „zweiter oder dritter Klasse“ eingestuft wurden, möglicherweise in einem späteren Zyklus transferiert werden, bedeute PGT-P de facto „ein prädiktives genomisches Screening künftiger Kinder auf (eine größere Anzahl von) Prädispositionen für multifaktorielle Störungen und nichtmedizinische Merkmale“.
Das Recht künftiger Kinder auf Nichtwissen werde dabei mit Füßen getreten. Und auch die möglichen negativen Auswirkungen, zum Beispiel die Stigmatisierung, die mit einem hohen genetischen Risiko für psychiatrische Störungen verbunden ist, würden in der Diskussion vernachlässigt, so der Wert.
Klinischer Nutzen des PGT-P darf nicht überschätzt werden.
Auch die führenden Fachgesellschaften Europas sehen das Verfahren kritisch: Die European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) und die European Society of Human Genetics (ESHG) weisen auf die begrenzte Vorhersagbarkeit von PGT-P und die Notwendigkeit weiterer Forschung auf diesem Gebiet hin. Der klinische Nutzen, den das PGT-P zum aktuellen Zeitpunkt habe, werde von kommerziellen Unternehmen, die dieses Verfahren anböten, oft stark übertrieben.
„Die Ergebnisse des PGT-P in Form eines etwas höheren genetischen Risikos für eine multifaktorielle Störung im späteren Leben und/oder eines etwas höheren ,kognitiven Potenzials‘ einiger Embryonen stehen oft im Widerspruch zu anderen embryologischen Parametern, die mit der Lebensfähigkeit und (höheren) Risiken für (andere) Störungen verbunden sind“, sagt auch de Wert. Und da diese anderen Parameter für die Priorisierung von Embryonen für den Transfer oft relevanter sind, schränkt dies den klinischen Nutzen einer PGT-P erheblich ein.
Und auch der österreichische Biomedizin-Ethiker Rubeis kommt zu einem ernüchternden Fazit: „Insgesamt basiert diese Studie auf sehr vielen nicht hinterfragten Prämissen. Wie informiert sind die Befragten, wie kompetent im Umgang mit den relevanten Informationen? Was ist mit den sozialen Praktiken und Determinanten, welche die Maßnahmen formen? Ein wertvoller Beitrag zur ethischen Debatte um PGP-T und Genome Editing wird dadurch nicht geleistet.“
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Credits:
Photographer: © Nevodka
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Genetische Optimierung von IVF-Embryonen: US-Umfrage zeigt hohe moralische Akzeptanz für polygenetische Tests - Medscape - 15. Feb 2023.
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