Sorgen wegen THC-Produkten berechtigt? Drastischer Anstieg von Vergiftungen bei Kindern nach Cannabis-Legalisierung in Kanada

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

30. Januar 2023

Kinder sind bekanntlich Naschkatzen, und wenn in der Wohnung Schokolade, Bonbons oder Gummibärchen herumliegen, probieren sie gern. Pech nur, wenn diese Süßigkeiten ausschließlich für Erwachsene bestimmt sind, weil sie Cannabis enthalten. Eine Studie in Kanada zeigt: Werden solche Produkte legalisiert, steigt die Zahl der Kinder, die wegen einer Cannabis-Vergiftung ins Krankenhaus kommen, drastisch an.

Die naheliegende Schlussfolgerung der Forscher: Einschränkung des Verkaufs, außerdem Verpackungen, die Kinder noch schwerer öffnen können als die bisherigen. Ihre Untersuchung publizierten Dr. Daniel T. Myran vom Ottawa Hospital Research Institute und seine Kollegen in JAMA Health Forum  [1].

Immer mehr Staaten legalisieren Cannabis als Freizeitdroge: So bereitet etwa die deutsche Bundesregierung eine Freigabe vor, und auch im US-Senat steht sie zur Diskussion.

Kanada hat den Verkauf bereits im Oktober 2018 erlaubt, und zwar in einen einzigartigen, zweiphasigen Ansatz, erläutern Myran und sein Team.

Zunächst waren nur getrocknete Cannabisblüten – also Marihuana oder „Gras“ – frei erhältlich, und zwar im ganzen Land. Ab Dezember 2019 konnte jede Provinz dann selbst entscheiden, ob sie eine breitere Palette von Produkten mit Tetrahydrocannabinol (THC) zulässt, sogenannte Edibles wie Gummibärchen, Bonbons, Desserts, Schokolade oder Backwaren („Haschkekse“), aber auch Konzentrate und Getränke.

In Quebec gibt es in lizenzierten Shops nur Marihuana

Ontario, British-Columbia und Alberta – mit 24,3 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichsten Provinzen Kanadas – genehmigten den Verkauf dieser Esswaren, wogegen sie in Quebec (8,6 Millionen Einwohner) bis auf THC-haltige Drinks untersagt blieben.

Staffelung plus unterschiedliche Praxis boten den Forschern die Chance für eine detaillierte Analyse der Folgen: Wie würde sich je nach Produktart die Zahl der Kinder ändern, die wegen Cannabis-Vergiftungen stationär behandelt werden müssen? Und würde der Anteil an Intoxikationen aller Art steigen?

Für ihre Studie recherchierten sie in den Datenbanken der Krankenversicherungen, die 3,4 Millionen Kinder im Alter bis 9 Jahre umfassen. Relevant waren die ICD-10-Diagnoseschlüssel T36 bis T65 (Vergiftungen durch Arznei- und Nichtarzneimittel) sowie T40.7 (Vergiftungen durch Cannabis und Derivate) oder F12.X (Psychische und Verhaltensstörungen nach Konsum von Cannabinoiden).

Der Verzehr des psychoaktiven Wirkstoffs kann bei Kindern schwerwiegend verlaufen, zum Beispiel mit Bewusstseinstrübung, Atemdepression und Krampfanfällen.

Zunächst nur „Gras“, dann lokal auch Edibles

Die Wissenschaftler unterteilten 3 Phasen:

  • Zeitraum vor der Legalisierung: Januar 2016 bis September 2018;

  • Periode 1: Legalisierung von getrockneten Blüten, Samen und Öl in allen Provinzen – Oktober 2018 bis Dezember 2019;

  • Periode 2: Legalisierung von Cannabis-Esswaren in den Provinzen Ontario, Alberta und British-Columbia im Vergleich zur Provinz Quebec ohne diese Produkte – Januar 2020 bis September 2021.

Die Ergebnisse: Während des 7-jährigen Studienzeitraums wurden insgesamt 581 Kindern im Durchschnittsalter von 3,6 Jahren wegen einer Cannabis-Vergiftung ins Krankenhaus eingewiesen, etwas mehr Jungen als Mädchen:

  • 120 Kinder in den 31 Monaten vor der Legalisierung,

  • 105 Kinder in den 14 Monaten der Phase 1 und

  • 356 Kinder während der 19 Monate von Phase 2.

Der Anteil der Hospitalisierungen wegen Cannabis an den Klinikaufenthalten wegen Vergiftungen allgemein stieg vom Beginn 2016 bis zum Ende der Studie 2021 um 844%, nämlich von 3% auf 29%.

Sprunghafter Anstieg schwerer Vergiftungen

Oder anders ausgedrückt: Vor der Legalisierung kamen in den Provinzen Ontario, Alberta und British-Columbia 57 von 1.000 Kindern, die mit Vergiftungen allgemein ins Krankenhaus aufgenommen wurden, wegen Cannabis in die Klinik. In der 1. Phase nur mit Blüten verdreifachte sich die Rate auf 150 pro 1.000 und stieg dann noch einmal bedenklich auf 318 während der 2. Phase, als zusätzlich Edibles erlaubt waren.

In der Provinz Quebec, die es in Phase 2 bei Marihuana beließ, wurde kein weiterer Sprung registriert.

Die Zunahme der medizinischen Notfälle spiegelte sich in den Umsätzen wider, die alle lizenzierten Händler melden müssen: Im Zeitraum 1 verkauften sie pro Kopf und Quartal je nach Provinz Cannabis für nur 5 bis 10 kanadische Dollar, im 2. Zeitraum aber schon für 20 $ bis 33 $.

Wie beliebt speziell Esswaren sind, belegen Daten, die nur für Ontario verfügbar waren: Dort stieg der Pro-Kopf-Umsatz von Januar 2020 bis September 2021 um 390%.

Vorschriften haben wohl Schlimmeres verhütet

Fazit der Autoren: Bei Kindern machen Cannabis-Vergiftungen mit einer Rate von einem Drittel eine Hauptursache der Intoxikationen mit Klinikaufenthalt aus – und das, obwohl die Behörden Schutzmaßnahmen vorschreiben: eine Höchstmenge von 10 mg THC pro essbarer Portion, kindersichere Verpackungen und Aufklärungskampagnen.

Untersuchungen aus US-Staaten, die Cannabis entkriminalisiert haben, bestätigen die aktuellen Resultate aus Kanada: In einem Krankenhaus in Colorado verdoppelte sich die Rate der Cannabis-bedingten Notaufnahmen bei Kindern im Alter bis 9 Jahre in den 2 Jahren nach der Legalisierung – verglichen mit den 2 Jahren davor. In Giftnotrufzentralen nahm die Zahl der Cannabis-bedingten Anrufe wegen Kindern derselben Altersgruppe zwischen 2005 und 2011 um 30% jährlich zu.

Lecker und verführerisch – eher kontraproduktiv

Nach Ansicht von Myran und seinem Team bietet die Studie wichtige Erkenntnisse für Länder, in denen eine Legalisierung geprüft wird. Ein Schlüsselfaktor seien Cannabis-Esswaren, wie der starke Anstieg der Schäden nach deren Einführung nahelegt. Beschränkungen oder gar Verbote des Verkaufs „von optisch attraktiven und schmackhaften Cannabisprodukten“ könnten Kinder daher „äußerst wirksam“ vor Vergiftungen schützen.

Weiterhin heben die Autoren die Bedeutung kindersicherer Verpackungen hervor. So gingen in den USA nach Inkrafttreten des Poison Prevention Packaging Act 1970 Verletzungen und Todesfälle bei Kindern durch Substanzen aller Art erheblich zurück. Daher habe in Kanada eine ähnliche Vorschrift auch für Cannabis-Produkte wahrscheinlich einen noch stärkeren Anstieg der Intoxikationen verhindert.

Doch offenbar reiche diese Maßnahme nicht aus. Eine Verbesserung wäre, Cannabis-Produkte mit mehreren Portionen in Einzeldosen (Blister) zu verpacken, die für Kinder besonders schwer zu „knacken“ sind.

Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der  Link  zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....