Schluss damit! Jetzt schon Lieferengpässe bei über 400 Medikamenten. Wie Apotheken, Kassen und Politik die Krise beenden wollen

Christian Beneker

Interessenkonflikte

8. Februar 2023

Was tun gegen die Lieferengpässe bei Medikamenten? Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zählt aktuell insgesamt 411 Medikamente, bei denen es zu Lieferengpässen kommt. Ein Lieferengpass sei eine „über voraussichtlich 2 Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann“, so das BfArM.

Ein Lieferengpass ist also noch kein Versorgungsmangel. Und in der Regel entwickelt sich aus einem Engpass auch kein Mangel, darauf weist der GKV-Spitzenverband in seiner Antwort auf die Anfrage von Medscape hin.

Trotzdem ist die Lage derzeit angespannt. Apothekerverband, Krankenkassen, die Bundestagsparteien und das Bundesgesundheitsministerium streiten um die richtigen Schritte in der Krise.

Apotheker: Schluss mit den Rabattverträgen!?

Der jüngste Plan, die Lager der Apotheken darauf zu durchforsten, ob sich noch ungenutzte Medikamentenbestände fänden, stieß bei der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) voraussehbar auf wenig Gegenliebe. „Wem soll das helfen?“, fragt ABDA-Sprecher Christian Splett. „Soll der Arzt die Warenlager aller Apotheken in seinem Umkreis auf ein Medikament prüfen? Und was, wenn der fragliche Patient dann ganz wo anders sein Rezept einlöst?“

 
Es braucht Diversifizierung, darauf müssen die Kassen achten! Christian Splett
 

Aus ABDA-Sicht sind vor allem die Rabattverträge die Wurzel der stockenden Versorgung mit Arzneimitteln. Wenn stets die billigsten Anbieter den Zuschlag bekämen, würden sie auch ihre Rohstoffe etwa im preisgünstigen Indien oder China einkaufen, so Splett. Und wenn dann mal ein Schiff zu spät ablege oder ein Flugzeug zu spät starte, gebe es bei den Fertigarzneimittel-Herstellern in Europa schnell Probleme und den drohenden Lieferengpass.

„Ähnliche Schwierigkeiten entstehen, wenn Wirkstoff-Hersteller in Fernost Qualitätsprobleme bekommen oder normalerweise mehrere Fertigarzneimittel-Hersteller in der EU beliefern – und schon reißen die Lieferketten“, sagt Splett. „Wenn am Ende noch eine erhöhte Nachfrage hinzukommt, wie zuletzt bei den Fiebersäften für Kinder, dann kann es eng werden!“

Die Lösung der ABDA und auch der Hersteller: Rabattverträge mit mehreren Herstellern abschließen, und zwar mit solchen, die ihre Rohstoffe nicht alle vom selben Produzenten in Fernost einkaufen. Noch besser sei es, wenn sich unter den Vertragspartnern auch europäische Unternehmen fänden. Splett: „Es braucht Diversifizierung, darauf müssen die Kassen achten!“ Wenn der Rabattvertragspartner einer Apotheke nicht liefern kann, dann muss es auch ein Nicht-Vertrags-Partner tun dürfen.

Für die Apotheken vor Ort fordert die ABDA bessere Bedingungen, um die Engpässe zu managen. Denn Apotheken müsse es erlaubt werden, statt einer Packung mit 400 Milligramm auch 2 Packungen mit je 200 Milligramm abzugeben. „Am besten, man verstetigt die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung über das bisher geplante Ende am 7. April hinaus“, so Splett. Diese Verordnung lockerte derartige Austauschregelungen seinerzeit, damit es den Patienten erspart bliebe, mehrfach in die Apotheke zu kommen, um etwa die passende Packungsgröße vom entsprechenden Rabattvertragspartner zu erhalten.

 
Am besten, man verstetigt die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung über das bisher geplante Ende am 7. April hinaus. Christian Splett
 

„Hinzu kommt, dass diese Verordnung auch einfachere Absprachen zwischen Ärzten, Patienten und Apothekern ermöglicht“, so Splett. Wenn ein Magenmittel oder Antibiotikum fehlt, könne man sogar auf einen ähnlichen Wirkstoff ausweichen – natürlich nur nach Absprache mit den Ärzten und nach Beratung der Patienten. „Aber das kostet Zeit und muss honoriert werden“, so Splett. „Ein Engpass-Ausgleich ist dringend erforderlich für den hohen Personalaufwand in der Apotheke.“

Krankenkassen: Mehr Transparenz!?

Das sehen die Krankenkassen begreiflicherweise anders: „Der Vorwurf, Rabattverträge seien schuld an Lieferengpässen, ist eine fadenscheinige Ausrede der Pharmalobby, wenn pharmazeutische Unternehmen ihrer eingegangenen Lieferverpflichtung nicht nachkommen“, so der GKV-Spitzenverband auf Anfrage von Medscape. „Wenn ein Unternehmen einen Vertrag abschließt, später seinen vertraglich vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommt und dann mit dem Finger auf die Krankenkassen zeigt, dann ist das eine Verdrehung der Tatsachen.“

Im Übrigen könnten Versorgungsengpässe in der Regel vermieden werden, so der Spitzenverband. Es bestehe eine „hohe Zuverlässigkeit des Systems“. Die Zahl der Engpässe, die zu Therapieeinschränkungen für Patientinnen und Patienten führten, seien bisher stark begrenzt worden.

Die Lösung der Kassen: mehr Transparenz darüber, welche Präparate verfügbar sind und welche nicht. „Grundlage hierfür wäre eine sanktionsbewährte Meldeverpflichtung für Unternehmen, aber auch Verpflichtungen zur Meldung von Nicht-Verfügbarkeiten durch pharmazeutischen Großhandel und Apotheken“, so der GKV-SV. So ließe sich schneller auf Engpässe reagieren. „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Vertreterinnen und Vertreter der Ärzteschaft, der Apothekerschaft, der pharmazeutischen Industrie und der Krankenkassen sowie der deutschen Behörden an einem Strang ziehen, um die Versorgung sicherzustellen“, teilt der GKV-SV mit.

Politik: Beschaffungsgipfel oder „Pakt für Deutschland“?

Am 19. Januar 2023 diskutierte der Bundestag in einer hitzigen Auseinandersetzung über die passenden Maßnahmen gegen die Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) musste herbe Kritik einstecken. Er habe viel zu spät reagiert und das Problem unterschätzt, sagte der Abgeordnete der Union, Tino Sorge. Sorge forderte, dass Lauterbach einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen solle. Die Union forderte dazu einen „Beschaffungsgipfel“. Der entsprechende Antrag wurde in den Gesundheitsausschuss überwiesen.

Das Problem müsse an der Wurzel gepackt werden, sagte Dr. Paula Piechotta (Bündnis 90/Grüne). Grund für die Engpässe sei eine erhöhte Nachfrage auf dem internationalen Markt. So müssten die Lieferketten diversifiziert werden.

Jörg Schneider von der AfD appellierte an die Solidarität anderer EU-Staaten, die das Problem nicht hätten.

Die FDP forderte einen „Pakt für Deutschland“. Er solle sicherstellen, dass in Deutschland mehr produziert und geforscht werde. Dann müsse man auch nicht mehr über Lieferengpässe nachdenken, sagte der FDP-Abgeordnete Lars Lindemann.

Kathrin Vogler von den Linken erklärte: „Wir brauchen sanktionsbewehrte Verpflichtungen für die Unternehmen zur Vorratshaltung bei unersetzlichen Medikamenten.“ Zudem müssten die Rabattverträge überdacht werden. „Wir brauchen ein anderes System der Preisbildung“, sagte Vogler.

Das Gesetz zur Vermeidung von Lieferengpässen von Arzneimitteln

Bereits im Dezember 2022 hatte Lauterbach ein Eckpunktepapier für ein Gesetz gegen die Lieferengpässe vorgelegt, das eine Reihe von Forderungen von Kassen, Politik und Verbänden aufgreift.

 
Rabattierte Arzneimittel müssen künftig ausreichend bevorratet werden. Prof. Dr. Karl Lauterbach
 

Es sieht unter anderem vor, Kinderarzneimittel von den Rabattverträgen auszunehmen. Zudem sollen, wie von der ABDA gefordert, die Apotheker ein Honorar für die Rücksprache mit den Ärztinnen und Ärzte erhalten, und zwar in Höhe von 50 Cent pro Rücksprache. Insgesamt sollen die Lockerungen beim Medikamentenaustausch, wie sie während der Corona-Pandemie eingeführt wurden, erhalten bleiben. Auch sollen bei den patentfreien Arzneimitteln die Rabatt- sowie Festbetragsregeln gelockert- und zuverlässigere europäische Hersteller bei Vertragsabschluss bevorzugt werden. „Rabattierte Arzneimittel müssen künftig ausreichend bevorratet werden“, sagte Lauterbach.

„Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben“, begründete der Minister sein Eckpunktepapier.

 
Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben. Prof. Dr. Karl Lauterbach
 

Mit einem Referentenentwurf, der die Eckpunkte zur Vermeidung von Lieferengpässen von Arzneimitteln aufgreift, werde im 1. Quartal 2023 zu rechnen sein. „Wir gehen im Februar in die Abstimmung mit den Ressorts“, so das BMG.

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