Inwieweit hat sich der Lernfortschritt von Schulkindern während der COVID-19-Pandemie verlangsamt? Eine wachsende Zahl von Studien befasst sich mit dieser Frage, aber die Ergebnisse variieren je nach Kontext. Deshalb haben Dr. Bastian A. Betthäuser von der University of Oxford und Kollegen eine Metaanalyse von 42 Studien aus 15 Ländern durchgeführt [1]. Die meisten der eingeschlossenen Studien waren aus den USA und aus Großbritannien, nur 4 kamen aus Deutschland. Alle Ergebnisse sind jetzt in Nature Human Behavior erschienen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass aufgrund der Pandemie erhebliche Lerndefizite bestehen – und zwar schon recht bald nach deren Beginn. 35% des Lernfortschritts eines normalen Schuljahres haben Kinder im Schnitt verloren. Zudem zeigten einige der Studien, dass sich das Lerndefizit im Laufe der Pandemie nicht verringert hat, sondern zwischen Mai 2020 und Mai 2022 nahezu unverändert geblieben ist.
Solche Effekte waren besonders ausgeprägt bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status. Unabhängig davon waren Defizite beim Rechnen größer als beim Lesen.
In Ländern mit mittlerem Durchschnittseinkommen wie Brasilien und Mexiko war das Lerndefizit größer als in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen wie den USA und Großbritannien. Die Autoren bemängeln, dass in der Meta-Analyse keine Studien aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen einbezogen werden konnten und daher der Vergleich mit dieser Gruppe fehlt.
Wie stufen Experten die Studie ein? Das Science Media Center Germany (SMC) hat nachgefragt.
Ergebnisse nur bedingt auf Deutschland übertragbar
„Diese Studie ist methodisch sehr gut angelegt“, kommentiert Prof. Dr. Benjamin Fauth von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. „Bei der Arbeit handelt es sich wahrscheinlich um die bislang umfassendste Studie zu Lernrückständen nach der Coronapandemie.“
Zu berücksichtigen sei jedoch, dass Studien aus unterschiedlichen Ländern eingeflossen seien; die Ergebnisse ließen sich zum Teil nicht auf Deutschland übertragen, sagt Fauth. „Aber insgesamt sehen wir auch hierzulande Lernrückstände, und wir sehen vor allem auch deren ungleiche Verteilung: Schülerinnen und Schüler, die es vor der Pandemie schon schwerer hatten, sind sehr viel stärker betroffen.“
Defizite der „Generation Corona“
„Die Relevanz des festgestellten Lerndefizites ist immens, weil es auf den Unterricht einen unmittelbaren Einfluss hat“, sagt Prof. Dr. Klaus Zierer von der Universität Augsburg. „Je geringer die Lernleistungen sind, desto schwieriger wird es für die Lernenden, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen.“ Er selbst rechne mit einer „Generation Corona“, also mit Schülern, die besonders stark unter der Pandemie gelitten hätten.
„Das trifft insbesondere die jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern“, erklärt Zierer. „Das verdeutlicht einmal mehr die Bildungsungerechtigkeit im Land und auch weltweit.“ Offen bleibe jedoch, ob sich die Pandemie auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung negativ ausgewirkt habe.
Fauth bestätigt: „Die in der Meta-Analyse beobachteten Lernrückstände sind bedeutsam.“ Defizite, die in Studien aus Deutschland gefunden worden seien, beispielsweise in Hamburg und in Baden-Württemberg, fielen etwas geringer aus, zeigten aber von der Tendenz her in dieselbe Richtung.
Wie Fauth weiter erklärt, seien nicht nur die Lernrückstände ungleich verteilt, sondern auch deren Folgen. „Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, sagt der Experte. „Vor allem bei Leistungsschwächeren und bei Lernenden aus eher bildungsfernen Elternhäusern werden die Folgen der Lernrückstände aber gravierender sein.“
Welche Lösungen gibt es?
„Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort Sommerschulen – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert“, kritisiert Zierer. „Aus Forschungen wissen wir (leider), dass sich Lerndefizite schnell kumulieren und daher immer größer werden.“ Je früher es gelinge, hier gegenzusteuern, desto besser seien die Resultate. Doch Konzepte seien nicht erarbeitet worden.
„Aus empirischer Sicht sind Sommerschulen sicherlich eine interessante Möglichkeit, weil sie in der Vergangenheit zeigen konnten, dass sie bei allen Kindern und Jugendlichen positiv wirken – vor allem aber auch bei Lernenden aus bildungsfernen Milieus“, unterstreicht Fauth. „Hier könnte von der Forschung und den bestehenden Konzepten weltweit profitiert werden.
Doch der Experte warnt: „Alle schielen auf Digitalisierung, die sich aber nicht als Retter in der Pandemie bewährte, sondern als Treiber für Bildungslücken.“ Vielmehr stehe Digitalisierung als „Treiber für Bildungsungerechtigkeit“, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. Würde Digitalisierung klug eingesetzt, biete sie dennoch Potenziale, um Defizite auszugleichen.
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Photographer: © Michele D’Ottavio
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Diesen Artikel so zitieren: „Generation Corona“: Forscher finden bei Schülern große Lerndefizite nach Pandemie, Chancen „verpennt“ – was nun passieren müsste - Medscape - 1. Feb 2023.
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