Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) fürchtet, dass Deutschland als Standort für klinische Arzneimittelstudien international den Anschluss verliert. Nach einer aktuellen Erhebung des vfa ist Deutschland – gemessen an der Menge klinischer Studien – seit 2006 von Platz 2 auf Platz 6 abgerutscht: Während die USA im Jahr 2021 mit 2.749 Studien und China mit 1.139 Studien die beiden Spitzenplätze belegten, lag Deutschland mit 589 Studien auf Platz 6.
Es wäre für Deutschland von Nutzen, wenn viele klinische Studien auch in Deutschland stattfinden würde, so der vfa: „Denn bei klinischen Studien mitwirkende Ärztinnen und Ärzte können die Medizin von Morgen erlernen. Erkrankte erhalten zusätzliche Chancen und eine besonders intensive Betreuung. Unternehmen wiederum kommen mit der Therapieentwicklung schneller voran, wenn auch deutsche Kliniken mitwirken.“
Es vergehe in Deutschland aber zu viel Zeit zwischen der Planung einer Studie und dem Beginn der Rekrutierung von Patienten und Betten, sagt Dr. Rolf Hömke, Forschungssprecher des vfa, zur Begründung des Trends zu Medscape. Die Verträge zwischen den Sponsoren, also den Herstellern, und den medizinischen Einrichtungen, wie Praxen oder Krankenhäusern, werden von den Einrichtungen oft noch einmal grundständig neu verhandelt, obwohl die Verträge einander ähneln, kritisiert der vfa.
Fast 300 Tage bis zur Genehmigung
Mitgliedsfirmen des vfa hätten berichtet, dass sie für das Aushandeln der Verträge mit deutschen Studienzentren zwischen 130 und 295 Tage benötigten; in anderen EU-Ländern und auch UK habe das hingegen selten länger als 150 Tage erfordert; in Frankreich sogar weniger als 80 Tage, so der vfa. Umstritten seien zwischen den Vertragspartnern vor allem die Honorierung pro Teilnehmer und die studieninterne Verteilung des Geldes.
Zweitens hake es bei den Genehmigungen der Studien und hier besonders an der föderalen Struktur des Datenschutzes. Zwar gibt es eine Leitethikkommission für alle in Deutschland beteiligten Einrichtungen, die die Ethikkommissions-Zustimmung erteilt. Aber es können die Datenschutzbeauftragten anderer Bundesländer intervenieren und Änderungen fordern. „Das dauert dann lange, bis man einen Modus gefunden hat“, sagt Hömke.
Noch länger dauert es, wenn Strahlenschutz im Spiel ist. Vor allem wenn man im Laufe einer Studie öfter röntge als normalerweise – etwa für Verlaufskontrollen. Dazu brauche man eine zusätzliche Strahlenschutzgenehmigung, die in Deutschland von einer eigenen Behörde ausgestellt wird. Hömke: „Und das dauert sehr lange.“
Diese – nur in Deutschland erforderlichen – strahlenschutzrechtlichen Zusatz-Genehmigungen für klinische Studien werden zwar fristgerecht erteilt, so der vfa. „Aber weil jede Änderung am Studienplan durch die Arzneimittelbehörden und jede Aufstockung der Studie um ein weiteres Studienzentrum eine erneute Zusatzprüfung durch das Bundesamt für Strahlenschutz anstößt, verzögert die deutsche Strahlenschutz-Sonderregelung doch häufig den Studienbeginn.“
Deutsche Praxen und Kliniken immer seltener beteiligt
Die Folge der langen Fristen: „Die Hersteller greifen auf ausländische Praxen und Kliniken zurück, um ihre Studien zu machen. Es gibt also zig Medikamente auf dem deutschen Markt, an deren Entwicklung keine deutsche Klinik beteiligt war“, sagt Hömke.
Weil es in den Verträgen immer wieder um die gleichen Dinge geht, hat der vfa einen Katalog von Mustervertragsklauseln erstellt. Das sind nur Bausteine, aber sie können in bestehende Verträge übernommen werden. „Das wird in Frankreich so gemacht, das wird im ganzen Ausland so gemacht, deshalb geht es dort auch schneller“, so Hömke. „Wir werben dafür, dass die Mustervertragsklauseln häufiger angewandt werden.“
Universitätsmedizin Göttingen: Keine Verzögerung bei Studien
Die Universitätsmedizin Göttingen (UMG) indessen weist den Vorwurf der Verzögerung klinischer Medikamentenstudien zurück. Die wesentlichen Aspekte der Auftragsforschung würden „inzwischen standardisiert und effizient an der UMG abgearbeitet“, sagt Ralf Tostmann, Leiter des Studienzentrums UMG, zu Medscape.
Geheimhaltungsklauseln und erste Informationen zur Klärung des medizinischen Interesses vor dem Vertragsschluss dauerten nur wenige Tage. Darüber hinaus werden einmal ausgehandelte Verträge als Vorlage für weitere Vereinbarungen genutzt und nur noch „projektspezifisch angepasst“, wie es hieß.
Allerdings weist Tostmann darauf hin, dass sich die Verträge bundesweit unterscheiden, da zum Beispiel „unterschiedliche Rechtsformen oder Vorgaben, etwa Melde- und Transparenzpflichten“ vorliegen.
Knackpunkt Finanzierung
Bei der Finanzierung allerdings gibt es offenbar immer wieder Streit, weil die Hersteller und die UMG die Kosten nach unterschiedlichen Kriterien berechnen. So greifen die Sponsoren auf die GoÄ zurück, um die Kosten zu kalkulieren. Damit kann die UMG offenbar nur schlecht leben, weil die GoÄ für Uni-Kliniken nur „sehr eingeschränkt tauglich“ sei. Außerdem bilde sie nicht alle Studienaufwände ab, wie zum Beispiel Monitorbesuche oder den Dokumentationsaufwand. Kurz: Die GoÄ sei ein Hilfskonstrukt, das den tatsächlichen studienbedingten Aufwand unterschätze.
Im Übrigen ist Tostmann der Ansicht, dass die längsten Bearbeitungsfristen bei Verträgen immer dann auftauchen, „wenn die Unternehmen dafür auf Dienstleister (CROs, sog. Clinical Research Organisations) zurückgreifen, statt die Verträge selbst zu verhandeln“, so Tostmann. Vulgo: Die Hersteller sind oft selbst an den Verzögerungen schuld.
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Credits:
Photographer: © Artur Szczybylo
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Diesen Artikel so zitieren: Verlieren deutsche Ärzte den Anschluss? Vfa kritisiert, dass wir bei klinischen Medikamentenstudien abgehängt werden. Warum? - Medscape - 8. Feb 2023.
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