Tausende Gebäude wurden zerstört, darunter mehrere Krankenhäuser in der Türkei und in Nordsyrien seit dem ersten Beben der Stärke 7,8 in den frühen Morgenstunden des 6. Februar, das den Südosten der Türkei um die Stadt Gaziantep und den Nordwesten Syriens erschütterte. Dort sind die Städte Aleppo, Homs und Hama und die Region Idlib betroffen. Die türkische Regierung hat für 10 Städte den Notstand ausgerufen. Immer wieder kommt es zu schweren Nachbeben.
Durch die massiven Erschütterungen haben bislang mehr als 11.000 Menschen ihr Leben verloren (Stand: 8. Februar, 12.20 Uhr), über 40.000 Menschen sollen verletzt sein. Das ganze Ausmaß der Zerstörung ist allerdings noch nicht absehbar.
Laut WHO könnten bis zu 23 Millionen Menschen von den Folgen des Erdbebens betroffen sein. „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Mit jeder Minute, jeder Stunde, die verstreicht, sinken die Chancen, noch Überlebende zu finden“, sagte Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, am 7. Februar. Die WHO hat ihr Netz medizinischer Notfallteams aktiviert und von ihrem Logistikzentrum in Dubai aus Charterflüge mit medizinischen Hilfsgütern in beide Länder geordert.
Doch eisige Temperaturen, anhaltende Nachbeben, zerstörte Straßen, riesige Schuttberge und metertiefe Krater, massive Schäden in der Stromversorgung, der Kommunikation und anderer Infrastruktur erschweren weiterhin den Zugang und Such- und Rettungsmaßnahmen.
Hinzu kommt: Im Erdbebengebiet leben auf beiden Seiten der Grenze Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. Allein in Nordwestsyrien gibt es laut UNO Flüchtlingshilfe 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge unter prekären Bedingungen in Lagern. Wie viele Geflüchtete jetzt unmittelbar von den Beben betroffen sind ist derzeit noch unklar.
Tragische Nachrichten aus der Türkei und Syrien
Zahlreiche Länder schicken Hilfe, die EU hat bislang mehr als 1.200 Rettungskräfte mobilisiert. Aus Deutschland sind u.a. Ärzte ohne Grenzen, I.S.A.R. Germany und das THW im Einsatz. Helferinnen und Helfer des Türkischen Roten Halbmondes und des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes (SARC) waren bereits unmittelbar nach dem ersten Beben vor Ort um die Menschen zu versorgen.
Das DRK steht im Austausch mit seinen Schwestergesellschaften vor Ort, um den humanitären Bedarf abzustimmen, das Auswärtige Amt unterstützt die DRK-Soforthilfe in der Türkei und Syrien mit 500.000 Euro. Bundeskanzler Scholz hat weitere Hilfen zugesagt.
„Die Nachrichten, die wir weiterhin aus der Türkei und Syrien erhalten, sind tragisch. Wir haben einen Kollegen verloren und viele unserer Mitarbeiter haben Familienmitglieder bei den Erdbeben verloren. Mein Herz ist bei allen Betroffenen und die Mitarbeiter von MSF arbeiten rund um die Uhr, um Unterstützung zu leisten“, twitterte Dr. Christos Christou, Präsident von Médecins Sans Frontières (MSF) am Dienstagnachmittag. „Wir suchen nach weiteren Möglichkeiten, wie wir Menschen in dieser verzweifelten Situation unterstützen können“, so Christou weiter.
Das Pionierteam des Türkischen Roten Halbmonds – 467 Hauptamtliche und 733 freiwillige Helfer – ist am 6. Februar mit 5 mobilen Garküchen, 77 Catering-Fahrzeugen, 1.903 Zelten und 26.929 Decken in die Region Kahramanmaras – dem Epizentrum des Bebens – gestartet.
Die Provinz Hatay zwischen dem Mittelmeer und der Grenze zu Syrien ist mit bislang 870 Todesopfern die am stärksten betroffene Region der Türkei. Amtlichen Angaben nach sind in der dichtbesiedelten Provinz rund 1.500 Gebäude durch die Erdbeben beschädigt worden.
„Unsere Teams sind im ganzen Land im Einsatz, nachdem ein schweres Erdbeben über 10 Provinzen und die Regionen im Süden und Südosten der Türkei heimgesucht hat“, twitterte Dr. Kerem Kinik, Präsident des Türkischen Roten Halbmonds. Und die Organisation selbst teilte mit: „Wir fahren weiter zu den Zeltanlagen in Pazarcik, dem Nullpunkt des Erdbebens. Wir setzen die Nahrungsmittelhilfe für die vom Erdbeben in Gaziantep betroffenen Menschen fort.“
Region Idlib in Nordsyrien kann keine staatliche Hilfe erwarten
Während in der Türkei bereits Tausende internationale Helfer im Katastrophengebiet eingetroffen sind, ist die Hilfe für die Gebiete in Nordsyrien weiter schwierig. Die Straßen zum einzigen offenen Grenzübergang Bab al-Hawa sind beschädigt, das verzögert die Lieferung humanitärer Hilfe, berichtet die UN.
Seit 12 Jahren herrscht in Syrien Bürgerkrieg. Und in Nordsyrien, einer Region, in der der Zugang zu Gesundheitsversorgung und die humanitäre Situation bereits kritisch waren, ist dieses Erdbeben verheerend. Die syrische Regierung hat Hilfe versprochen, doch in der Region Idlib – die nicht unter der Kontrolle der Regierung, sondern unter der des IS steht – können die Menschen nicht auf staatliche Hilfe bauen. Sie sind auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen.
„Diese Region hat keine Regierung, sie ist praktisch Niemandsland und in den syrischen Staatsmedien wird sie nicht erwähnt. Man weiß nicht, wie viele Menschen dort gestorben sind“, berichtete Falah Elias, Reporter und Moderator beim WDR, dessen Eltern am Rand des Katastrophengebietes im Nordwesten Syriens leben.
„Wir brauchen Hilfe in Idlib. Bitte helft uns, Ärzte nach Idlib zu bringen“, twitterte
Dr. Shajul Islam, ein britischer Notarzt, der in Großbritannien im St Bart's Hospital gearbeitet hatte und seit einigen Jahren in der Region Idlib lebt und arbeitet, am Montag „Die kritischsten Patienten aus der gesamten Region wurden auf einen Schlag zu uns gebracht. Wir brauchen jetzt Unterstützung, um ihre medizinische Behandlung zu gewährleisten“, so Islam weiter.
Der Arzt berichtet von dem kleinen Mustafa, der zusammen mit seinen 3 Geschwistern aus den Trümmern geborgen werden konnte. „Er hat nur leichte Verletzungen erlitten, aber seine Schwester liegt auf unserer Intensivstation und kämpft um ihr Leben.“ Islam schildert auch den Fall eines Babys, das aus den Trümmern geborgen werden konnte und jetzt im Krankenhaus liegt. Von weiteren Familienmitgliedern keine Spur.
Ärzte ohne Grenzen: Die Lage ist katastrophal
Ärzte ohne Grenzen, die seit 2009 die Bevölkerung in Nordsyrien unterstützen, hat 23 Gesundheitseinrichtungen in den Gouvernements Idlib und Aleppo mit medizinischen Notfallsets und Personal zur Verstärkung ihrer Teams unterstützt. „Die Gesundheitseinrichtungen in der Region sind überfordert, das medizinische Personal im Nordwesten von Syrien arbeitet rund um die Uhr, um auf die große Zahl von Verwundeten zu reagieren, die in den Einrichtungen ankommen“, berichtete Sebastien Gay, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Syrien.
„Wir konnten in Syrien alle unsere medizinischen Teams, die bereits vor Ort waren, schon in den ersten Stunden mobilisieren. In der Akutphase ist rasches Handeln essenziell. Auch längerfristig wird es – aufgrund der Folgen – großen medizinischen Bedarf geben“, sagt Gay. Die Not im Nordwesten Syriens sei sehr groß, weil das Beben die Lage der gefährdeten Bevölkerungsgruppen, die nach vielen Jahren des Krieges immer noch zu kämpfen habe, noch dramatischer mache, so Gay.
„In den ersten Stunden haben unsere Teams rund 200 Verwundete behandelt, und wir haben 160 Verletzte in unseren Einrichtungen und Kliniken aufgenommen, die wir in Nord-Idlib betreiben oder unterstützen. Auch unsere Rettungsautos sind im Einsatz, um der Bevölkerung zu helfen“, berichtet Gay weiter.
Als „katastrophal“ bezeichnet Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen die Situation im Nordwesten Syriens in den Tagesthemen . Das Ausmaß der Schäden in der Region habe zur Zerstörung von Hunderten von Häusern geführt und Tausende Menschen obdachlos gemacht.
„Wir haben heute die traurige Nachricht erhalten, dass einer unserer Mitarbeiter nur noch tot aus den Trümmern seines Hauses in Idlib geborgen werden konnte. Andere unserer Mitarbeiter – wir haben mehr als 500 Mitarbeiter in Nordsyrien – haben Angehörige verloren. Die Lage ist sehr unübersichtlich“, berichtete Katzer. Das Gesundheitssystem – aufgrund des Krieges ohnehin extrem belastet – ist selbst betroffen, mehrere Krankenhäuser wurden durch das Beben zerstört.
In den letzten 3 Tagen hat es geschneit. Dennoch bleiben die Menschen aus Angst vor weiteren Nachbeben, die den ganzen Tag über andauerten, größtenteils im Freien. Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen Österreich erinnert im Interview daran, dass die Gesundheitsstruktur in Nordsyrien schon vor dem Erdbeben nicht in der Lage war, die Basisgesundheitsversorgung sicherzustellen. Das Beben hat die Situation dramatisch verschärft. „Aufgrund der zerstörten Straßen kommen viele Verletzte erst spät in die Klinik – dann steht die Bekämpfung von Wundinfektionen im Vordergrund, denn wir sehen viele septische Patienten.“
Die zerstörte Gesundheits-Infrastruktur will die Sektion Österreich zunächst über aufblasbare Feldspitäler kompensieren. Die haben laut Bachmann den Vorteil, dass man damit innerhalb von einigen Stunden funktionierende Operationssäle aufbauen kann. „Wir sind dabei, diese Feldspitäler in das Erdbebengebiet zu bringen“, berichtet Bachmann.
Syrisch-Arabischer Roter Halbmond ruft zur Aufhebung der Sanktionen auf
Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond hat 3.000 Freiwillige für den Einsatz mobilisiert. „Wir machen keinen Unterschied zwischen den Menschen in Syrien. Wir sind der Syrisch-Arabische Rote Halbmond für das gesamte syrische Volk“, betonte der Leiter der Organisation, Chaled Habubati. Und fügt hinzu: „Wir sind bereit, einen Hilfskonvoi über die Trennungslinie in die betroffenen Gebiete in der Region Idlib (im Norden Syriens) zu schicken. Wenn sie (die Opposition) eine Straße für uns öffnen, werden wir uns auf den Weg machen. Wir haben kein Problem damit.“
Habubati rief bei einer vom syrischen Staatsfernsehen übertragenen Pressekonferenz den Westen zur Aufhebung von Sanktionen und zu Hilfsleistungen auf. „Nach diesem Erdbeben ist die Zeit gekommen“, sagte Habubati und appellierte an „alle EU-Länder, die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien aufzuheben“. Außerdem rief er die US-Entwicklungsbehörde USAID dazu auf, „dem syrischen Volk Hilfe zu leisten“. Nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg in Syrien wird die Regierung des Präsidenten Baschar al-Assad vom Westen weiterhin geächtet. Das erschwert die internationalen Hilfsbemühungen.
Katzer bestätigte, dass der Zugang für Ärzte ohne Grenzen in den Nordwesten extrem schwierig ist, denn es gibt nur einen offenen Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien. „Die internationale Staatengemeinschaft darf die Menschen in Nordsyrien nicht vergessen“, betonte Katzer.
Ärzte ohne Grenzen steht weiterhin in engem Kontakt mit den lokalen Behörden im Nordwesten Syriens und mit den Behörden in der Türkei, um die Unterstützung dort auszuweiten, wo sie benötigt wird. Die Organisation bewertet derzeit die Lage und den Bedarf in Idlib, Nord-Aleppo und der Südtürkei, um die Hilfe entsprechend zu verstärken, da die Zahl der Toten und Verletzten stündlich steigt.
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Diesen Artikel so zitieren: „Bitte helft uns, Ärzte nach Idlib zu bringen“: So verzweifelt ist die medizinische Situation im Erdbebengebiet - Medscape - 8. Feb 2023.
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