Migräne-Leitlinie voll überarbeitet: Bessere Akuttherapie und bedürfnisgerechte Prophylaxe sollen Versorgung verbessern

Roland Fath

Interessenkonflikte

16. Januar 2023

Mindestens jede 7. deutsche Frau und fast jeder 15. Mann leiden unter Migräne. Die Therapie ist oft unzureichend. Helfen soll die neue, vollständig überarbeitete S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Bewertet werden alle Optionen zur Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne. Bei einer Online-Pressekonferenz wurden die wichtigsten Aspekte sowie Neuerungen erläutert [1].

„Die Versorgungsrealität von Migräne-Patienten ist trotz der medikamentösen Fortschritte suboptimal“, sagte PD Dr. Tim Jürgens, Präsident der DMGK und Neurologe am Klinikum Güstrow. Dies unterstreichen Zahlenaus dem DMGK-Kopfschmerzregister mit aktuell rund 1.350 Patienten, in der Mehrzahl mit Migräne. 

 
Die Versorgungsrealität von Migräne-Patienten ist trotz der medikamentösen Fortschritte suboptimal. PD Dr. Tim Jürgens
 

Die Befragten hatten im Schnitt an 8 Tagen monatlich schwere Kopfschmerzen und fast die Hälfte an 15 und mehr Tagen pro Monat Kopfschmerzen. Zusätzlich zum persönlichen Leidensdruck hatten die Kopfschmerzen erhebliche Einschränkungen der Alltagstauglichkeit zur Folge: Monatlich rund 3 Fehltage bei der Arbeit und 6 Tage unfähig für Hausarbeit gaben die Befragten an. Nur 45% der Registerpatienten nahmen eine Prophylaxe ein.

Die Häufigkeit der Migräne in Deutschland ist nicht eindeutig geklärt. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin variieren die Zahlen aufgrund unterschiedlicher Stichproben und Erhebungsmodi zwischen 15,6% und 23,9% bei Frauen und 4,0% und 11,1% bei Männern. In einer telefonischen Querschnittsbefragungvon rund 5.000 Erwachsenen im Zeitraum Oktober 2019 und März 2020 erfüllten 15% der Frauen und 6% der Männer die kompletten Kriterien für Migräne. 

Etwa 10% bis 20% der Betroffenen hätten hohe gesundheitliche Beeinträchtigungen und beanspruchten eine intensive medizinische Betreuung, so die Einschätzung von PD Dr. Gudrun Goßrau, Neurologin an der Kopfschmerzambulanz des Universitätsklinikums Dresden. Die Krankheitslast durch Kopfschmerzen sei insgesamt hoch in Deutschland, betonte sie. Bei Beurteilung der Erkrankungs-bedingten „disability-adjusted life years“ (DALY) in der BURDEN 2020-Studie belegten Kopfschmerzen Platz 3 bei Frauen und Platz 8 bei Männern. 

Neues in der Migräne-Leitlinie

Die neue S1-Leitlinie zur Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne soll dazu beitragen, die Versorgung der Patienten zu verbessern. Bewertet werden auf insgesamt 220 Seiten alle Therapieoptionen inklusive der neuen Substanzklassen der Gepante und Ditane. Entscheidend sei nicht die Studienlage, sondern das individuelle Ansprechen, insbesondere bei der Wahl der medikamentösen Prophylaxe, wurde betont. 

Zudem sei der richtige Umgang mit den Patienten relevant. Die wichtigste Botschaft an Migräne-Patienten in der eigenen Praxis: „Die Erkrankung ist behandelbar!“, betonte Goßrau – durch richtigen Einsatz von Analgetika, einer medikamentösen Prophylaxe nach individueller Abwägung sowie nicht-medikamentösen Maßnahmen wie Edukation, Entspannungstechniken und Ausdauersport. 

PD Dr. Stefanie Förderreuther, Neurologische Klinik, LMU München, ergänzte mit einem dringenden Appell an die niedergelassenen Kollegen: „Sagen Sie Patienten nie, sie müssen mit der Migräne leben.“ Immer wieder bekomme sie dies aber zu hören.

 
Sagen Sie Patienten nie, sie müssen mit der Migräne leben. PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

Analgetika

Die Mehrheit der Migräne-Patienten komme bei einer akuten Attacke mit Analgetika/NSAR aus, sagte PD Dr. Charly Gaul vom Kopfschmerzzentrum in Frankfurt am Main. Empfohlen werden in der neuen Leitlinie wie bisher: 

  • hochdosierte Acetylsalicylsäure (ASS: 1.000 mg oder 900 mg + 10 mg Metoclopromid), 

  • Ibuprofen (200 mg/400 mg/600 mg), 

  • Diclofenac (50 mg/100 mg), 

  • Naproxen (500 mg) oder 

  • Kombinationsanalgetika (ASS + Paracetamol + Koffein). 

Bei Kontraindikationen gegen nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) sollten Paracetamol (1.000 mg), Metamizol (1.000 mg) oder Phenazon (500 – 1.000mg) eingesetzt werden. 

Triptane

Wenn 2 bis 3 Analgetika bereits keinen ausreichenden Erfolg hatten oder (mittel-)schwere Migräneattacken vorliegen, sind Triptrane indiziert. 7 orale Substanzen sind inzwischen auf dem Markt, darunter 3 frei verkäuflich. Nasales Zolmitriptan und subkutan appliziertes Sumatriptan mit besonders schnellem Wirkeintritt (seit kurzem auch in halbierter 3 mg-Dosierung verfügbar) seien insbesondere für Patienten mit ausgeprägter Übelkeit zu empfehlen, sagte Gaul. 

Neue Substanzen

Für Patienten mit unzureichendem Ansprechen auf die bisher genannten Medikamente oder Kontraindikationen gegen Triptane sind seit kurzem 2 neue Präparate zugelassen, die voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2023 auf den Markt kommen werden:

  • Rimegepant (75 mg als Schmelztablette), 1. Vertreter der als gut verträglich geltenden Substanzklasse der Gepanten, und

  • Lasmiditan (50 mg/100 mg/ 200 mg p.o.), erster Vertreter der Ditane.

Lasmiditan sei genauso wie Triptane ein Serotonin-Rezeptor-Agonist, binde aber an einen anderen Rezeptor-Subtyp und habe daher keine vasokonstriktiven Eigenschaften, erklärte Gaul. Das Medikament könne daher auch bei Patienten mit bestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingesetzt werden, bei denen Triptane kontraindiziert seien. 

Lasmiditan kann allerdings zentrale Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel auslösen, weshalb bis 8 Stunden nach Einnahme kein Kraftfahrzeug geführt werden darf. Nach indirekten Vergleichsstudien ist das Medikament ähnlich wirksam wie Triptane: Rund jeder 3. Behandelte ist nach 2 Stunden schmerzfrei. 

Etwas geringer wirksam ist den klinischen Daten zufolge Rimegepant (20% schmerzfrei nach 2 Stunden).

Medikamentöse Migräne-Prophylaxe

Mindestens 4 Migräne-Tage pro Monat waren bisher der Schwellenwert, ab dem eine medikamentöse Migräne-Prophylaxe erwogen werden sollte. In der neuen Leitlinie sei die Attackenfrequenz nicht mehr der entscheidende Faktor für eine Prophylaxe genannt, berichtete Jürgens, vielmehr sollten weitere individuelle Faktoren berücksichtigt werden: wie Leidensdruck, Lebensqualität, schlechtes Ansprechen auf die Akuttherapie oder Risiko eines Medikamentenübergebrauchs. 

Die Prophylaxe sollte personalisiert, sehr auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten und die Wahl der Medikamente in Absprache mit den Patienten unter Berücksichtigung der Situation und Präferenzen getroffen werden. Dabei zu berücksichtigen: CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide)-Blocker sind nur für Patienten mit mindestens 4 monatlichen Migräne-Tagen (MMD) zugelassen.

Ziel der Prophylaxe ist eine Reduktion der MMD um mindestens 30% bei chronischer und 50% bei episodischer Migräne. Eine deutlich schnellere Wirkung als die oralen Standardmittel (wie Betablocker, Flunarizin, Topiramat, Amitryptilin) hätten die neuen CGRP (Rezeptor)-Antikörper, die auch gut verträglich seien, berichtete Jürgens. Das Ansprechen könne bereits nach 1- bis 2-monatiger Therapie beurteilt werden. 

Erenumab s.c. könne aufgrund der in einer Studie gezeigten Überlegenheit im Vergleich zu Topiramat jetzt bereits nach einer erfolglosen Vortherapie mit einem Standardmittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnet werden. Für eine längerfristige Therapie muss das Ansprechen nach 3 Monaten dokumentiert sein. 

Neu zugelassen zur Prophylaxe ist Rimegepant bei Erwachsenen mit episodischer Migräne und ³ 4 Attacken/Monat.

Dauer der medikamentösen Prophylaxe

Mit der bisherigen Praxis, eine medikamentöse Prophylaxe auch bei gutem Ansprechen maximal 12 Monaten fortzuführen, bricht die neue Leitlinie. Vielmehr wird eine individuelle Therapiedauer abhängig von Schwere und Dauer der Erkrankung und Begleiterkrankungen empfohlen. 

Bei Patienten mit weniger als 8 MMD, kürzerer Erkrankungsdauer und ohne relevante Komorbidität wird eine Prophylaxe über 6 bis 12 Monate empfohlen. 

Bei Patienten mit längerer Migräneanamnese, mit chronischer Migräne oder 8 oder mehr MMD oder bei gleichzeitigem Vorliegen einer Depression, Angststörung oder chronischen Schmerzerkrankung sollte die Therapiedauer mindestens 12 bis 24 Monate betragen, betonte Goßrau. 

Die neue Position geht auf ein Konsensus-Statement deutschsprachiger Fachgesellschaften Ende des letzten Jahres zurück. 

Nicht-medikamentöse Maßnahmen

Nicht unterschätzt werden sollte bei der Behandlung von Migräne-Patienten der Nutzen nicht-medikamentöser Maßnahmen. „Nicht-medikamentöse Therapien sind die unverzichtbare zweite Säule jeder Migränetherapie“, betonte Förderreuther. 

 
Nicht-medikamentöse Therapien sind die unverzichtbare zweite Säule jeder Migränetherapie. PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

Als tragende Bausteine der Prophylaxe nannte sie: 

  • Patientenedukation und Triggermanagement, 

  • Ausdauersport (3-mal pro Woche mindestens 30 Minuten), 

  • Biofeedback und Entspannungstechniken, etwa Meditation. 

Kognitive Verhaltenstherapie sei vor allem schwer betroffenen Patienten zu empfehlen. 

Als weitere Option sowohl zur Akuttherapie als auch Prophylaxe der Migräne wird die externe Stimulation des Nervus supraorbitalis mithilfe eines Devices an der Stirn genannt. Erste positive Daten liegen vor, die Kosten des Sets müssen allerdings die Patienten selbst tragen. 

Last-not-least: Internetbasierte Angebote und Smartphone-Apps, etwa zur Wissensvermittlung, Verlaufsdokumentation und Erfolgskontrolle, können die Patienten im Alltag unterstützen.

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Kommentar

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