Deutschland, quo vadis? In der Rangliste attraktiver Wirtschaftsstandorte ist das Land laut einer Studie des Mannheimer Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW auf den 18. von 21 Plätzen abgerutscht. 2020 stand es noch auf Platz 14. Gründe für den „Niedergang“: zu viel Bürokratie, eine hohe Steuerbelastung, eine geringe Innovationsbereitschaft, hohe Energiekosten und der bekannte Fachkräftemangel.
„Der Industriestandort Deutschland hat dramatisch an Qualität verloren“, so Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, welche die Studie in Auftrag gegeben hatte. „Die Deutschen zehren immer noch vom Image eiserner Zuverlässigkeit. Nur hat das nichts mehr mit der Realität zu tun“, moniert auch René Pfister, US-Korrespondent des „Spiegels“ . „Vielleicht“, so Pfisters Hypothese“, „sind die echten Probleme der Deutschen so stark gewachsen, dass sie sich lieber um die eingebildeten kümmern.“
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, wäre das zwar dumm, aber irgendwie auch verständlich. Denn wer die echten Probleme – sie heißen Bahn, Bundeswehr, Bürokratie, Bildungswesen und viele mehr – lösen will, muss nicht nur fähig sein, besonders dicke Bretter zu bohren, sondern auch eine außergewöhnliche Leidensfähigkeit besitzen, die selbst mit einem unanständig hohen Schmerzensgeld nicht zu steigern wäre.
Das deutsche Gesundheitswesen ist seit Jahren in der Kritik
Als ähnlich schwergewichtiger Problemfall gilt seit Langem auch das deutsche Gesundheitswesen. Schwierigkeiten gibt es mehr als genug, etwa die überbordende Bürokratie, den Mangel an Pflegekräften und an Hausärzten, die mangelhafte oder defizitäre Digitalisierung und viele mehr.
Viele dieser Schwächen sind schon länger bekannt, aber nun vor allem durch die Pandemie und durch den Krieg in der Ukraine besonders deutlich geworden, wie erst vor wenigen Tagen der Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten zur Resilienz im Gesundheitswesen erklärt hat. Dort heißt es zum Beispiel: „Unser Gesundheitssystem ist sehr komplex und fragil, pointiert gesagt: ein nicht sehr reaktionsschnelles, wenig anpassungsfähiges ‚Schönwettersystem‘, das nicht nur im Krisenfall unzureichend koordiniert und im Ergebnis häufig schlechter ist, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre. Weder auf Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien ist unser Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet. Dies gilt auch für andere bekannte und – wahrscheinlich erst recht– für noch unbekannte krisenhafte Herausforderungen.“
Der medizinische Schutz der Bürger – eine „griechische Tragödie“?
Auch beim medizinischen Bevölkerungsschutz soll einiges im Argen liegen, folgt man dem Notfallmediziner und Anästhesisten Dr. Matthias Bollinger (Schwarzwald-Baar Klinikum, Villingen-Schwenningen).
In Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie oder auch der Flutkatastrophe im Ahrtal werde gegenwärtig gerne der Begriff „lessons learned“ verwendet, so Bollinger in einem Zeitschriftenbeitrag mit der Überschrift „Medizinischer Bevölkerungsschutz in Deutschland – eine griechische Tragödie?“. Dagegen, so Bollinger weiter, sei natürlich nichts zu sagen, wenn wirklich versucht würde, die Lehren aus bitteren Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen. Tatsächlich aber seien „diese oder ähnliche Schadensereignisse alle schon da gewesen, was jedoch bisher in vielen Fällen nicht dazu geführt hat, zukünftige Situationen und deren Konsequenzen zu antizipieren und sich besser bzw. ausreichend vorzubereiten“.
Dabei handelt es sich nur um ein Beispiel dafür sei die kontinuierliche Beschäftigung des Bevölkerungsschutzes mit dem Szenario einer Pandemie seit spätestens 2003. Zur Erinnerung die bekannten Pandemien in den vergangenen 2 Dekaden:
SARS-CoV-1-2002/2003
Vogelgrippe 2004
Schweinegrippe 2009/2010
MERS-CoV 2012
Bereits 2005 sei ein nationaler Pandemieplan veröffentlicht worden, berichtet der Notfallmediziner. 2 Jahre später habe eine länderübergreifende Übung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit dem Szenario einer Pandemie stattgefunden, in der wesentliche Problembereiche erkannt worden seien. Doch letztlich habe dies offensichtlich nicht dazu geführt, „dass wir auf eine Pandemie ausreichend vorbereitet gewesen wären“, kritisiert Bollinger. Insbesondere zu Beginn der COVID-19-Pandemie sei relativ schnell klar geworden, dass es zum Teil an den einfachsten Dingen wie Schutzkleidung, Desinfektionsmittel fehle.
Anschläge und Unfälle
Weitere Szenarien, auf die Deutschland seiner Einschätzung nach nur unzureichend vorbereitet sei, sind Anschläge und Unfälle mit CBRN- Gefahrstoffen (CBRN: chemisch, biologisch, radiologisch, nuklear). So seien zwar nach Empfehlung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ab 2006 Dekon-V-Einheiten für die Dekontamination von Verletzten eingeführt worden. Diese Einheiten seien jedoch in der Regel nur an wenigen Standorten stationiert. Außerdem: Nach einer gegebenenfalls längeren Anfahrt zum Einsatzort benötigten die Einheiten mindestens 30 Minuten, um mit der Dekontamination der Patienten beginnen zu können. Eine Einheit könne pro Stunde planmäßig 10 liegende und 40 gehfähige Patienten dekontaminieren.
Als alternative Strategie habe sich in einigen Kommunen eine Zusammenarbeit mit Feuerwehren entwickelt (Beispiel Heidelberg). Doch auch diese Zusammenarbeit werde nicht regelhaft geübt, so dass die Erfahrung im Umgang mit kontaminierten Patienten fehle. Sogar die meisten Kliniken seien auf derartige Ereignisse mutmaßlich nur unzureichend vorbereitet. Zudem werde die Feuerwehr bei einem entsprechenden Schadensfall regelhaft keine freien Ressourcen haben, um eine Dekontamination am Krankenhaus durchzuführen.
Kritisch sieht Bollinger auch die Vorbereitung auf einen „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten im Terrorfall (Terror-MANV) mit Kliniken oder Rettungsdienst als Anschlagsziel“. Zwischen 1981 und 2013 habe es international rund 100 Anschläge auf Kliniken gegeben. Es gebe nach Angaben des Notfallmediziners zwar eine „Handlungsempfehlung zur Eigensicherung für Einsatzkräfte der Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen bei einem Einsatz nach einem Anschlag“. Diese sei aber eher allgemein gehalten; seiner Ansicht nach lasse sie viele Fragen unbeantwortet, kritisiert Bollinger. Verantwortlich seien formal die Länder bzw. Landkreise und kreisfreien Städte. Da klare Konzepte übergeordneter Stellen fehlten, hätten sie zumeist selbst Konzepte für derartige Lagen entwickelt. Reale Einsätze und Übungen zeigten jedoch immer wieder Schwachstellen.
Auch länger andauernde Strom- oder Trinkwasserausfälle sowie Einschränkungen in der Informations- und Kommunikationsstruktur nach Cyberattacken seien eine Gefahr für die Infrastruktur von Rettungsdiensten und Krankenhäusern. Krankenhäuser hätten zwar die Pflicht, einen Alarm- und -Einsatzplan zu erstellen. Aktualität, Inhalte oder Funktionieren dieser Pläne würden in den meisten Bundesländern jedoch nicht von den Behörden kontrolliert; die meisten Bundesländer stellten auch kein Geld zur Aufstellung und Umsetzung der Pläne oder zum regelmäßigen Üben zur Verfügung. Eine Kostendeckung über die Krankenkassen sei nach aktueller Gesetzeslage vermutlich nicht zulässig.
Fehlende Konzepte, mangelnde Umsetzung
Für all diese Szenarien fehlen nach Ansicht des Autors schlüssige und funktionierende Gesamtkonzepte. Wo solche existierten, würden sie nicht ausreichend umgesetzt bzw. finanziert. 2021 sei immerhin eine Neuausrichtung des BBK in die Wege geleitet worden. Der „politische Wille zur Verbesserung der bestehenden Strukturen“ sei demnach möglicherweise vorhanden, schreibt der Notfallmediziner. Allerdings sei das Kernproblem des BBK nicht die mangelnde Expertise, sondern der unverbindliche Charakter erarbeiteter Empfehlungen gegenüber den für den Katastrophenschutz zuständigen Bundesländern.
Es sei, so ein Fazit von Bollinger, dringend erforderlich, dass die notfallmedizinischen Fachgesellschaften und Hilfsorganisationen die Probleme benennen und funktionierende Konzepte für Krankenhäuser, Rettungsdienste und Schnelleinsatzgruppen mit Nachdruck einfordern. Erforderlich sei auch, „dass die verantwortlichen Behörden Konzepte erarbeiten, diese finanzieren und umsetzen, auf ihr Funktionieren überprüfen und schließlich fortlaufend beüben lassen“.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Pandemien, Anschläge, Stromausfälle und mehr: Wie gut ist Deutschland auf Katastrophenfälle vorbereitet? - Medscape - 1. Feb 2023.
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