Schlafstörungen können bei Personen mit schwerer depressiver Episode für ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung anderer psychiatrischer Störungen stehen, besagen die Ergebnisse einer neuen Studie, die kürzlich in The Journal of Clinical Psychiatry veröffentlicht wurden [1].
Die Forschenden untersuchten die 3-Jahres-Inzidenzraten für psychiatrische Störungen bei fast 3.000 Patienten mit einer depressiven Episode. Danach war das Risiko für das Auftreten psychiatrischer Störungen erhöht, wenn es eine Vorgeschichte mit Einschlafschwierigkeiten, frühmorgendlichem Erwachen und Hypersomnie gab.
„Diese Ergebnisse sprechen dafür, die Schlaflosigkeit und auch die Hypersomnie in die klinische Bewertung aller psychiatrischen Störungen einzubeziehen“, schreiben die Autoren unter der Leitung von Dr. Bénédicte Barbotin, Hôpital Bichat - Claude-Bernard, Hôpitaux Universitaires Paris Nord Val de Seine, Paris. „Schlaflosigkeit und Hypersomnie-Symptome könnten transdiagnostische Biomarker eines Prodromalstadiums sein und zudem leicht modifizierbare therapeutische Ziele für die Prävention psychiatrischer Störungen“, fügen sie hinzu.
Wechselseitige Beeinflussung
Die Forschenden stellen fest, dass Schlafstörungen zu den häufigsten Symptomen einer depressiven Episode zählen und „sowohl Folge als auch Ursache“ sein können. Zudem führe die Verbesserung von Schlafstörungen bei Menschen mit depressiver Episode „tendenziell zu einer Verbesserung der depressiven Symptome und des Outcomes“, fügen sie hinzu.
Obwohl ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen einer depressiven Episode und Schlafstörungen die Schlafstörung als mögliches prädiktives Prodromalsymptom ins Spiel bringe, sei ein Zusammenhang zwischen Schlafbeschwerden und der anschließenden Entwicklung anderer psychiatrischer Störungen bei der depressiven Episode nach wie vor schlecht dokumentiert, so die Forschenden weiter.
Die Beobachtung, dass Schlafstörungen mit psychiatrischen Komplikationen und negativen Folgen wie Suizidalität und Substanzüberdosierungen verbunden sind, „könnte dafür sprechen, dass Längsschnittstudien hier zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge beitragen“.
Daten aus großer US-Untersuchung
Um dieser Fragen nachzugehen, untersuchte das Team 3 Formen der Schlafstörung bei Personen mit depressiven Episoden:
Einschlafstörungen,
frühmorgendliches Erwachen und
Hypersomnie.
Sie berücksichtigten dabei eine Reihe von Variablen wie:
antisoziale Persönlichkeitsstörungen,
die Einnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln,
soziodemografische Merkmale,
die Schwere der depressiven Episoden,
den ökonomischen Status,
Adipositas,
Bildungsniveau und
belastende Lebensereignisse.
Außerdem verwendeten sie einen „bifaktoriellen Ansatz für latente Variablen“, um eine Reihe von Effekten zu „entwirren“:
Effekte, die alle psychiatrischen Störungen gemeinsam haben,
Effekte, die spezifisch für bestimmte Psychopathologien sind, wie internalisierende Auffälligkeiten, und
Effekte, die spezifisch für einzelne psychiatrische Störungen sind, wie etwa die Dysthymie.
„Unseres Wissens nach ist dies die größte prospektive Studie, die jemals zu den Zusammenhängen zwischen Schlafstörungen und psychiatrischen Erkrankungen durchgeführt wurde“, so das Team.
Sie griffen dazu auf Daten aus dem National Epidemiological Survey on Alcohol and Related Conditions zurück. Dabei handelte es sich um eine große, USA-weite repräsentative Erhebung des National Institute on Alcoholism and Alcohol Abuse, die in 2 Wellen von 2001 bis 2002 bzw. 2004 bis 2005 durchgeführt wurde.
Die Analyse umfasste 2.864 Teilnehmer, die im Jahr vor Welle 1 eine depressive Episode erlebt hatten und in beiden Wellen befragt wurden.
Die Forschenden untersuchten dann die Diagnosen der Achse-I-Störungen des DSM IV aus dem letzten Jahr und die Schlafprobleme zu Beginn von Welle 1 sowie die zwischen den beiden Wellen aufgetretenen Achse-I-Störungen wie Substanzkonsum, affektive Störungen und Angststörungen.
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Nach den Daten gab es zwischen Welle 1 und Welle 2 eine große Bandbreite von Inzidenzraten für psychiatrische Störungen, die von 2,7% beim Cannabiskonsum bis zu 8,2% für generalisierte Angststörungen reichten.
Die Lebenszeitprävalenz von Schlafstörungen war bei den Teilnehmenden, die zwischen den beiden Wellen eine psychiatrische Störung entwickelten, höher als bei denen, die keine Schlafstörungen aufwiesen. Die Spannbreite vom niedrigsten bis zum höchsten Prozentsatz ist in der folgenden Tabelle dargestellt:
Schlafstörung |
Psychiatrische Störung |
Prozentualer Anteil |
Einschlafschwierigkeiten |
Störung durch Cannabiskonsum Panikstörung |
67,6% 76,4% |
frühmorgendliches Erwachen |
Störung durch Cannabiskonsum Dysthymie |
43,3% 55,6% |
Hypersomnie |
Störung durch Nikotinkonsum soziale Phobie |
51,3% 72,1% |
Häufigere Schlafstörungen waren auch mit einem höheren Prozentsatz an psychiatrischen Störungen verbunden.
Vor allem bei Hypersomnie war die Wahrscheinlichkeit, eine weitere psychiatrische Störung zu entwickeln, signifikant höher. Wenn Personen mit depressiven Episoden über eine Hypersomnie berichteten, war die durchschnittliche Anzahl weiterer psychiatrischer Störungen signifikant höher als bei Personen ohne Hypersomnie (2,08 vs. 1,32; p < 0,001). „Dies erklärt, warum die Hypersomnie stärker mit dem Auftreten psychiatrischer Störungen verbunden zu sein scheint“, schreiben die Forschenden.
Nach der Adjustierung bezüglich soziodemografischer und klinischer Merkmale und einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zeigten sich die gemeinsamen Effekte aller Schlafstörungen als „signifikant mit einer allgemeinen Psychopathologie verbunden, was für Mechanismen spricht, die bei jeder psychiatrischen Störung einen Anteil an der Inzidenz haben könnten“, fügen sie hinzu.
Das Team stellte fest, dass Schlaflosigkeit und Hypersomnie die kognitiven Funktionen, die Entscheidungsfindung, das Problemlösungsverhalten und die Verarbeitung von Emotionen beeinträchtigen könne, wodurch das Auftreten psychiatrischer Störungen bei gefährdeten Personen begünstigt werde.
Gemeinsame biologische Faktoren wie etwa die Gruppe der Monoamin-Neurotransmitter – also Adrenalin, Dopamin, Noradrenalin, Serotonin (manchmal auch Histamin) und deren Derivate, die eine wichtige Rolle bei Depressionen, Angstzuständen, Substanzkonsumstörungen und der Regulierung von Schlafstadien spielen – könnten ebenfalls sowohl den Schlafstörungen als auch den psychiatrischen Störungen zugrunde liegen, vermuten sie.
„Die Befunde unterstreichen, wie wichtig es ist, Schlaflosigkeit und Hypersomnie bei der Beurteilung psychiatrischer Störungen systematisch miteinzubeziehen und zu bewerten und diese Symptome als unspezifische Prodromal- oder Risikosymptome zu betrachten, die auch mit einem suizidalen Verhalten verbunden sein können“, schreibt das Team.
„Da die meisten Menschen, die eine psychiatrische Störung entwickeln, auch mindestens eine Schlafstörung aufwiesen, sollten bei Personen mit Schlafbeschwerden sorgfältig alle psychiatrischen Störungen abgeklärt werden“, fügen sie hinzu.
Transdiagnostisches Phänomen
Dr. Roger McIntyre, Psychiater und Pharmakologie an der Universität von Toronto, Kanada, bemerkte in einem Kommentar für Medscape, dass die Studie frühere Beobachtungen bestätige, nach denen eine wechselseitige Beziehung zwischen Schlafstörungen und psychischen Störungen bestehe. Diese Wechselseitigkeit beziehe sich auch auf den Punkt der Suizidalität.
Er begrüße den Umstand, dass die Forschenden „dieses Wissen einen Schritt weitergeführt haben. Sie sagen, dass Schlafstörungen bei depressiven Erkrankungen eine prognostische Aussagekraft haben können.“
McIntyre ist auch Vorsitzender und geschäftsführender Leiter der Brain and Cognitive Discover Foundation in Toronto und war nicht an der Studie beteiligt.
Nach den Studiendaten könnten „Schlafstörungen konzeptionell ein transdiagnostisches Phänomen sein und womöglich auch das Bindeglied bei mehreren psychiatrischen Komorbiditäten“, sagte er.
„Wenn das so ist, bestünde aus klinischer Sicht vielleicht die Möglichkeit, das Auftreten weiterer psychischer Störungen bei Personen mit Depressionen und Schlafproblemen zu verhindern, indem man sich bei allen Personen mit einer affektiven Störung vorrangig dem Schlafmanagement widmet“, so McIntyre weiter.
Die „überprüfbare Hypothese“ sei die Frage, wie dies biomechanisch ablaufe. „Ich vermute ein Entzündungsgeschehen und/oder eine Insulinresistenz als Teil der Schlafstörung dahinter, was zu anderen psychischen Erkrankungen prädisponieren und sie gewissermaßen ankündigen könnte. Und vermutlich würde das auch für andere somatische Erkrankungen wie Fettleibigkeit und Diabetes gelten“, sagte er.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus https://www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Ocusfocus
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Schlafstörungen und Risiko für psychische Erkrankungen: Studie mit depressiven Patienten zeigt, welche Folgen sie haben können - Medscape - 30. Jan 2023.
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