Wer an bestimmten Virusinfektionen erkrankt, weist über einen Zeitraum von 15 Jahren ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen auf. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher, die 2 Datenbanken analysiert und ihre Ergebnisse in Neuron vorgestellt haben [1].
Über die finnische Biodatenbank FinnGen identifizierten Dr. Kristin S. Levine vom Center for Alzheimer’s and Related Dementias (CARD) an den National Institutes of Health in Bethesda, USA, und ihre Kollegen 45 virale Expositionen. Die Ergebnisse zeigen, dass z.B. Virus-induzierte Lungenentzündung oder Enzephalitis mit einem erhöhten Risiko für Alzheimer, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Demenz, Parkinson und Multiple Sklerose (MS) assoziiert waren.
22 dieser Assoziationen konnten anhand der UK-Biobank repliziert werden, darunter auch die erst kürzlich nachgewiesene Verbindung zwischen dem Epstein-Barr-Virus und MS.
Demenz war am häufigsten mit viraler Enzephalitis, Influenza oder einer viralen Lungenentzündung assoziiert. Die Forscher konnten auch 4 der 5 untersuchten neurodegenerativen Erkrankungen mit einer vorhergehenden schweren Influenza-Infektion mit und ohne Lungenentzündung in Verbindung bringen.
Offenbar ist das Risiko bei den meisten Paarungen innerhalb eines Jahres vor Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung am höchsten. Bei 6 Paaren wurden allerdings auch noch signifikante Assoziationen bis zu 15 Jahre vor der Diagnose gefunden.
Korrelation ja, Kausalität ist aber noch nicht bewiesen
„Die Autoren zeigen, dass in den Krankenakten von Personen mit neurodegenerativen Erkrankungen häufiger schwere Virusinfektionen dokumentiert sind als in Kontrollgruppen“, kommentierte Prof. Dr. Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen, gegenüber dem Science Media Center (SMC) die Studienergebnisse.
„Für diese Studie spricht, dass diese Zusammenhänge in 2 unabhängigen Datenbanken nachweisbar sind. Ob dieser Zusammenhang kausaler Natur ist, …ist damit aber noch nicht bewiesen“, betonte Überla. „Es könnte beispielsweise auch sein, dass Personen, die dazu neigen, schwere Virusinfektionen durchzumachen, auch ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen haben.“
Das Thema beschäftigte die Forschung schon seit 20 oder 30 Jahren und habe mit der Corona-Pandemie nochmal neuen Schwung bekommen, erinnerte Prof. Dr. Martin Korte, Leiter der Abteilung Zelluläre Neurobiologie, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig. „Mehrere Evidenzen zeigen in die Richtung, dass eine Virusinfektion auch neurodegenerative Erkrankungen in ihrem Risikopotenzial erhöhen kann. Diese Studie ist also sehr relevant“, sagte Korte, der auch die AG Neuroinflammation und Neurodegeneration am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig leitet.
„In Studien an Mausmodellen konnten wir bereits 2018 aufzeigen, dass insbesondere eine Grippeinfektion über eine starke Anregung des Immunsystems auch das Immunsystem im Gehirn aktiviert“, so Korte weiter. Die Mikrogliazellen stehen im Verdacht, Nervenzellen zu schädigen, wenn sie über Wochen und Monate aktiv sind. „Unsere Hypothese ist, dass diese Neuroinflammation das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen kann“, erklärte Korte.
Beachtet werden sollte auch, dass Menschen, die schon begonnen haben, eine neurodegenerative Erkrankung zu entwickeln, vielleicht auch empfänglicher für eine Infektion sein können. Man kenne das aus Tiermodellen. Und auch in der Pandemie ließen sich verstärkt schwere COVID-19-Verläufe bei Alzheimer-Patienten beobachten.
Studie weist methodisch bedingte Einschränkungen auf
„Insgesamt handelt es sich um eine sehr gute Studie, die sich durch eine unvoreingenommene Herangehensweise und einen großen Datensatz auszeichnet. Dennoch gibt es einige für Assoziationsstudien typische Limitationen“, kommentierte Prof. Dr. Harald Prüß die Studienergebnisse. Prüß leitet die Arbeitsgruppe Autoimmune Enzephalopathien, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), Berlin, und ist Direktor der Abteilung Experimentelle Neurologie an der Berliner Charité.
Die kausale Verbindung zwischen der Virusinfektion und der Neurodegeneration werde kaum diskutiert, das Immunsystem nur in einem Satz genannt, merkte Prüß an. „Es gibt zahlreiche Daten, die zeigen, dass und wie Viren, darunter auch Influenza und SARS-CoV-2, zu verstärkter Autoimmunität führen, die sich dann zum Teil auch gegen das Gehirn richten kann. Es ist wichtig, auch der Frage nach den Mechanismen nachzugehen“, betonte Prüß.
Falsch-positive Assoziationen?
Prof. Dr. Klemens Ruprecht, Oberarzt an der Klinik und Hochschulambulanz für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Berliner Charité, erinnerte daran, dass die Diagnosen in beiden Datenbanken auf Diagnoseschlüsseln beruhten, die für Abrechnungszwecke erhoben wurden: „Derartige Diagnoseschlüssel können eine gewisse Unschärfe haben und bilden einzelne Erkrankungen mitunter nur relativ grob ab.“
Auch wurden die Diagnosen der viralen Erkrankungen nicht systematisch durch Labortests überprüft, „so dass in manchen Fällen unklar bleibt, welche viralen Infekte genau untersucht wurden“, sagte Ruprecht.
Auch dass nur 22 der 45 gefundenen Assoziationen in der britischen Datenbank repliziert werden konnten, spreche dafür, dass es sich bei manchen der beschriebenen Assoziationen um falsch-positive Assoziationen handeln könnte.
Impfungen? Erst muss die Kausalität geklärt sein
In der Studie wird diskutiert, ob eine Impfung gegen die Viren, die mit einer neurodegenerativen Erkrankung korrelieren, sinnvoll sein könnte. Sind geimpfte Menschen weniger empfänglich für neurodegenerativen Erkrankungen? „Genau das untersuchen wir aktuell bei uns im Labor. Im Mausmodell sehen wir klar, dass eine Grippeimpfung im Vergleich zu einer Infektion vor den langfristigen Schäden im Gehirn schützt“, berichtete Korte.
Ein Grund könnte sein, dass eine Infektion eine wesentlich stärkere Immunaktivierung auslöst als eine Impfung. „Das Immunsystem wird großflächig aktiviert, da es sich nicht nur gegen eine Komponente, wie etwa das Spikeprotein bei SARS-CoV-2, richtet. Bei einer viralen Infektion besteht zudem bei vielen Erregern auch die Gefahr, dass sie in das Gehirn gelangen und dort die neuroinflammatorischen Reaktionen verstärken“, so Korte.
Überla stuft die Studienergebnisse als wichtigen Anstoß zu weiterer Forschung ein, unmittelbare Konsequenzen – etwa für Impfungen – sieht er allerdings nicht: „Bevor man jetzt zum Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen Impfungen empfehle, wäre es wichtig zu zeigen, dass die Impfungen tatsächlich die Häufigkeit neurodegenerativer Erkrankungen reduzieren.“
Auch Ruprecht hält es aktuell für verfrüht, weitreichende Schlüsse aus der Arbeit zu ziehen. Er erinnerte daran, dass die einzelnen beobachteten Assoziationen nun im Detail und in methodisch robusten Studien nachuntersucht werden müssten. „Erst wenn sich dann für einzelne virale Erreger definitive ursächliche Zusammenhänge mit bestimmten neurodegenerativen Erkrankungen bestätigen lassen sollten, könnte man hieraus mögliche Konsequenzen, zum Beispiel in Form einer Impfung, ziehen“, schloss Ruprecht.
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Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Bestimmte Virusinfekte können das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen bis zu 15 Jahre erhöhen - Medscape - 27. Jan 2023.
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