Medizinischer Fachkräftemangel eskaliert: „Sofort handeln, sonst Katastrophe in Europa“ (WHO) – Tote wegen Überfüllung. Wo stehen wir?

Vincent Richeux (Medscape, französische Ausgabe). Mitarbeit: Aude Lecrubier (Medscape, französische Ausgabe), Nathalie Barres (Univadis Frankreich), Claudia Bravo (Medscape Spanien), Vanessa Sibbald (Medscape UK), Maria Baena (Univadis Spanien), Daniela Ovadia (Univadis Italien)

Interessenkonflikte

18. Januar 2023

Europa – Die geringe Attraktivität mancher Gesundheitsberufe, der fehlende berufliche Nachwuchs, die teils schlechte Ausbildung und zu geringe Investitionen in den Gesundheitssektor: Der Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen betrifft alle europäischen Länder und hat vielfältige Ursachen.

In diesem Beitrag zieht Medscape auf der Basis von Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Bilanz der Situation für das Vereinigte Königreich, für Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien. Grundlage des Textes waren auch Veröffentlichungen der internationalen Ausgaben von Medscape.

Gesundheitssysteme im Ausnahmezustand

Meilenweit entfernte Arztpraxen oder – aktuell durch RSV und Influenza – überfüllte Krankenhäuser: Einige Folgen des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen lassen sich nicht mehr übersehen. Nach der mehr als 2-jährigen Krise in Zusammenhang mit COVID-19 stand es mit der Versorgung ohnehin nicht zum Besten. Jetzt sei es an der Zeit, dass Länder Sofortmaßnahmen ergriffen, erklärte die WHO.

„Wenn nicht sofort gehandelt wird, könnte der Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen in der europäischen Region zu einer Katastrophe führen“, heißt es in einem Bericht der WHO. „Alle Länder der europäischen Region stehen vor ernsthaften Herausforderungen in Bezug auf Gesundheits- und Pflegepersonal.“ Zur europäischen Region gehören laut WHO-Definition 53 Länder von Grönland bis zur Russischen Föderation und vom Mittelmeer bis zur Ostsee.

Ein Beleg für die sich weiter verschlechterte Situation ist, dass viele Notaufnahmen von Krankenhäusern während der Feiertage zum Jahresende nur noch lebensbedrohliche Notfälle behandeln konnten. Im Vereinigten Königreich kommt es derzeit in den Notaufnahmen wohl aufgrund von Überfüllung zu 300 bis 500 Todesfällen pro Woche.

In Frankreich schätzte die Gewerkschaft Samu Urgences de France (SUdF), dass im Dezember 31 Patienten aufgrund der langen Wartezeiten in der Notaufnahme oder in der prähospitalen Versorgung gestorben sind.

Ein Blick auf Zahlen: Starke Unterschiede zwischen den Ländern

Der WHO-Report gibt einen Überblick über Gesundheitssysteme der einzelnen Länder. Dazu gehören Unterschiede bei der Zahl der Mitarbeiter, beim Altersdurchschnitt, beim Alter, um in den Ruhestand zu gehen, aber auch bei der Zahl an Fachkräften, die pro Jahr ausgebildet werden.

Versorgung mit Ärzten …

Die durchschnittliche Zahl von Ärzten pro 10.000 Einwohner beträgt im Schnitt aller untersuchten Länder 37. Deutschland (45), Spanien (46) und Portugal (53) liegen deutlich darüber, vor Italien (41). Griechenland führt die Liste mit mehr als 60 Ärzten pro 10.000 Einwohner an.

Frankreich liegt dagegen darunter (etwa 33 pro 10.000 Einwohner), zwischen Rumänien und Estland. Das Vereinigte Königreich ist noch weiter abgeschlagen (30 pro 10.000).

… und Pflegepersonal

Bei den Krankenschwestern und -pflegern liegt Griechenland auf dem vorletzten Platz mit einer Dichte, die nur halb so hoch ist wie der Durchschnitt von 80 Pflegefachkräften pro 10.000 Einwohner. Spanien und Italien befinden sich mit 60 pro 10.000 ebenfalls unter dem Durchschnitt. Deutlich mehr als in den meisten Länder finden sich in Frankreich mit etwa 120, gefolgt von Deutschland (140) und der Schweiz (fast 180).

Viele Ärzte stehen kurz vor der Pensionierung

Im Bericht stellt die WHO auch fest, dass die Altersstruktur im Gesundheitsbereich eine große Herausforderung für viele Länder sei. Im Durchschnitt sind in den untersuchten Ländern 30% der Ärzte 55 Jahre und älter. In 1 Drittel der Länder gehören sogar 40% der Ärzte dieser Altersgruppe an. Viele Fachkräfte werden bald in Rente gehen. Regierungen müssten so schnell wie möglich für Ersatz der in den Ruhestand gehenden Ärzte und Pflegefachkräfte sorgen, schreibt die WHO.

Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. Während das Vereinigte Königreich einen relativ niedrigen Anteil von Ärzten im Alter von mindestens 55 Jahren aufweist (ca. 14%), ebenso wie Irland und Finnland (22%), liegt Spanien über dem Durchschnitt (32%), weit übertroffen von Frankreich und Deutschland, die beide fast 45 % erreichen. Italien liegt mit 55% an der europäischen Spitze der überalterten Ärzteschaft – was Anlass zur Sorge gibt, ob das Land in den kommenden Jahren in der Lage sein wird, die Versorgung aufrechtzuerhalten.

In Frankreich liegt der Anteil der Ärzte über 50 nach jüngsten Daten der Caisse Autonome de Retraite des Médecins Français (CARMF) bei 57%. Der Anteil der über 65-Jährigen ist rapide auf 35% gestiegen; vor 20 Jahren waren es noch 9%.

In Spanien bereiten die Verrentung von Ärzten, vor allem in bestimmten Fachgebieten wie der Inneren Medizin, kombiniert mit dem fehlenden beruflichen Nachwuchs, ebenfalls große Sorgen. Angesichts der Überalterung des Berufsstandes und der zu erwartenden Pensionierungen könnte sich die Situation noch verschlimmern, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden.

Ausbildung neuer Ärzte vernachlässigt

Daten der WHO zur Ausbildung von Fachkräften im Gesundheitswesen zeigen, dass einige Länder den Mangel an Fachkräften offenbar weniger auf dem Schirm haben als andere. Dies ist in Frankreich der Fall. Mit 10 ausgebildeten Ärzten pro Jahr und pro 100.000 Einwohner im Vergleich zum europäischen Durchschnitt von 15 pro 100.000 liegt das Land am Ende der Rangliste – zwischen Usbekistan und Tadschikistan. Deutschland und das Vereinigte Königreich rangieren auch unter dem Durchschnitt (12 bzw. 13), ebenso Spanien (14). Italien (18) scheint angesichts der Überalterung der Ärzteschaft erfolgreich Maßnahmen zu ergreifen, wie auch Irland (25).

Das Netz der medizinischen Versorgung wird löchriger

In Frankreich, Spanien und in anderen europäischen Ländern nehmen die geografischen Unterschiede beim Zugang zur medizinischen Versorgung zu. Für eine wachsende Zahl von Bürgern ist es schwierig geworden, eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus in kurzer Zeit zu erreichen. „Die meisten Länder haben Schwierigkeiten, solche medizinischen Wüsten zu beseitigen“, schreibt die WHO in ihrem Report.

Laut einer Studie der Direction de la recherche, des études de l'évaluation et des statistiques (DREES) hat der Ärztemangel in Frankreich innerhalb von 3 Jahren um 50% zugenommen. Als Folge haben 6 Millionen Menschen, darunter 600.000 Patienten mit einer chronischen Erkrankung, derzeit keinen Hausarzt, also fast jeder 10. Franzose.

Mancherorts beträgt die Wartezeit auf einen Termin beim Kardiologen mehr als 1 Jahr. In der Radiologie ist die Lage noch schlimmer: Frauen erhalten aufgrund des Ärztemangels teilweise keinen Termin zur Mammographie.

Zwar gibt es auch in Deutschland Gegenden mit schlechter Versorgung. Mit der Bedarfsplanung wurde jedoch ein Instrument geschaffen, das sich zu bewähren scheint. Von einigen Ausnahmen abgesehen werden Ärzte zur Versorgung von Kassenpatienten nur in Gebieten mit niedriger Arztdichte zugelassen. Konkret ist die Niederlassung in Gebieten, in denen die Ärztedichte 10% über dem nationalen Durchschnitt liegt, nicht möglich.

Im Vereinigten Königreich, in Spanien und Italien, wo Behörden ebenfalls Vorgaben zur Niederlassung anhand der Arztdichte machen, sind Versorgungsengpässe weniger verbreitet als in Frankreich.

Der WHO zufolge reichten „finanzielle Anreize allein nicht aus“, um Ärzte zu bewegen, in unterversorgten Gebieten zu praktizieren. Es müssten insbesondere Anstrengungen unternommen werden, um den Zugang zur Weiterbildung und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen seien wichtig.

Ein Blick auf die stationäre Versorgung

Auch der Krankenhaussektor leidet stark am Personalmangel. Die Pandemie hat dazu geführt, dass Fachkräfte aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen den Sektor verlassen haben. Einige Bereiche sind besonders betroffen, etwa Notaufnahmen, Entbindungsstationen und die Psychiatrie. Mittlerweile werden viele chirurgische Eingriffe aufgeschoben, was für die Patienten zu schlechteren Prognosen führen kann.

In Italien „verlassen jeden Tag 7 Ärzte den nationalen Gesundheitsdienst“, sagte Dr. Pierino di Silverio, neu gewählter Generalsekretär der größten Gewerkschaft der öffentlichen Krankenhausärzte (ANAAO-ASSOMED) gegenüber Medscape. Vorläufigen Daten zufolge werden in den nächsten 5 Jahren etwa 40.000 Ärzte aus dem Bereich in den Ruhestand gehen oder kündigen: eine enorme Zahl, wenn man bedenkt, dass laut italienischem Gesundheitsministerium die Gesamtzahl aller im öffentlichen Dienst tätigen Ärzte 103.092 beträgt, Stand 2019.

„Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich aufgrund von Überlastung und schlechter Organisation, und das Gehalt ist zu niedrog, vor allem in Anbetracht der vielen Verpflichtungen, die Ärzten in öffentlichen Krankenhäusern auferlegt werden“, sagt Di Silverio.

In England hätten im vergangenen Jahr 25.000 Krankenschwestern, Krankenpfleger und Hebammen, die im öffentlichen Dienst tätig waren, gekündigt, während 47.000 Stellen für Pflegefachkräfte derzeit unbesetzt seien, erklärte die Gewerkschaft Royal College of Nursing (RCN). Sie spricht von „erschöpften und unterbezahlte Krankenschwestern und -pflegern“. Ein Beweis für die mangelnde Attraktivität des Berufs: Die Zahl der Krankenpflegeschüler sei rückläufig.

Die Unzufriedenheit betrifft alle Bereiche des öffentlichen Gesundheitswesens (NHS) in England. Im Jahr 2022 gab es im Gesundheitssektor mehr als 132.000 offene Stellen. Das sind 25% mehr als 2021. Bei Ärzten waren es 10.000 vakante Positionen, was einem Anstieg von 32% innerhalb eines Jahres entspricht. Wer bleibt, spürt deutlich mehr Arbeitsbelastung – und erwägt womöglich auch, zu kündigen.

Ein Ausschuss für Gesundheit und Soziales, der dem britischen Parlament angegliedert ist, spricht von der „größten Personalkrise in der Geschichte des NHS“: einer Situation, die „ein ernsthaftes Risiko für die Sicherheit von Mitarbeitern und Patienten“ darstelle.

Auch in Frankreich gibt es unter den Krankenschwestern und -pflegern zahlreiche Kündigungen und seltener Neueinstellungen, insbesondere seit COVID-19.

In Deutschland hat die Bewältigung der Pandemie ebenfalls zu mehr Kündigungen geführt. Manche Fachkräfte haben sich beruflich umorientiert. Laut einer Studie für das Wirtschaftsministerium waren im vergangenen Jahr landesweit 35.000 Stellen im Gesundheitswesen unbesetzt, was einem Anstieg von 40% innerhalb eines Jahrzehnts entspricht.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Umfrage unter deutschen Kliniken mit mehr als 50 Betten. 90% berichten von einem überdurchschnittlichen Personalmangel. Und in der Hälfte der Einrichtungen stiegen die Arbeitsausfälle im Jahr 2022 um 5 bis 20%. Einige Notaufnahmen mussten sogar schließen.

Auch in der Pädiatrie ist die Situation in Deutschland angespannt. Eine Bronchiolitis-Epidemie hat pädiatrische Intensivstationen hart getroffen. Deren Kapazitäten haben aufgrund des Personalmangels nicht ausgereicht, um den Zustrom an Patienten zu bewältigen. Viele Kinder hatten RSV-Infektionen.

Fachkräfte wandern aus

In Spanien, in Portugal, Griechenland oder in osteuropäischen Ländern führen prekäre Gehälter, schlechte Arbeitsbedingen und die fehlende Anerkennung dazu, dass immer mehr Pflegefachkräfte und Ärzte das Land verlassen. Sie ziehen vor allem in die Schweiz, nach Deutschland oder nach Frankreich, wo sie wesentlich besser bezahlte Arbeitsplätze finden. Dieses Phänomen scheint sich zu verstärken. Im Jahr 2021 wurden 4.130 Eignungsbescheinigungen – ein obligatorisches Dokument, um außerhalb Spaniens zu praktizieren – ausgestellt.

Fachkräfte, die bleiben, kritisieren fehlende wirtschaftliche und personelle Ressourcen im Gesundheitssystem. Ihre Arbeitsbelastung steigt immer weiter. Hinzu kommt, dass Bürger mehr medizinische Versorgung benötigen, etwa aufgrund der Alterung der Gesellschaft. Sie warten immer länger auf einen Termin. Auch 95% der Pflegeeinrichtungen in Spanien leiden an Personalmangel. „Das Rückgrat unseres Gesundheitssystems schwindet“, warnt ein spanischer Allgemeinmediziner in einem Editorial.

Eine Zeitbombe für viele europäische Staaten

Bleibt als Fazit: „Personalknappheit, unzureichende Rekrutierung und Bindung von Fachkräften, Abwanderung von Fachkräften, unattraktive Arbeitsbedingungen und mangelnder Zugang zu Weiterbildungsmöglichkeiten – all das plagt die Gesundheitssysteme“, sagt Dr. Hans Henri Kluge, Regionaldirektor für Europa bei der WHO.

Solche Bedrohungen seien „eine Zeitbombe“, so Kluge. Er rechnet mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, mit langen Wartezeiten, mit zahlreichen vermeidbaren Todesfällen und sogar mit dem Zusammenbruch einzelner Gesundheitssysteme.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf francais.medscape.com und wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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