COVID-19 forever? Wie oft impfen? Langzeitfolgen? Deutschlands Corona-Experten blicken in die Glaskugel – ihre Prognosen für 2023

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

19. Januar 2023

In Europa und in Nordamerika ist die pandemische Phase von COVID-19 vorbei oder neigt sich dem Ende entgegen, je nach Sichtweise der Experten. Doch die endemische Phase wird ebenfalls zu neuen Infektionen und – wenn auch seltener als vor 2 Jahren – zu schwerem COVID-19 führen. Womit ist in 2023 zu rechnen? Dazu hat das Science Media Center Germany (SMC) Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen befragt. Ihre Prognosen im Überblick [1].

COVID-19 wird nicht mehr verschwinden

Vor allem Impfungen hätten die Mortalität bei SARS-CoV-2-Infektionen in Deutschland von etwa 4,5% im Jahr 2020 auf deutlich unter 0,5% Ende 2022 sinken lassen, betont PD Dr. Christoph Spinner, Oberarzt Infektiologie und Pandemiebeauftragter, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin II, am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. „Dennoch wird SARS-CoV-2 beziehungsweise COVID-19 eine saisonale Atemwegsinfektion bleiben, die vor allem ältere und chronisch kranke Menschen auch in Zukunft gefährden wird.“

Andere Experten teilen seine Sichtweise. „Auch wenn in Deutschland die epidemiologische und klinische Lage in den letzten Monaten eine positive Wendung genommen hat, so stellt COVID-19 weltweit betrachtet immer noch ein bedeutendes gesundheitliches Problem dar, da außerhalb Europas und Nordamerikas die Impfquoten viel zu niedrig sind und der exakte Status der natürlich erworbenen Immunität unklar ist“, so Prof. Dr. Christian Bogdan. Er ist Direktor des Mikrobiologischen Instituts – Klinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene, Universitätsklinikum Erlangen, und Mitglied der Ständigen Impfkommission.

Impfungen: Wohin geht die Reise?

Mit der Bedeutung von Impfungen hat sich Prof. Dr. Julian Schulze zur Wiesch, Leitender Oberarzt der Sektion Infektiologie und Leiter des Ambulanzzentrums Virushepatologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), befasst. „Aktuelle Studien belegen klar den Zusatznutzen der Booster-Impfung mit den im letzten Herbst zugelassenen und an die neueren Varianten angepassten COVID-19-Impfstoffen für Risikopopulationen“, lautet seine Einschätzung. „Hier ist es weiterhin wichtig, gerade bei älteren Mitmenschen oder Patienten mit Risikofaktoren Impflücken zu schließen und gegen aufkommende Impfmüdigkeit oder mögliche Vorbehalte für die Booster-Impfungen zu werben.“

Als offene Fragen für die Wissenschaft nennt Schulze zur Wiesch:

  • Reichen 3 oder 4 Impfungen beziehungsweise eine überstandene COVID-19-Infektion aus, um jahrelang Immunität zu haben?

  • Brauchen wir weitere Impfkampagnen für die gesamte Bevölkerung oder für besonders vulnerable Gruppen?

  • Sind neue, variantenspezifische Impfstoffe erforderlich?

Spinners Vermutung: „Vor allem vulnerablen Gruppen werden aus meiner Sicht auch in Zukunft eine vermutlich jährliche Auffrischungsimpfung benötigen, um schwere Verläufe zu verhindern.“ Und Bogdan ergänzt: „Mittel- und langfristig benötigen wir COVID-19-Impfstoffe, die auf konstanten beziehungsweise wenig veränderlichen Strukturkomponenten von SARS-CoV-2 beruhen.“ Er bewertet die hybride Immunität als „derzeit die beste Basis für einen anhaltenden Schutz vor schweren COVID-19-Erkrankungen“.

Masken und Tests: Welche Maßnahmen sind sinnvoll, welche nicht?

Gleichzeitig mahnt Bogdan: „Es ist höchste Zeit, endlich zu den etablierten Grundregeln jeglicher Infektionsdiagnostik zurückzukehren und zum Beispiel die sinnfreie Untersuchung von klinisch symptomlosen Personen mittels Antigentests zu beenden.“ Und FFP2-Masken sollten nur dort eingesetzt werden, wo es wirklich angeraten sei, nämlich beim Umgang mit Patienten, bei denen eine gravierende respiratorische Infektion vermutet werde oder nachgewiesen worden sei. „In allen anderen Fällen und besonders in der Öffentlichkeit ist im Falle von starken Infektionswellen mit respiratorischen Erregern das korrekte Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes sinnvoll und vollkommen ausreichend.“

Versorgung: Viele Therapien gegen COVID-19, aber Long-COVID als Herausforderung

Auch Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Leitender Oberarzt und Leiter des ECMO-Zentrums am Klinikum Köln-Merheim, hat sich zu Wort gemeldet. „Bei der akuten COVID-19-Infektion gibt es in meinen Augen so viele Behandlungsmöglichkeiten wie bei kaum einer anderen Viruserkrankung der Atemwege“, sagt der Experte. Er sieht in 2023 genau 2 große Themen:

  • Diagnostik und Therapie bei Long-COVID: „Hier haben wir weiterhin die größten Defizite. Ich wünsche mir für 2023 die Etablierung eines Schweregrad-Scores für Long-Covid, so wie er für viele internistische Erkrankungen üblich ist: Herzinsuffizienz, COPD, etc., in 4 Schweregraden.“ Das sei wichtig, um die große, heterogene Gruppe an Patienten besser zu erfassen.

  • Planung: „Der 2. extrem wichtige Punkt ist die Vorbereitung für zukünftige Ereignisse und vor allem auch der Umgang mit den zukünftigen Wintersaisons und den vielen respiratorischen Infektionen, die auf ein Gesundheitssystem treffen, das nie mehr so viel Kapazitäten haben wird wie noch vor 5 bis 10 Jahren.“

Zu einer ähnlichen Bewertung kommt Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen. Sie ist Leiterin der Immundefekt-Ambulanz, Institut für Medizinische Immunologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Leiterin des dortigen Fatigue-Centrums. „Während im 3. Jahr der Pandemie Infektionszahlen zurückgehen und mit Impfstoffen und Medikamenten COVID-19 seinen Schrecken verloren hat, darf nicht unterschätzt werden, dass wir mit Long-COVID vor einer weiteren großen Herausforderung stehen“, gibt sie zu bedenken. Ihren Angaben zufolge leiden rund 10% aller Patienten nach COVID-19 unter anhaltenden Symptomen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht allein in Europa von 17 Millionen Betroffenen aus.

„Solange kurative Therapieansätze fehlen, ist das Ziel die Verbesserung der symptomorientierten Behandlung“, weiß Scheibenbogen. „Chronisch Erkrankte sollten zur Diagnosesicherung und Erstellung eines Therapiekonzepts an spezielle Ambulanzen oder Praxen überwiesen werden können, die jedoch bislang unterfinanziert und oft nur einseitig ausgerichtet sind und lange Wartezeiten haben.“ Auch spezielle Rehabilitationen hält sie für sinnvoll.

Neurologie: Ärzte auf der Suche nach Biomarkern

„Aus neurologischer Sicht sind die Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion das Hauptthema“, stellt Prof. Dr. Peter Berlit klar. Er ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und niedergelassener Neurologe. Durchaus beunruhigend seien Studien, die zeigten, dass metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen bis zu einem Jahr nach durchgemachter Corona-Infektion gehäuft aufträten.

Ein Blick in die Zukunft: „Bezüglich der neurokognitiven Beeinträchtigungen sind weitere bildgebende und laborchemische Untersuchungen erforderlich“, sagt Berlit. „Morphologische Veränderungen am Gehirn, autoimmune und metabolische Befunde und psychosomatische Befundkonstellationen müssen konsequent weiter erforscht werden.“ Man benötige Biomarker, um einzelne Post-COVID-Symptome Veränderungen in Organsystemen zuzuordnen. „Und natürlich müssen Therapieoptionen wissenschaftlich (das heißt prospektiv randomisiert, doppelblind) erarbeitet und überprüft werden“, lautet seine Forderung an die Wissenschaft.

Psychiatrie: Studien zeigen langfristige Folgen

Auf mehr Angst, Einsamkeit und Depressionen in Zusammenhang mit Lockdowns und mit vielen COVID-19-Toten zu Beginn der Pandemie weist Dr. Christoph Benke hin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie, Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg. Benke: „Bisher konnte eine komplette Erholung auf das Vor-Corona-Niveau nicht beobachtet werden. Im Gegenteil, in Deutschland berichteten 2021 sogar mehr Menschen einsam zu sein als noch im Jahr 2020.“ Noch nicht publizierte Daten aus Deutschland deuteten zudem auf einen leichten Anstieg von Angst- und Depressionssymptomen zwischen 2021 und 2022 hin.

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