Personalmangel, Inflation, wenig Geld: Ärzten und Pflegekräften reicht´s – auch in Nachbarländern gehen sie auf die Barrikaden

Vincent Richeux

Interessenkonflikte

11. Januar 2023

Mehr als 2 Jahre der COVID-19-Pandemie haben zu einer Rekord-Inflation geführt. Gleichzeitig ist für viele Ärzte, Pflegefachkräfte und weitere Mitarbeiter im Gesundheitssystem ist die Arbeitsbelastung unerträglich geworden. Auch die Bezahlung bleibt – trotz vollmundiger versprechen vieler Politiker während der Pandemie – unzureichend.

Doch die Probleme beschränken sich keineswegs auf Deutschland allein. Auch international stoßen die Gesundheitssysteme an ihre Grenzen und in mehreren Ländern Protestbewegungen entstanden: in Krankenhäusern, aber auch im Rettungsdienst.

Um ihre Forderungen zu verstehen, hat Medscape in diesem Artikel Informationen aus Großbritannien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien zusammengestellt. Grundlage waren die jeweiligen internationalen Ausgaben von Medscape.

Großbritannien: 100.000 Pflegefachkräfte auf der Straße

Im Vereinigten Königreich hat die Wut von Mitarbeitern im Gesundheitsbereich zu einem historischen Streik von Krankenschwestern und Krankenpfleger geführt. Zum 1. Mal seit mehr als einem Jahrhundert rief ihre Gewerkschaft, das Royal College of Nursing (RCN), im vergangenen November zu einem landesweiten Streik auf, um eine Lohnerhöhung von 5% über der Inflation zu fordern. Zum Vergleich: Die Reallöhne der Krankenschwestern und -pfleger sind nach Jahren der Sparmaßnahmen und aufgrund der Rekordinflation, die derzeit bei über 11% liegt, seit 2010 schätzungsweise um 20% gefallen.

Am 15. Dezember, dem 1. Tag des Streiks, legten fast 100.000 Krankenschwestern und Krankenpfleger im öffentlichen Dienst die Arbeit nieder. Das RCN hat zwar zugesichert, dass die Notfallversorgung aufrechterhalten wird. Dennoch drohten durch den Streik, die  Absage mehrerer tausend Behandlungstermine oder OPs.

Die konservative Regierung Großbritanniens bleibt vorerst unnachgiebig. Sie droht sogar mit einem Gesetz, um die Macht der Gewerkschaften zu beschneiden. Das Ministerium für Gesundheit und Soziales (Department of Health and Social Care, DHSC) hat erklärt, dass die Forderung des RCN nach Berücksichtigung der Inflation eine Lohnerhöhung von 17,6% bedeuten und rund 9 Milliarden Pfund (9,15 Milliarden Euro) nach sich ziehen würde.

Dies ist für die Regierung undenkbar. Politiker weisen darauf hin, dass sie Krankenschwestern und -pflegern bereits eine jährliche Lohnerhöhung von 1.400 Pfund (1.580 Euro) im Jahr 2021 gewährt haben, was einer durchschnittlichen Erhöhung von 4 bis 5% entspricht. Sollte keine Einigung erzielt werden, plant die Gewerkschaft, den Streik bis Mai 2023 zu verlängern.

Nach einer Analyse des Trades Union Congress (TUC), eines Zusammenschlusses britischer Gewerkschaften, ist das reale Jahresgehalt von Krankenschwestern und Krankenpflegern im Jahr 2022 aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten um 1.800 Pfund (900 Euro) gesunken.

Wenn die Regierung einer Lohnerhöhung von 2% zustimmt, würde der Jahresverdienst von Krankenschwestern und -pflegern immer noch um 1.500 Pfund (1.700 Euro) und von Sanitätern, die ebenfalls gestreikt haben, um 1.900 Pfund (2.150 Euro) niedriger sein als vor der Inflation.

„Eine weitere Erhöhung unterhalb der Inflationsrate wird die Arbeitsmoral des Personals zerstören, mehr Fachkräfte werden die Branche verlassen und der Mangel an Arbeitskräften wird die wesentlichen Dienste im öffentlichen Gesundheitswesen (NHS) lähmen“, so der TUC-Generalsekretär.

Prekäre Situation für britische Rettungssanitäter

Der Streik der Krankenschwestern und Krankenpfleger ist Teil einer außergewöhnlichen Reihe von Arbeitskampfmaßnahmen im öffentlichen und privaten Sektor des Vereinigten Königreichs als Reaktion auf die steigenden Lebenshaltungskosten.

Die Situation wird immer dramatischer. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage gaben fast 2 Drittel an, dass sie sich zwischen dem Kauf von Lebensmitteln und dem Sparen von Geld zur Begleichung von Energiekosten entscheiden müssten. Weitere 14% haben sogar Tafeln kontaktiert, um ihren Bedarf an Lebensmitteln zu decken. Mehr als 1 Viertel zieht es in Erwägung, die Stelle zu kündigen, um sich nach einer besser bezahlten Arbeit umzusehen.

Das Royal College of General Practitioners (RCCP) hat auch vor einer „wirklich schwierigen“ Situation für Allgemeinmediziner gewarnt, die 12 bis 13 Stunden pro Tag bis zu 50 bis 60 Patienten betreuen müssen, was auf Kosten der Qualität der Versorgung geht. Laut einer von der Gewerkschaft durchgeführten Umfrage sind 68% der Allgemeinmediziner der Ansicht, dass es immer schwieriger werde, unter optimalen Bedingungen zu praktizieren, da das Risiko von Diagnose- oder Verschreibungsfehlern zunehme.

Deshalb fordert das RCCP Maßnahmen, um mehr Ärzte einzustellen, um den Verwaltungsaufwand zu verringern und in neue Technologien zu investieren, um den Berufsstand zu entlasten und um den Zusammenbruch des NHS zu verhindern.

200.000 Demonstranten in Madrid

Auch in Spanien befindet sich das öffentliche Gesundheitssystem seit mehreren Jahren in einer schweren Krise.

Um gegen Einsparungen und gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren, haben Ende dieses Jahres die Angehörigen der Gesundheitsberufe in den verschiedenen autonomen Regionen gestreikt. Mediziner wehren sich gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens.

In der Region Madrid haben Anfang November Allgemeinmediziner und Kinderärzte die Arbeit niedergelegt. Und in der Hauptstadt versammelten sich am 13. November mindestens 200.000 Demonstranten, um das öffentliche Gesundheitssystem in der Region zu verteidigen. Die Streikenden warfen der Region Madrid vor, viel Geld für private Krankenhäuser und für die private Gesundheitsversorgung, aber nicht genug für die öffentliche Grundversorgung auszugeben.

Einige Tage später, am 21. November, protestierten 5.000 Ärzte in der Region Madrid, darunter auch Kinderärzte. Einer ihrer zentralen Kritikpunkte ist die übermäßige Arbeitsbelastung. Ärzte klagen über volle Terminkalender und über zu wenig Zeit für ihre Patienten.

Sie haben jetzt eine Vereinbarung mit der Region Madrid getroffen, die sich verpflichtet hat, 49 außerklinische Notfallzentren zu eröffnen, von denen 10 der Primärversorgung gewidmet sein werden und über einen festen Personalstamm von vier Ärzten verfügen. Obwohl Politiker planen, Ausgaben für die Primärversorgung bis 2023 um 22% zu erhöhen, verfügt die Region immer noch über das niedrigste Budget für diesen Bereich. Gewerkschaften fordern nicht nur eine bessere finanzielle Ausstattung, sondern auch eine Höchstzahl von 35 Patienten pro Tag in der allgemeinmedizinischen Sprechstunde statt 50 bis 60 wie momentan.

Die Krise im spanischen Gesundheitssystem hat dazu geführt, dass die Notaufnahmen der Krankenhäuser überlastet sind. Sie nehmen derzeit 20 bis 30% mehr Patienten auf als im Jahr 2019, was zu einer zunehmenden Erschöpfung der medizinischen Fachkräfte führt.

Auch im übrigen Spanien ist die Lage angespannt. Ärzte in Kantabrien haben in den letzten Wochen gestreikt, und Ärzte in Katalonien, Andalusien und dem Baskenland könnten sich der Bewegung bald anschließen.

Mehr und mehr Streiks in Frankreich

In Frankreich sind die Angehörigen der Gesundheitsberufe zunehmend „müde, gestresst und unzufrieden“. Dies geht aus einer aktuellen Umfrage hervor, die einmal mehr die physischen und psychischen Schwierigkeiten im Gesundheitsbereich aufzeigt. Von allen Teilnehmern, die meisten waren Krankenschwestern oder Krankenpfleger, gab 1 Viertel Beeinträchtigungen der Gesundheit an. Das sind fast doppelt so viel ist wie bei der durchschnittlichen französischen Erwerbsbevölkerung.

Kein Wunder, dass sich Streikdrohungen häufen. Im Oktober letzten Jahres hat das Pflegepersonal in der stationären Kinderheilkunde auf finanzielle und personelle Engpässe hingewiesen. Grund war eine Epidemie von Kindern mit Bronchiolitis, die gezeigt hat, dass das System am Limit ist.

Trotz der von der Regierung angekündigten Haushaltsmittel und Maßnahmen zur Unterstützung des pädiatrischen Bereichs warnten Experten erneut vor einer Verschlechterung der Versorgung. Hintergrund ist ein historischer Anstieg der Säuglingssterblichkeit in Frankreich. Sie fordern „strukturelle und dauerhafte Maßnahmen“, um insbesondere die Arbeit der Pflegekräfte in den Krankenhäusern zu sichern (Begrenzung der Patientenzahl pro Pflegekraft, Einhaltung der Ruhezeiten, usw.).

Damit nicht genug: Mitte November haben Biologen aus Verärgerung über geplante Kürzungen bei Laborleistungen um 250 Millionen Euro zu streiken begonnen. Städtische Labore blieben für mehrere Tage geschlossen.

Und Ende November demonstrierten Psychiater gegen die „Aufgabe der öffentlichen Psychiatrie“. Sie sprechen von einem „beklagenswerten Mangel an Krankenhausbetten“ und von „regelmäßige Schließungen von medizinisch-psychologischen Zentren“ aufgrund fehlender Fachkräfte. Einige Monate zuvor hatten die Gewerkschaften der Psychiater bereits vor der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Gefahr der Schließung von Stationen aufgrund des Mangels an medizinischen Fachkräften gewarnt.

Im Dezember streikten Ärzte nach dem Aufruf ihrer Gewerkschaften für 2 Tage. Zuvor waren Verhandlungen mit den Krankenkassen gescheitert. Ihre Hauptforderung ist die Erhöhung des Honorars für Konsultationen von 25 auf 50 Euro. Die Ungeduld der Ärzte ist umso größer als die aufgrund der Inflation und der Energiekrise Kosten für Praxen in die Höhe treiben.

„Die Regierung ist dabei, ein zweigeteiltes medizinisches System zu schaffen: einerseits eine kostengünstige öffentliche Medizin und andererseits Ärzte, die ihre Verträge kündigen, ins Ausland gehen oder den Beruf wechseln müssen“, kritisiert eine Sprecherin.

Der Verband der französischen Ärztegewerkschaften (CSMF), der es leid ist, die Gehaltsverhandlungen mit der Nationalen Krankenkasse (CNAM) zu verzögern, hat kürzlich zu einem Streik der freien Ärzte aufgerufen, nachdem er die Schließung von Praxen am 1. und 2. Dezember unterstützt hatte.

Deutschland: Streik im größten europäischen Krankenhaus

Auch in Deutschland ist die Lage angespannt. Aufgrund zahlreicher Kinder mit RSV-Infektionen waren pädiatrischen Intensivstationen zeitenweise stark überlastet.

Im Herbst streikten zum 1. Mal seit 15 Jahren 2.700 Ärzte an Europas größtem Universitätsklinikum, der Berliner Charité, wegen unbefriedigender Gehaltsverhandlungen.

Der Streik fiel in eine Zeit, in der die niedergelassenen Ärzte in Brandenburg gegen die von der Bundesregierung geplante Begrenzung ihrer Arbeitszeit protestierten. 

Zuletzt streikten Beschäftigte des Gesundheitswesens in Baden-Württemberg vom 28. November bis 1. Dezember, ebenfalls im Zuge von Gehaltsverhandlungen. Die Aktion fand in den Universitätskliniken Heidelberg, Tübingen, Ulm und Freiburg statt.

Nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DGK) seien zusätzliche Budgets notwendig, um den Krankenhaussektor über Wasser zu halten, um mehr Personal einzustellen, aber auch, um einen inflationsbedingten Anstieg der Energiekosten zu bewältigen, da die meisten deutschen Krankenhäuser mit Gas beheizt werden.

Italien – eine Zeitbombe

In Italien sind zwar keine Demonstrationen oder Streiks angekündigt, aber Mitarbeiter im Gesundheitswesen müssen ebenfalls Folgen des Personalmangels und der schlechten Organisation der Pflege ausbaden.

Einer kürzlich durchgeführten Umfrage zufolge leiden 65% der Ärzte unter Burnout, was viele dazu veranlasst, dem öffentlichen Dienst den Rücken zu kehren. „Jeden Tag verlassen 7 Ärzte den staatlichen Gesundheitsdienst“, sagte der Generalsekretär der größten Gewerkschaft der öffentlichen Krankenhäuser ANAAO-ASSOMED.

Experten rechnen damit, dass sich die Situation mit den bevorstehenden Pensionierungen rasch verschlechtern wird. In den nächsten 5 Jahren werden voraussichtlich 40.000 in Kliniken tätige Ärzte Italien verlassen.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf francais.medscape.com und wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert.

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